9. KAPITEL
Courtney Pulanski
“Courtney!“
Sie hörte, dass jemand von unten ihren Namen rief. Aber Courtney war immer noch total verschlafen, und es war so gemütlich im Bett … Sie beschloss, das Rufen zu ignorieren und liegen zu bleiben.
„Courtney!“ Unnachgiebig meldete sich die aufdringliche Stimme wieder. „Du wolltest, dass ich dich aus dem Bett hole, schon vergessen?“
Sie stöhnte, rollte sich herum und blinzelte vorsichtig mit einem Auge zu dem alten Wecker auf ihrem Nachttisch. Ihre Großmutter hatte nicht eine einzige Digitaluhr im Haus. Der große Zeiger stand auf der Sechs und der kleine zwischen der Fünf und der Sechs. Es war halb sechs!
„Courtney!“, rief ihre Großmutter erneut. „Es ist ziemlich mühsam für mich, die Treppen rauf- und runterzugehen, aber wenn es sein muss, komme ich hoch. Jetzt steh auf!“
Courtney warf die Decke zur Seite, krabbelte aus dem Bett und wankte zum Treppenabsatz. „Ich bin schon auf!“ Sie wusste nur nicht, warum.
„Dem Himmel sei Dank!“ Vera Pulanski blieb auf der dritten Stufe stehen und sah äußerst erleichtert aus, weil ihr der Rest des anstrengenden Aufstiegs erspart blieb. „Ich bin in zehn Minuten fertig zum Gehen.“
Courtney starrte verständnislos vor sich hin. Dann dämmerte ihr, dass Vera beabsichtigte, sie mitzunehmen, welches Ziel sie auch immer haben mochte. „Es ist erst halb sechs.“
Ihre Großmutter sah zu ihr hoch. „Ich weiß, wie spät es ist. Schließlich will ich um sechs im Schwimmbad sein, wenn es öffnet.“
„Oh.“ Das war schrecklich. Sicher, sie hatten übers Schwimmen gesprochen. Aber Courtney war nicht klar gewesen, dass sie dafür zu einer so unchristlichen Stunde aufstehen musste. Im Grunde hatte sie dieses ganze unangenehme Gespräch mehr oder weniger verdrängt. Ihre Großmutter war der Meinung, Courtney sollte anfangen, sich sportlich zu betätigen, wenn sie abnehmen wollte. Ganz vage erinnerte sie sich, gesagt zu haben, dass sie es ja mal versuchen könnte, hauptsächlich, um ihrer Großmutter einen Gefallen zu tun.
Plötzlich in Eile, zerrte Courtney ihren Badeanzug aus der untersten Schublade und hoffte, dass er noch passte. Eine Menge ihrer Klamotten taten es nicht mehr, und sie musste sich immer mächtig verrenken, um den Reißverschluss ihrer Jeans hochzuziehen. Die meisten Blusen konnte sie nicht mehr richtig zuknöpfen, weil sie so spannten, deshalb trug sie sie offen über einem Top. Aber bei einer Jeans war es nicht so einfach zu verbergen, dass sie stark zugenommen hatte. Die Nähte drohten schon aufzureißen.
„Ich habe ein Handtuch für dich“, kam die Stimme ihrer Großmutter wieder von unten. „Nimm bitte keins aus dem Badezimmer. Die gehören nämlich zu einem Set.“
„In Ordnung!“, rief Courtney zurück. Sie stieg aus ihrem Pyjama und zog sich den Einteiler an. Er passte, wenn auch nur knapp. Der Stolz gebot ihr, nicht in den Spiegel zu sehen. Ein Trost war, dass sie so früh am Morgen im Schwimmbad sicher niemandem in ihrem Alter begegnen würde. Sie warf sich ein T-Shirt und Jogginghosen über, schlüpfte in ein Paar Flip-Flops und trottete die Stufen hinunter.
Ihre Großmutter wartete an der Tür und reichte ihr ein Handtuch, eine rosa Badekappe und eine Schwimmbrille.
„Die ist alt“, sagte sie mit Blick auf die Schwimmbrille, „aber es wird schon gehen, bis wir eine neue für dich gekauft haben.“
„Du bist wirklich gut vorbereitet, was?“ Tatsächlich war Courtney beeindruckt. Sie hatte nicht gewusst, dass Leute, die so alt waren wie ihre Großmutter, auch schwimmen gingen.
Noch mehr Überraschungen erwarteten sie. Das Schwimmbecken mit seinen olympischen Ausmaßen befand sich in der Highschool. Die Badezeit für Erwachsene war jeden Morgen von sechs bis halb acht. In der Eingangshalle hatte sich eine Gruppe älterer Menschen versammelt, die sich alle zu kennen schienen.
