5. KAPITEL

„Vergiss nie, dass du zwei Socken brauchst. Wie man dieses Kunststück fertigbringt? Stricke einen nach dem anderen, und verabschiede dich von der Vorstellung, dass sie identisch sein müssen!“

(Deborah Robson, Strickerin, Autorin, Verfasserin von Strickbüchern
www.nomad-press.com)

Lydia Hoffman

Ich versuche, wenigstens einen Teil des Wochenendes mit meiner Mutter zu verbringen. Seitdem Dad tot ist, hat sie es nicht leicht. Es ist schwierig für uns alle. Mir tut es so leid, dass Brad nie die Gelegenheit hatte, meinen Vater kennenzulernen. Ich bin sicher, die beiden hätten sich gut verstanden. Mein Dad war offen und freundlich, und er entdeckte an jedem, dem er begegnete, etwas Positives. Immer fand er ein freundliches Wort und machte diesen und jenen Scherz. Selbst als ich mich auf dem Tiefpunkt meiner Krankheit befand und völlig verzweifelt war, schaffte er es, mir ein Lächeln zu entlocken. Niemand konnte eine Geschichte besser erzählen als mein Vater. Ich frage mich, ob ich jemals aufhören werde, an ihn zu denken. Es scheint, als würde er meine Gedanken immer mehr statt weniger beschäftigen.

Für Mutter war es am schwersten, sich an ein Leben ohne ihn zu gewöhnen. In den letzten vierzehn Monaten ist sie um zehn Jahre gealtert. Sie ist emotional verkümmert –, ich weiß nicht, wie ich es sonst bezeichnen soll. Kaum etwas interessiert sie noch, sie wirkt gebrechlich und traurig. Auch körperlich scheint sie wesentlich schwächer geworden zu sein, als würde ihr Äußeres den inneren Zustand reflektieren, der von Trauer und Hoffnungslosigkeit geprägt ist. Tatsächlich stellten wir bei ihrem letzten Arztbesuch fest, dass Mom mittlerweile fast drei Zentimeter kleiner ist als vor drei Jahren.

Die Resultate ihres Osteoporose-Tests sind noch nicht eingetroffen. Mutter hat also ein paar gesundheitliche Probleme, und ich denke, das liegt nicht nur an ihrer Trauer, sondern auch daran, dass sie sich einsam fühlt. Mein Vater war ihr Halt, ihr Gefährte.

Auch wenn es wie ein Klischee klingt: Es scheint, als fehlte ein Teil von ihr. Ohne ihn funktioniert sie nicht mehr wie vorher. Das kann ich verstehen, und bis zu einem gewissen Grad ergeht es mir auch so. Dad war so ein wichtiger Pfeiler in meinem Leben.

Als ich am frühen Sonntagnachmittag ankam, fand ich meine Mutter hinten im Garten, wo sie mit viel Aufwand und Hingabe ihre Rosen stutzte. Ihr Blumengarten ist ihr Stolz, eines der wenigen Dinge, die sie noch interessieren. Sie schneidet die Rosen, so sagt sie, damit sie kräftiger wachsen. Ich sehe da für mich eine Parallele zu Vaters Tod. Ihn zu verlieren, brachte mich dazu, das Wesentliche in meinem Leben zu erkennen, das Wirkliche. Am wichtigsten war es für mich, meinen eigenen Weg zu finden, um glücklich zu werden und die Herausforderungen der Selbstständigkeit anzunehmen. Mit dem Verlust meines Vaters fand ich den Mut, mein Leben in die Hand zu nehmen, und das tat ich, indem ich meinen eigenen Laden eröffnete – und durch meine Beziehung zu Brad.

Ich blieb an der offenen Tür stehen und beobachtete sie einen Moment. Völlig in ihre Gartenarbeit versunken, bemerkte sie mich nicht. Sie hatte einen großen Strohhut auf, der ihr Gesicht vor der Sonne schützte, und trug ihre grünen Gartenhandschuhe. Neben ihr stand ein Eimer, in den sie die abgeschnittenen Äste warf. Ich wollte sie nicht erschrecken, deshalb rief ich leise ihren Namen.

„Lydia!“ Sie drehte sich zu mir um, als ich aus dem Haus trat. „Ich dachte, du kämst früher.“

„Das dachte ich auch, aber ich bin nach der Kirche aufgehalten worden.“

„Von Brad und Cody?“

Ich nickte. „Ich treffe mich in einer Stunde mit ihnen. Wir wollen um den Green Lake herumlaufen.“ Dieser fast fünf Kilometer lange Spaziergang ist eine gute sportliche Betätigung, etwas, das ich viel häufiger tun sollte. Brad ist dagegen in bester Form und könnte den See auch joggend umrunden. Cody besitzt einen Golden Retriever namens Chase – „chase“ wie jagen, wegen seiner fürchterlichen Angewohnheit, allem und jedem hinterherzuhetzen. Wahrscheinlich wird Cody seinen Hund mitbringen, doch er war bereits vorgewarnt, dass er ihn an der Leine halten müsse. Vielleicht besorge ich mir ein Buch über Hundeerziehung und arbeite mit Cody, um ihm ein paar grundsätzliche Übungen beizubringen. Wie auch immer, dieser Nachmittag versprach unterhaltsam zu werden. Ich war fast versucht, meine Inlineskates mitzunehmen, um mit den beiden – oder besser den dreien – mithalten zu können.

