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Als Jan und der Hauptkommissar die ehemalige Pfarrei der Christophorus-Kirche erreichten, bot sich ihnen ein Bild der Verwüstung. Nur noch die verkohlten Überreste des Fachwerkhauses waren übrig geblieben. Nasser Ruß und Schaum tropften von den schwarzen Balken, die einem prähistorischen Skelett ähnelten und an denen Trümmerstücke wie vereinzelte Fleischbrocken hingen.

Es hatte lange gedauert, ehe die Feuerwehrmänner den Brand unter Kontrolle bekommen hatten, und noch länger, bis das Feuer schließlich gelöscht gewesen war. Trotz des Regens waren immer wieder Brandnester aufgeflammt, angefacht vom Wind, der unaufhörlich geweht hatte, als treibe er ein Spiel mit den Löschkräften.

Die Umgebung war weitläufig abgesperrt, und Schilder mit dem Warnhinweis

BETRETEN VERBOTEN!

ACHTUNG EINSTURZGEFAHR!

waren aufgestellt worden. Daneben hatten sich zwei Löschfahrzeuge der Brandwache postiert, vor denen sich eine Gruppe von Einsatzkräften versammelt hatte. Die Männer tranken Kaffee aus Pappbechern und unterhielten sich mit betretenen Gesichtern, wobei sie immer wieder zu der Ruine sahen.

Als Jan und Stark die Absperrung passierten, kam ihnen ein Beamter der Spurensicherung entgegen. In jeder Hand trug er ein Paar Gummistiefel, die er den beiden Männern reichte.

»Ich hoffe, sie passen einigermaßen«, sagte er. »Sind die einzigen, die wir noch übrig haben. Sie werden sie da drin brauchen. Schutzhelme bekommen Sie vom Kollegen am Eingang.«

Jans Stiefel waren mindestens zwei Nummern zu groß, was es nicht gerade einfach machte, durch die Trümmer und die nassen und von Ruß und Schaum schmierigen Steinstufen zum Keller hinabzusteigen.

Doch weit mehr machte ihm der Gestank zu schaffen, der mit jedem Schritt zunahm. Eine beißende Mischung aus Brandgeruch, chemischen Löschmitteln und Moder hatte sich hier unten angestaut und verschlug ihm beinahe den Atem. Der Strom war abgestellt worden, und im Licht der Helmlampe kam es ihm vor, als stiegen sie durch den Rachen eines verwesenden Ungeheuers in dessen Eingeweide hinunter.

»Guten Tag, die Herren, willkommen in der Unterwelt. « Ein rundlicher Mann in weißem Overall winkte ihnen vom Ende des Ganges entgegen. Mit seinem Helm erinnerte er Jan an Bob den Baumeister aus dem Kinderfernsehen. »Ist einer von Ihnen Hauptkommissar Stark?«

»Das bin ich«, gab Stark zurück. »Und das hier ist Dr. Forstner.«

»Wilke, Kriminaltechnik«, stellte sich Bob der Baumeister vor. »Kommen Sie, es ist hier drüben.«

Sie wateten auf ihn zu. Bis auf das Löschwasser, das sich etwa knöchelhoch angestaut hatte, wirkte der Keller unversehrt. Sämtliche Türen standen offen. Wahrscheinlich hatte die Feuerwehr hier unten nach weiteren Personen im Haus gesucht.

Jan sah in einen Abstellraum, der mit Möbeln und Kartons vollgepfercht war. Auf der anderen Seite befand sich ein Vorratskeller, in dem leere Flaschen und abgelöste Etiketten neben den Regalen schwammen.

»Wie Sie sehen, konnte das Feuer dem Keller nichts anhaben«, bemerkte Wilke, als sie bei ihm angekommen waren. Er patschte mit einer behandschuhten Hand auf die Wand. »Ist alles aus solidem Fahlenberger Granit gemauert. Gut für uns. Sie werden nicht glauben, was wir hier unten entdeckt haben. Meinen Kollegen ist jedenfalls die Sprache weggeblieben, und das will was heißen.«

Sie waren vor einer Holztür angelangt, die von der Feuerwehr aufgebrochen worden war. Nutzlos hing ein neuwertiges Vorhängeschloss am Riegel.

»Kommen Sie, Doktor«, sagte Stark mit leiser Stimme. »Sehen wir es uns an.«

Sie wateten in einen quadratischen Raum, der etwa vier mal vier Meter maß. Es roch nach dem nassen Sandboden, nach Farbe und Petroleum, und da war noch etwas, das Jan nicht einordnen konnte – etwas Süßliches, wie ein blumiges Raumspray oder Parfüm.

