47. KAPITEL

Bethanne Hamlin

“Mom, Telefon!“, rief Annie von oben an der Treppe.

„Welcher Anschluss?“, schrie Bethanne zurück, die gerade in der Küche mit beiden Händen Rinderhackfleisch in einer Schüssel knetete.

„Geschäftsleitung. Soll ich abnehmen?“

„Ich gehe schon!“ Bethanne konnte sich gerade eben ein Stöhnen verkneifen. Das Party-Geschäft ging so gut, dass sie schon Monate im Voraus ausgebucht war. Sie wusch sich die Hände und ging in das Zimmer, das vorher Grants Arbeitszimmer gewesen war – und das jetzt als ihr Büro fungierte –, wo sie ihren Plan mit den Party-Daten aufbewahrte.

Sie nahm ab, verabredete ein Treffen für die Vorbesprechung und ging in die Küche zurück. Sie formte kleine Fleischbällchen mit grünen Oliven in der Mitte, die für eine Halloween-Party zum Geburtstag eines Sechsjährigen bestimmt waren. Kurz darauf kam Annie die Treppe heruntergelaufen.

„Brauchst du Hilfe?“, erkundigte sie sich.

„Nein, jetzt nicht, aber später.“ Im vergangenen Sommer war Annie eine wertvolle Kraft für sie gewesen und war es noch immer, obwohl sie jetzt ihren Abschluss machte. Bethanne hatte sie als Teilzeitassistentin engagiert, was für sie beide von Vorteil war. Sie hatte mehrere andere Assistenten, doch mit Annie zusammenzuarbeiten wirkte sich gut auf ihre Beziehung aus. „Deshalb zahle ich ja auch die großen Scheine an dich, nicht?“

„Sehr witzig.“

Wieder klingelte das Telefon, und Bethanne blickte erst auf ihre Hände und dann zu ihrer Tochter. „Kümmerst du dich mal darum?“

„Immerhin muss ich mir ja dieses großzügige Honorar verdienen, das du mir offensichtlich zukommen lässt“, scherzte Annie. Sie griff nach dem Hörer und sagte in einem seriösem Ton: „Party-Service von Bethanne.“

Ihre Tochter war fast erwachsen; diese Erkenntnis kam Bethanne ab und zu ganz plötzlich – und machte sie stolz. Noch ein Jahr. Wenn beide Kinder studierten, dann wäre sie allein. Der Gedanke entsetzte sie inzwischen nicht mehr. Wenn die Zeit kam, würde sie damit klarkommen. Und sie würde sich auch ganz sicher nicht langweilen … Eigentlich hatte sie überlegt, das Angebot ihres Geschäfts mit etwas Außergewöhnlichem zu erweitern. Dieser Plan bezog Lydia mit ein – eine Strickparty, bei der Bethanne Essen und Getränke servieren würde und Lydia den Teilnehmern das Stricken beibrachte. Die Idee war noch nicht ausgereift, ebenso wie ein anderer Einfall zu einer Geschichtenerzähl-Party, bei der Elise ihr helfen würde.

„Es ist Paul“, sagte Annie. „Willst du ihn später zurückrufen?“

Bethanne sah Paul immer noch gelegentlich, aber es war jetzt Monate her, seit sie miteinander gesprochen hatten. „Sag ihm, ich rufe ihn später an. Ich muss etwas besorgen und werde nach sechs wieder hier sein.“

„Wo gehst du hin?“

„Zu Lydia.“ Sie machte die Fleischbällchen fertig und legte sie auf ein Backblech.

„Hier.“ Annie hielt Bethanne den Hörer ans Ohr. „Das kannst du ihm ja alles selber sagen.“

Bethanne verabredete sich schnell mit Paul zum Kaffee im French Café gegenüber von „A Good Yarn“. „Dann bis sechs!“, sagte sie.

„Worum geht es?“, erkundigte sich Annie.

„Ich glaube, Paul will mir erzählen, dass es mit ihm und Angela ernst wird“, erwiderte sie, und diese Aussicht freute sie. Die Beziehung zu dieser neuen Frau in seinem Leben hörte sich sehr vielversprechend an.

„Warum gehst du zu Lydia?“

„Du bist aber wirklich neugierig“, scherzte sie.