Courtney ging mit ihrer Großmutter hinein, und sie wurden von allen herzlich begrüßt. Vera stellte ihre Enkelin ausnahmslos allen Schwimmkameraden vor. Dutzende von Namen wurden ihr so schnell entgegengeschleudert, dass sie kaum hoffen konnte, jeden zu behalten. Aber sie gab sich alle Mühe. Soweit es ihr gelang, versuchte sie sich so unsichtbar wie möglich zu machen. Die Sonne war jetzt vielleicht schon wach, aber doch kein vernünftiger Mensch, wie Courtney fand.
„Und wie gefällt dir denn das Leben in Seattle?“, erkundigte sich eine von Veras Freundinnen.
Courtney glaubte, sich zu erinnern, dass sie Leta hieß. „Ach, sehr gut“, erwiderte sie so begeistert, wie sie konnte. Na ja, es könnte tatsächlich auch so sein, wenn sie jemandem begegnete, der jünger als achtzig war. Dieses ganze Strickding hatte sich als eine absolute Enttäuschung entpuppt. Erst Mal war sie überrascht gewesen, dass der Kurs aus drei Leuten bestand und nur noch zwei andere Frauen teilnahmen, die beide so viel älter waren als sie. Eine schien ungefähr so alt zu sein wie ihre Großmutter und war eine echte Schreckschraube. Sie sah aus, als hätte sie den größten Teil ihres Lebens damit verbracht, in Zitronen zu beißen. Die andere Frau war wahrscheinlich etwa im gleichen Alter wie ihre Mutter – wenn ihre Mutter noch gelebt hätte.
Plötzlich zog sich ihr bei dem Gedanken an ihre Mutter der Magen zusammen. Es sollte inzwischen nicht mehr so wehtun, aber das tat es noch immer. Courtneys Geschwister schienen mit dem Verlust so viel besser klarzukommen als sie selbst. Niemand wollte mehr über Mom reden, und Courtney kam es so vor, als sollte sie vergessen, jemals eine Mutter gehabt zu haben. Das konnte und wollte sie aber nicht.
Julianna, ihre Schwester, hatte auch keine fünfzehn Kilo zugenommen, so wie Courtney. Im Gegenteil, Julianna war dünner geworden. Jason fand, dass das Gewicht gar kein Thema wäre. Das eine und einzige Mal, als Courtney mit ihm über ihr Problem gesprochen hatte, zuckte er nur lässig mit der Schulter. Sein Rat lautete, die Kilos loszuwerden, wenn sie einen störten. Als könnte man das so einfach. Wenn Abnehmen so leicht wäre, hätte sie es schon längst getan.
„Wir haben hier im Schwimmbecken unsere Regeln“, sagte Leta und kam noch ein Stück näher. „Die sind natürlich nirgendwo schriftlich festgehalten, aber es ist gut, wenn man sich daran hält.“
„Okay.“
„Ich benutze immer die mittlere Dusche. Das mache ich schon seit achtzehn Jahren, und wenn du zuerst aus dem Becken steigst, dann wäre ich dir dankbar, wenn du sie für mich frei lassen würdest.“
„Kein Problem.“ Courtney versuchte, sich das zu merken.
„Mach dir den Kopf nass, bevor du schwimmen gehst“, riet ihr eine andere Freundin ihrer Großmutter, die dazukam. „Halte ihn richtig unter den Wasserhahn, sonst ruiniert das Chlor dir die Haare.“
„Du hast doch eine Badekappe, oder?“, fragte nun jemand anders. „Ich hasse es, wenn ich beim Schwimmen plötzlich ein Haarbüschel von jemandem zwischen die Finger bekomme.“
Igitt. Was für eine eklige Vorstellung. „Grandma hat mir eine Kappe gegeben.“ Sie hatte zwar nicht vorgehabt, sie zu benutzen, aber Courtney war klar, dass man sie rauswerfen würde, wenn sie es nicht tat.
„Wie schnell schwimmst du denn?“, wollte Leta wissen.
„Äh …“
„Sie soll die mittlere Bahn benutzen“, schlug Courtneys Großmutter vor. „Die meisten von uns schwimmen in der ersten Bahn“, erklärte sie ihrer Enkeltochter. „Die dritte ist für die Schnellschwimmer. Fange erst mal in der mittleren an, und dann siehst du ja, wie es geht.“
„Okay.“ Langsam wurde Courtney wach, und es bekam alles irgendwie einen Sinn. So in etwa jedenfalls. Benutze die Dusche in der Mitte nicht, aber schwimme in der mittleren Bahn und setz die Kappe auf. Mach aber deine Haare vorher richtig nass. So weit, so gut.
