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Als Jan den Parkplatz vor dem Personalwohnheim der Waldklinik erreichte, war der Streifenwagen bereits da.
Vorhin, als der erste Schreck so weit nachgelassen hatte, dass er wieder zu einem klaren Gedanken fähig gewesen war, hatte Jan zuerst daran gedacht, Stark anzurufen. Doch er hatte diesen Einfall gleich wieder verworfen. Er hätte dem Hauptkommissar viel zu viel erklären müssen, und dafür fehlte jetzt die Zeit. Zudem hatte er außer einem vagen Verdacht – der ausschließlich auf der Interpretation zweier abstruser symbollastiger Pseudo-Kinderzeichnungen beruhte – keinerlei Beweise, dass die Unbekannte auch die gesuchte Mörderin war. Immerhin war er nun schon zweimal mit seinen Verdächtigungen ins Fettnäpfchen getreten.
Also hatte er sich für einen knappen Anruf bei der Fahlenberger Polizeistation entschieden.
Eine Frau bedroht meine Kollegin. Dazu sein Name und seine Adresse. Das hatte genügt, um eine Streife loszuschicken.
Er sprang aus dem Wagen, lief zur Eingangstür und läutete an sämtlichen Türklingeln Sturm, bis endlich der Türöffner summte, dann hastete er die Treppen hoch.
Im dritten Stock traf er auf zwei Streifenbeamte und auf Julia, die in der offenen Tür ihres Apartments stand.
»Da ist er ja«, sagte sie und sah Jan verwundert entgegen. Sie trug ihr Haar jetzt offen und schien damit ihre geröteten Augen und die verwischte Wimperntusche verbergen zu wollen.
Völlig außer Atem sah Jan sich um. »Ist alles in Ordnung bei dir?«
Sie nickte verständnislos. »Jan, was soll das? Was hat das zu bedeuten?«
»Haben Sie uns angerufen?«, fragte einer der beiden Polizisten, ein kantiger Mann, dessen Namensschild ihn als R. Wegert auswies. Er musterte Jan, als habe ihm dieser einen üblen Streich gespielt.
Noch immer um Atem ringend, erklärte ihm Jan, was geschehen war.
»Eine Stalkerin also«, sagte Wegert und sah Julia an. »Und sie hat Sie bedroht?«
»Niemand hat mich bedroht«, erwiderte Julia und wandte sich wieder an Jan. »Hat sie das wirklich gesagt?«
»Nicht direkt«, schnaufte Jan, »aber sie hat gesagt, sie will verhindern, dass du dich nochmal an mich heranmachst. Das läuft wohl auf dasselbe hinaus.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer diese Anruferin gewesen sein könnte?«, fragte Wegert. »Irgendeine eifersüchtige Exfreundin vielleicht?«
»Nein«, stöhnte Jan entnervt, »ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich die Frau nicht kenne. Sie stellt mir seit einigen Tagen nach, aber sie hat sich mir noch nicht gezeigt.«
Die Tür des Nachbarapartments ging auf, und Lutz Bissinger kam heraus. Der Pfleger trug nur Shorts und ein T-Shirt des AC Mailand und machte einen verschlafenen Eindruck.
»Ist was passiert?«, fragte er, dann sah er Jan. »Oh, hallo, Dr. Forstner. Haben Sie bei mir geklingelt?«
Hinter ihm erschien eine weitere Gestalt in der Tür, die ebenfalls nur ein T-Shirt trug.
»Was ist denn los, Schatz?«, murmelte sie und legte einen Arm um Lutz. Es war Bettina. Als sie Jan sah, verzog sie das Gesicht.
»Gehen Sie wieder zurück in Ihre Wohnung«, sagte Wegert zu den beiden, dann wandte er sich wieder Jan zu. »Ihre Besorgnis um Frau Dr. Neitingers Wohlergehen in allen Ehren, Dr. Forstner, aber für mich sieht das eher nach einem Falschalarm aus. Zumindest kann ich keine akute Gefahrensituation erkennen. Oder sehen Sie das anders, Frau Neitinger?«
Julia schüttelte den Kopf. »Nein, da war nichts. Ich werde von niemandem bedroht.«
»Und sollte Ihnen doch noch etwas Verdächtiges auffallen«, fügte der Polizist hinzu, »dann melden Sie sich umgehend bei uns.«
»Aber diese Frau …«, begann Jan, doch Wegert schnitt ihm das Wort ab.
»Um die werden wir uns kümmern, sobald Sie uns sagen können, wer sie ist. Vorher können Sie selbstverständlich eine Anzeige gegen Unbekannt erstatten.« Er nickte seinem Kollegen zu, und die beiden gingen zur Treppe zurück.
»Mehr wollen Sie nicht unternehmen?«, fuhr Jan die beiden an.
»Tut mir leid«, entgegnete Wegert, »aber solange kein Hinweis auf eine akute Gefahrenlage besteht, können wir nichts unternehmen.«
Damit ließen ihn die beiden Polizisten stehen. Während ihre Schritte im Treppenhaus verklangen, sah sich Jan zu Julia um.
»Du hast mich für diese Stalkerin gehalten, stimmt’s?«, sagte sie leise. »Na ja, egal. Trotzdem danke.«
Noch bevor Jan etwas erwidern konnte, schloss sie die Tür. Auch Lutz und Bettina waren zurück in die Wohnung gegangen.
Jan blieb allein auf dem Flur zurück.