„Forscherseelen müssen fragen.“

Bethanne lachte und schüttelte den Kopf. Sie hätte wissen müssen, dass es unmöglich war, etwas vor Annie geheim zu halten. „Wenn du es unbedingt wissen willst, ich brauche ein Knäuel Wolle für mein neuestes Projekt.“

„Und das ist?“

Bethanne seufzte resigniert. „Ein Pullover für meine Tochter.“

„Dieser pinkfarbene Kaschmirpullover ist für mich?“, rief Annie erfreut und strahlte über das ganze Gesicht.

„Ja, für dich, aber inzwischen leider keine Überraschung mehr.“

„Mom, dieser Pullover ist einfach cool, und ich freue mich so, dass du den für mich strickst!“

Bethanne strickte fast jeden Abend; es war für sie die beste Art, sich zu entspannen. Gleichzeitig war sie praktisch genug veranlagt, um die Tatsache zu schätzen, dass dabei noch etwas Schönes und Brauchbares herauskam. Es kam ihr so vor, als wäre es schon hundert Jahre her, seit ihre Tochter die Initiative ergriffen und sie zu diesem Strickkurs angemeldet hatte. Sie hatte sich von Socken zu Pullovern vorgearbeitet und plante, demnächst einen Schal für Andrew zu Weihnachten zu stricken.

Bethanne schob die Fleischbällchen in den Ofen und bat Annie, sie in einer halben Stunde herauszunehmen. Sie fuhr zum Wollgeschäft und dachte dabei an den Tag, als Grant ausgezogen war. Das war das schlimmste Erlebnis in ihrem Leben gewesen, doch seitdem wurde es jeden Tag immer besser. Sie war unabhängig und glücklich. Ihren Kindern ging es gut.

Sowohl Andrew als auch Annie hatten sich bemüht, die Beziehung zu ihrem Vater zu verbessern, und es war ihnen gelungen. Sie wusste, dass Grant nicht glücklich war, und in vieler Hinsicht tat er ihr leid. Wie auch immer, er hatte seine Wahl getroffen, und sie würde sich um ihn keine Gedanken mehr machen. Sie führte nun ihr eigenes Leben.

Glücklicherweise fand sie einen freien Platz direkt vor „A Good Yarn““, parkte ein, stieg aus und warf die entsprechenden Münzen in die Parkuhr. Es blieben ihr nur noch wenige Minuten, bevor Lydia den Laden schloss.

„Ich hatte schon befürchtet, es nicht mehr zu schaffen“, sagte sie, als sie hereinkam.

„Bethanne!“, rief Lydia erfreut. Sie kam um den Ladentisch herum und umarmte sie, dann holte sie das Knäuel mit der pinkfarbenen Kaschmirwolle, das sie beiseitegelegt hatte. „Genau die gleiche Farbe wie die anderen“, versicherte sie ihr und ging zur Kasse zurück. „Es ist so schön, dich zu sehen.“

„Ich freue mich auch“, entgegnete Bethanne. „Nächste Woche habe ich einen freien Freitagnachmittag, deshalb komme ich zum Wohltätigkeitsstricken vorbei. Wie geht es den anderen?“ Sie war zwei Wochen nicht dort gewesen und vermisste die Gesellschaft der anderen Frauen, die ihr sehr ans Herz gewachsen waren.

„Es geht ihnen gut. Jacqueline ist immer noch im siebten Himmel mit ihrer neuen Enkelin. Sie hat Fotos mitgebracht.“

„Noch mehr?“, sagte Bethanne lachend. Sie bezahlte die Wolle und blickte sich im Laden um. Es war nicht zu übersehen, dass dieses kleine Geschäft in der Blossom Street gedieh. Sie liebte diese neue Designerwolle und die verbesserte Ausstattung des Ladens. Lydia war wirklich erfolgreich, und Bethanne hoffte, dass ihr eigenes neues Geschäft genauso blühte.

„Kann ich also allen sagen, dass du nächste Woche hier bist?“, fragte Lydia und reichte ihr die Wolle.

„Mit Vergnügen“, stimmte sie zu und packte die Tüte mit dem Logo von „A Good Yarn“ in ihre große Tasche.