Die Mitte des Raumes nahm eine lebensgroße Marienstatue ohne Kopf ein, die aus dem Bestand der Kirche stammen musste. Von dem wurmstichigen Holzkörper blätterte Lackfarbe ab. Darüber hingen eine rote Bluse und ein grauer Damenregenmantel. An zwei Wänden standen angerostete Metallregale, die vor etlichen Jahren ein Sonderangebot in einem Baumarkt gewesen sein mussten, während die Länge der dritten Wand von einer Holzwerkbank eingenommen wurde.

Es war eine Werkstatt und doch auch wieder nicht. Nur noch die Löcher der Haken und die hellen Umrisse auf dem vergilbten Putz erinnerten an das Werkzeug, das dort lange Zeit gehangen haben musste. Viel war davon jedoch nicht mehr zu sehen, denn nun war die Wand über der Werkbank mit Zeitungsausschnitten übersät.

Jan ging darauf zu, ließ den Lichtkegel seiner Helmlampe darübergleiten und erschrak, als er die Artikel erkannte. Bei den älteren handelte es sich um Fotokopien und Ausdrucke aus dem Internetarchiv diverser Tageszeitungen. Auf mehreren davon war Jans Foto zu sehen.

Er las vertraute Überschriften, die ihm wie die sensationsheischende Kurzversion seiner schlimmsten Jugendjahre vorkamen:

 

FAMILIENTRAGÖDIE IN FAHLENBERG

 

SVEN NOCH IMMER VERSCHWUNDEN

 

WAS WURDE AUS DEM SECHSJÄHRIGEN SVEN?

 

Und dann folgten die Artikel, die vor fast einem Jahr Jans Leben dominiert hatten:

 

RÄTSEL UM VERMISSTEN JUNGEN NACH 23 JAHREN GELÖST

 

BRUDER ERKLÄRT: ICH HABE DIE SUCHE NIE AUFGEGEBEN

 

Den krönenden Abschluss bildete der große Aufmacher, der dem Fahlenberger Boten eine Rekordauflage beschert hatte:

 

HELDENHAFTER PSYCHIATER DECKT SKANDAL AUF!

 

Weitere Ausschnitte stammten aus den letzten Monaten. Sie berichteten über die Fortschritte der neuen Kinder-und Jugendpsychiatriestation an der Waldklinik, und wo immer Jans Name erwähnt wurde, war er mit Rotstift umkreist.

In einer Ecke darunter drängten sich Artikel über Carla. Sie zeigten sie bei der Präsentation ihres Buches und bei Interviews. Es folgten mehrere Rezensionen zu Kalte Stille und ein Foto, auf dem Carla bei einer Lesung zu sehen war.

Beim Anblick des Fotos hatte Jan das Gefühl, als presste ihm jemand einen Eisbeutel in den Nacken. Carlas Gesicht war mit schwarzem Filzstift unkenntlich gemacht worden. Darunter stand das Wort Nutte in krakeligen Buchstaben geschrieben.

»Sehen Sie sich das an«, sagte Stark hinter ihm.

Jan wandte sich zu ihm um und sah eine Sammlung von Zeichnungen, mit denen die Innenseite der geborstenen Tür und die komplette Wand gepflastert waren. Sie waren im selben kindlichen Stil gemalt wie die Zeichnungen, die Jan erhalten hatte. Er erkannte das Motiv mit den weidenden Kühen, deren abgetrennte Köpfe auf einem Stapel lagen, sowie eine Darstellung des Schlachthauses, über die in großen roten Lettern das Wort HÖLLE geschrieben war, und eine Skizze des Harderhofes, der in Flammen stand.

Außerdem gab es mehrere Bilder, auf denen ein lächelnder Mann zu sehen war. Sein Kopf war wie der eines Messias von einem Glorienschein aus gelben Wachsmalstrichen umgeben. Über jedem der Porträts stand Jans Name, und unter dem größten fand sich die Zeile: Mein geliebter Retter.

Am schockierendsten jedoch fand Jan die Zeichnung eines blonden Mädchens, das über einem enthaupteten Jungen stand, der wohl Felix darstellen sollte. Sie hielt den Kopf des Jungen empor wie Bertran de Born in Dorés Illustration zu Dantes Inferno.

»Das Beste finden Sie hier«, sagte Wilke. Er zeigte auf die Regale. »Wie krank muss man sein, um so etwas zu sammeln?«

Jan und Stark gingen auf das Regal zu.

»O Gott!«, stieß Stark erschrocken aus, und auch Jan zuckte schockiert zurück.

Im mittleren Fach lagen drei Paar weibliche Brüste säuberlich aufgereiht nebeneinander.