Courtney hoffte nur, dass sie diese ganze Bewegung nicht allzu hungrig machen würde.
Als sich die Türen öffneten, strömte die Gruppe Richtung Becken. Die Männer wandten sich nach rechts und liefen zu dem einen Ende, während die Frauen nach links zu den Umkleideräumen gingen.
Courtney folgte ihrer Großmutter, Leta und den anderen. Vera hatte ihre Tasche bereits ins Schließfach gestellt, als Courtney sie einholte. Sie nahm sich Zeit dabei, aus ihren Jogginghosen zu steigen, weil es ihr widerstrebte, vor den älteren Frauen ihre dicken Arme und Beine zu entblößen. Sie fürchtete, dass eine von ihnen – oder vielleicht sogar ihre Großmutter – eine Bemerkung machen würde, weil ihr Badeanzug zu eng saß.
Darüber hätte sie sich nicht den Kopf zerbrechen müssen. Die Frauen wollten so schnell wie möglich ins Wasser, und keine achtete auf sie, wofür Courtney sehr dankbar war. Trotzdem wartete sie, bis der Umkleideraum sich leerte, bevor sie sich auszog.
Sie folgte dem Rat, den man ihr gegeben hatte, und ging zu den Duschen hinüber. Dann wrang sie das pitschnasse Haar aus und stopfte es unter die rosa Badekappe, froh, dass sie hier keine Menschenseele kannte. Wenn jemand von zu Hause sie so gesehen hätte, wäre der hysterisch vor Lachen geworden.
Aber das hier war kein Spaß für Courtney. In sechs Wochen fing die Schule an, dann wollte sie gut aussehen, wenn sie ins Klassenzimmer kam – und es war ihr egal, was sie dafür machen musste. Wenn Abnehmen hieß, vor den Hühnern aufzustehen, sich mit Frauen zusammenzutun, die fünf- oder sechsmal so alt waren wie sie, und sich nach all diesen ungeschriebenen Gesetzen im Schwimmbecken zu richten, dann würde sie das tun.
Den Umkleideraum zu verlassen erforderte einigen Mut, und sie lief schnell durch die Tür zum Wasser, wobei sie versuchte, so cool und lässig wie möglich zu wirken. Als Courtney die Beckenleiter hinunter ins Wasser stieg, hätte sie vor Schock fast aufgekeucht. Es war eiskalt. Auf der Anzeige standen sechsundzwanzig Grad, aber sie hätte schwören können, es waren nicht über zwanzig.
Vera und ihre Freunde zogen bereits ihre Bahnen. Courtney beobachtete sie und stellte fest, dass sie die ganzen Längen hin- und zurückschwammen – von einer Seite bis zur anderen. Einige der Frauen wateten am flachen Ende umher und unterhielten sich. Courtney stürmte an ihnen vorbei und hielt dabei die Arme hoch, damit diese nicht mit dem kalten Wasser in Berührung kamen. Als sie die Stelle erreichte, an der das Becken in Bahnen eingeteilt und tief wurde, blieb ihr nichts übrig, als ganz einzutauchen. Eiskalt! Die Fluten, in denen die Titanic versunken war, konnten nicht annähernd so eisig gewesen sein.
Als sie schließlich in der mittleren Spur ankam, stemmte sie die Füße gegen die Wand des Schwimmbeckens und stieß sich ab. Am anderen Ende der Bahn schnaufte sie bereits und musste sich erst mal am Beckenrand festhalten, um Atem zu schöpfen.
Ihre Großmutter und die anderen schienen keine derartigen Probleme zu haben. Sie waren vielleicht achtzig, schwammen aber nicht nur die ganze Länge des Beckens durch, sondern ruhten sich nicht mal aus, bevor sie umkehrten. Keiner musste erst mal Luft holen.
Courtney schaffte schließlich im Ganzen zehn Runden und machte nach jeder eine Pause. Als sie die zehnte hinter sich hatte, blieb sie am Rand, um ihre Schwimmbrille zurechtzurücken, auch wenn die noch einwandfrei saß. Es war ein Vorwand, um eine kleine Extraverschnaufpause einzulegen. Danach war sie bereit, die elfte Bahn in Angriff zu nehmen, und verspürte regelrechten Stolz dabei.