Lydia lächelte. „Du siehst wirklich gut aus.“

„Danke.“ Bethanne errötete leicht bei dem Kompliment. In letzter Zeit hatte sie viele nette Bemerkungen über ihr Aussehen gehört und konnte sich nicht genau erklären, warum. Es ging ihr bestens, und sie nahm an, dass man es ihr ansah. Das Leben fühlte sich gut an. Ihre Welt war völlig aus den Fugen geraten, und es hatte lange genug gedauert, bis alles wieder in Ordnung gekommen war.

Nachdem sie das Strickgeschäft verlassen hatte, sah sie, dass Paul schon im Café an einem Tisch saß. Er stand auf, als sie hereinkam, und winkte ihr zu. Lächelnd begrüßte sie ihre Freundin Alix am Verkaufstresen, bevor sie zu Paul ging.

„Angela wird auch gleich kommen“, sagte er und deutete auf die dritte Kaffeetasse.

„Wie geht es ihr?“, erkundigte sich Bethanne und setzte sich.

„Sie ist verlobt.“

„Angela ist verlobt“, wiederholte sie entsetzt – dann verstand sie, wie er das meinte. „Mit dir!“

Paul lachte. „Das will ich doch hoffen.“

„Gratuliere.“ Bethanne stand auf, um Paul zu umarmen. „Das ist ja fantastisch!“ Sie hatte doch das richtige Gefühl gehabt, diese Neuigkeit bestätigte es ihr jetzt. Eine Liebesbeziehung mit Paul einzugehen wäre sicher bequem gewesen, doch das hätte bedeutet, im sicheren Hafen zu bleiben, statt sich auf das Abenteuer der hohen See einzulassen. Es war ihr nicht leichtgefallen, ihre Entscheidung zu treffen. Paul hatte sich anfangs schwer damit getan, vom potenziellen Liebhaber zum guten Freund zu werden. Zeit und Abstand voneinander hatten bei diesem Prozess schließlich geholfen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich mich noch einmal so verlieben könnte“, gestand er. „Eigentlich ist es jetzt sogar noch besser als das erste Mal.“

„Ach, Paul …“

„Nun bist du dran“, sagte er.

„Vielleicht, aber ich habe es nicht eilig.“ Und das stimmte auch.

Die Tür wurde geöffnet, und eine hochgewachsene, gut aussehende Brünette betrat das Café. Sie blickte sich suchend um, und als sie Paul entdeckte, strahlte sie über das ganze Gesicht.

Paul stand auf und streckte die Arme nach ihr aus, Bethanne beobachtete, wie Angela zärtlich lächelnd auf ihn zuging. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, und sie setzte sich zu ihnen an den Tisch. Bethanne hatte Angela vor ein paar Monaten kurz getroffen, und ihr war sofort klar gewesen, dass diese Frau etwas Besonderes für Paul bedeutete.

„Wie ich gehört habe, darf man gratulieren.“

Angela nickte. „Wir haben beschlossen, uns einen Termin im Winter auszusuchen, und es würde uns sehr freuen, wenn Sie unsere Hochzeitsfeier arrangieren würden.“

Bethanne lächelte. Bisher hatte sie erst eine einzige Hochzeitsparty organisiert – Elises und Mavericks –, und wenn diese hier nur halb so gut gelänge … Nichts würde sie lieber tun, als sich um die Hochzeit ihres lieben Freundes zu kümmern.

„Das mache ich sehr gern“, versprach sie den beiden.

„Und wie gesagt“, kam Paul noch einmal darauf zurück, während er Angela den Arm um die Schultern legte, „du bist die Nächste.“

Bethanne lächelte nur. Die Scheidung hatte ihr nicht den Glauben an die Liebe und die Ehe geraubt. Im Gegenteil, die Trennung hatte ihr nur noch einmal mehr gezeigt, wie wichtig Familie und Verantwortungsgefühl waren. Noch einmal zu heiraten stand nicht als Erstes auf ihrer Liste, aber sie konnte es sich vorstellen – irgendwann später jedenfalls.

Vorerst hatte sie ihre Kinder, ihre Freunde und die Arbeit. Sie hatte ihre Persönlichkeit neu entdeckt, war die Frau geworden, die sie sein wollte, und erfreute sich an den Dingen, die sie gern tat – zum Beispiel die Gartenarbeit, das Lesen und vor allem das Stricken.

Das war vorerst mehr als genug.