»Keine Sorge, die sind nicht echt«, erklärte Wilke. »Aber sie sehen verdammt echt aus, nicht wahr? Bekommen Sie online in allen Größen. Und das hier auch.«

Er hob mit beiden Händen eine Verpackung hoch, auf der das Wort FemSkin aufgedruckt war. Als er den fragenden Blick der beiden sah, fügte er hinzu: »Ist ein Silikonanzug mit Maske, Brüsten und Vagina. Parfüm und das passende Schminkzeug dazu finden Sie im obersten Fach. In dem Aufzug hätte ihn nicht einmal seine eigene Mutter wiedererkannt.«

Mit pochendem Herzen leuchtete Jan in den oberen Teil des Regals, in dem sich Kosmetikartikel und Frauenkleider stapelten, Röcke und Blusen, wie man sie in Altkleidersammlungen finden konnte. Daneben sahen ihm zwei Styroporköpfe entgegen. Auf beide waren Perücken aufgezogen, die ebenso täuschend echt wie die Brüste wirkten.

»Die Kollegen hatten ja schon befürchtet, dieser Brustfetischist skalpiert Blondinen«, sagte Wilke. »Aber es sind wirklich nur Perücken. Ach ja, und wir haben hier noch einen Laptop gefunden, der mit einem Hammer bearbeitet wurde. Wahrscheinlich gehörte er Nowak. Das würde erklären, weshalb er sich nicht getraut hat, ihn irgendwo zu entsorgen. Er lag im untersten Fach und ist vom Löschwasser nass geworden. Wir überprüfen jetzt, ob wir noch an Daten auf der Festplatte herankommen.«

Stark bückte sich und zog einen dicken Ordner aus dem Regalfach, auf das Wilke gezeigt hatte. Der Ordner stand zum Teil im Wasser, so dass seine untere Hälfte aufgequollen war und triefte.

»Was ist das?«, fragte Jan.

»Eine weitere Artikelsammlung«, murmelte Stark, während er vorsichtig die nassen Seiten voneinander löste. Dann seufzte er. »Es ist, wie wir schon befürchtet haben. Die Harders und Volker Nowak waren nicht die einzigen Opfer.«

Stark reichte Jan den Ordner. Er enthielt etliche Berichte über den Mord an einem Ulmer Unternehmer namens Matthias Lassek. Gefahndet wurde nach einer mysteriösen Frau, und aus den letzten, knappen Meldungen ging hervor, dass man sie bislang nicht gefunden hatte.

Auch über Matthias Lasseks Vorleben gab es zahlreiche Artikel. Er hatte sich für Jugendprojekte eingesetzt und Kinderheime finanziell unterstützt.

Jan überlegte, ob es in den anderen Ordnern, die sich im zweiten Regal reihten, noch irgendwo kindliche Zeichnungen gab, die Lassek darstellen sollten. Falls ja, fragte er sich, ob eine davon ebenfalls mit Mein geliebter Retter betitelt war.

Aber wahrscheinlich hast du das Bild dann längst vernichtet , dachte er. Immerhin gibt es ja nur einen Erlöser, nicht wahr?

»Sagen Sie …«, begann Stark, dann rieb er sich am Kinn, als wüsste er nicht, wie er es ausdrücken sollte. Ihm war anzusehen, wie er all diese Dinge in einen Kontext bringen wollte und wie schwer er sich dabei tat. »Ich habe diesen Pfarrer ja nicht gekannt und ihn nur auf Heinz Krögers Beerdigung reden gehört, aber … Sie sagten doch, Sie hätten mit einer Frau telefoniert, oder?«

»Sie meinen die Stimme?«

Stark nickte. »Kann ein Mann seine Stimme derart verstellen? «

Jan dachte an Janas Stimme. Sie hatte sich rauchig und doch irgendwie kleinmädchenhaft angehört. Und er erinnerte sich, dass sie ihm jedes Mal verstellt vorgekommen war. Felix Thanner hatte eine jungenhafte Stimme gehabt, die zu seiner schmächtigen Gestalt gepasst hatte. Mit ein wenig Übung – und die würde er im Lauf der Jahre gehabt haben – hätte er seine Tonlage sicherlich verstellen können, dass sie sich wie die rauchige Stimme einer jungen Frau anhörte. Immerhin taten das auch viele Travestiekünstler und klangen dabei sehr überzeugend. Aber die Frage der Stimmimitation schien Jan noch das kleinste Problem zu sein in dieser verwirrenden Angelegenheit.

Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Wie es aussieht, hat er uns alle getäuscht.«

»Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht …«, Stark zog seine Zigaretten aus der Jacke. »Ich muss jetzt auf jeden Fall sofort raus hier.«

Ohne Jans Antwort abzuwarten, verließ er den Raum, und Jan konnte auf dem Gang das reibende Geräusch eines Feuerzeugs hören.

Dunkler Wahn
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