Ihre Großmutter hatte ihr erklärt, dass sechzehn Bahnen eine halbe Meile wären. In diesem Fall war eine halbe Meile im Wasser eine beträchtliche Menge mehr als auf dem Land. Nach einer kurzen Berechnung kam sie zu dem Schluss, dass sie bereits drei Viertel von einer halben Meile geschwommen war. Wahnsinn!
Sie nahm sich vor, sofort auf die Waage zu steigen, wenn sie nach Hause kam. Nach so einer Anstrengung musste sie doch abgenommen haben. Es wäre eine große Erleichterung, zu beobachten, wenn sich die dünne Nadel der altertümlichen Waage ihrer Großmutter nun endlich in die andere Richtung bewegte.
„Es wird Zeit, aus dem Wasser zu steigen“, verkündete ihre Großmutter, bevor Courtney in die elfte Runde startete.
„Ich will noch zwei Bahnen schwimmen“, protestierte sie.
„Aber nicht heute. Es ist Mittwoch. Da kommt das Schwimmteam um sieben.“
Courtney rieselte ein kalter Schauer über den Rücken, der nichts mit dem kalten Wasser zu tun hatte. „Das Schwimmteam? Du meinst doch wohl nicht etwa das Schwimmteam von der Highschool?“
Vera nahm die Schwimmbrille ab und blickte Courtney verständnislos an. „Warum? Stört dich das?“
Natürlich störte sie das. Es war schlimm genug, sich vor den Freundinnen ihrer Großmutter zu entblößen. Aber der Gedanke, dass irgendeiner von der Schule sie so sehen konnte, war der reine Horror.
Eine Katastrophe. Um alles noch schlimmer zu machen, hatte sie nicht mal ihr Handtuch aus dem Umkleideraum mitgebracht. Sie warf einen Blick durch die großen Glastüren, die den Pool vom Foyer trennten. Gerade als sie aus dem Becken springen und losrennen wollte, öffnete sich die Tür zum Vorraum, und eine Reihe von unglaublich schlanken Mädchen kam in die Schwimmhalle. Courtney wagte nicht, nach den Jungen zu sehen, die ihnen folgten. Die weiblichen Mitglieder des Schwimmteams waren einschüchternd genug.
Sie erstarrte, ratlos, was sie nun tun sollte. Wenn sie jetzt hinauskletterte, präsentierte sie ihren zu engen Badeanzug und das ganze Fett vor all diesen Schülerinnen. Inmitten dieser vielen alten Ladys würden diese Mädchen bestimmt sofort jemanden in ihrem Alter bemerken.
„Courtney!“, sagte ihre Großmutter laut vom Beckenrand. „Es wird Zeit, dass du rauskommst.“
„Ich weiß.“ Sie ließ sich für einen Moment auf den Boden des Beckens sinken und wünschte sich, dort bleiben zu können, bis niemand mehr in der Halle war.
Schließlich blieb ihr irgendwann nichts weiter übrig, als aufzutauchen, aus dem Wasser zu steigen und sich der Welt zu zeigen. Den Blick zu Boden gerichtet, lief sie in den Umkleideraum, der jetzt voller spindeldürrer Teenager war.
Zwei Wochen lang hatte Courtney sich sehnsüchtig gewünscht, jemanden in ihrem Alter zu treffen – aber nicht so, wenn sie praktisch nackt und ohne jeden Schutz war. Diese Schwimmteam-Mädchen hatten nicht ein Gramm Fett zu viel an sich. Sie sahen perfekt aus.
Mit gesenktem Kopf beeilte sich Courtney, zu ihrem Schließfach zu kommen.
„Du solltest duschen“, sagte Leta, die neben ihr auftauchte. „Ich bin jetzt fertig, du kannst die mittlere benutzen.“
„Ich dusche, wenn ich zu Hause bin“, murmelte Courtney. Sie schnappte sich ihr Handtuch und wickelte sich darin ein, als würde sie gleich erfrieren.
„Ich kann aber wirklich nur raten, dass du jetzt duschst“, drängte Veras Freundin sie. „Damit du das Chlor so schnell wie möglich abspülst.“
Auf keinen Fall würde Courtney sich den Badeanzug ausziehen, um dann gänzlich nackt zu duschen. Vor allem jetzt nicht.
In diesem Moment blickte sie kurz auf und entdeckte zwei Mädchen, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und tuschelten. Sie blickten direkt zu ihr herüber. Courtney war ganz sicher, dass sie über sie tratschten. Sie drehte ihnen den Rücken zu und schlug sich die Hände vors Gesicht. Eines Tages in nicht allzu ferner Zukunft würde sie denselben Mädchen irgendwo in der Highschool auf dem Flur begegnen.