Die Hand meiner Mutter bebte, als sie einen weiteren Zweig abknipste. Dieses Zittern war mir in letzter Zeit öfter aufgefallen. „Was hast du zu Mittag gegessen, Mom?“, fragte ich sie. Ihre Essgewohnheiten waren miserabel, und Margaret und ich machten uns Sorgen, dass sie nicht genug zu sich nahm. Ähnliches befürchteten wir bezüglich ihrer Medikamente. Ich hatte Angst, dass sie manchmal mehr einnahm als verschrieben und ihre Pillen an anderen Tagen vollständig vergaß.

„Was habe ich zu Mittag gegessen?“, wiederholte sie, als müsste sie darüber nachdenken.

„Vor wenigen Stunden, Mom“, scherzte ich.

„Thunfisch und Cracker“, fiel ihr dann ein, und sie blickte mich mit einem so triumphierenden Lächeln an, dass ich grinsen musste.

Trotzdem fragte ich noch mal nach. „Und das war alles?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich hatte keinen Hunger. Und jetzt geh mir nicht auf die Nerven, indem du darauf bestehst, dass ich was esse, auch wenn ich gar keinen Appetit habe. Das war eine Angewohnheit von deinem Vater. Es hat mir damals schon nicht gefallen, und jetzt weigere ich mich immer noch, darauf zu hören.“

„In Ordnung, Mom.“ Ich würde es erst mal darauf beruhen lassen, aber Margaret und ich mussten uns irgendetwas einfallen lassen. Essen auf Rädern vielleicht. Oder eine halbtags arbeitende Haushälterin, wenn wir die Kosten aufbringen konnten. Ich würde demnächst mit ihr darüber reden.

„Nächsten Sonntag ist Vatertag“, erinnerte Mom mich. „Kommt ihr mit mir zum Friedhof? Ich würde gern eine Vase mit meinen Rosen auf das Grab eures Vaters stellen.“

„Natürlich. Margaret und ich werden gern kommen.“ Ich hatte das einfach spontan gesagt und hoffte, dass meine Schwester uns begleitete. In letzter Zeit war sie so gereizt und schlecht gelaunt. Die Nähe, die kurz zwischen uns entstanden war, hatte sich verflüchtigt wie eine flache Regenpfütze in der Sonne. Was immer auch mit ihr nicht stimmte, sie schien mir nicht genug zu vertrauen, um darüber zu reden. Das verletzte mich. Unsere Beziehung war schon viel besser geworden, aber in solchen Situationen wurde ich immer daran erinnert, wie sehr wir noch daran arbeiten mussten.

Als würden ihre Beine schwach, griff Mutter nach einem Terrassenstuhl und setzte sich. Sie nahm den Hut ab und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. „Meine Güte, ist das eine Hitze.“

Ich blickte auf das Thermometer, das mein Vater an die Seitenwand des Hauses gehängt hatte, und stellte fest, dass es vierundzwanzig Grad waren. Das überraschte mich, denn es kam mir gar nicht so warm vor. Natürlich hatte meine Mutter mindestens eine Stunde draußen gearbeitet, wahrscheinlich eher zwei, und deshalb war ihr so heiß.

„Hättest du Lust, essen zu gehen, Mom?“, fragte ich und dachte, das würde uns beiden guttun.

„Nein, danke, meine Liebe. Ich bin nicht hungrig. Ich habe Dorothy Wallace bei dem Pfannkuchen-Frühstück getroffen, das nach der Messe veranstaltet wurde, und wir haben beide reichlich zugelangt.“

Das hieß, sie hatte einen kleinen Pfannkuchen ohne Butter oder Sirup zu sich genommen, dann zum Mittag Thunfisch mit Kräckern, und wahrscheinlich würde sie das Abendbrot vollkommen ausfallen lassen.

„Übrigens hat Margaret angerufen und gesagt, sie wird heute Nachmittag mit den Mädchen vorbeikommen.“

Meine Befürchtungen waren nicht mehr ganz so groß. Margaret sorgte bestimmt dafür, dass Mom abends noch einmal ordentlich aß.

„Sie arbeitet gerne mit dir zusammen“, fuhr meine Mutter fort. „So was würde sie dir sicher nicht sagen, aber es stimmt, das weiß ich genau.“

Ich fragte mich, ob ich meine Sorgen wegen meiner Schwester ansprechen sollte, entschied mich jedoch dagegen. Obwohl ich seit dem Gespräch mit Brad Anfang der Woche immer wieder darüber nachdenken musste. Es gab keine Veranlassung, Mutter da mit hineinzuziehen. Wahrscheinlich würde sie Margaret gegenüber erwähnen, dass ich mir Gedanken machte, und die würde dann wütend werden. Sie nähme es mir sicher übel, wenn ich mit Mom über sie spräche, und würde mir das wochenlang vorhalten.

„Kann ich dir vielleicht irgendwas bringen?“, fragte ich.

Mom lächelte abwesend. „Eistee hätte ich gern.“

Ich ging ins Haus und goss uns beiden ein Glas ein, dann fügte ich noch jeweils eine Zitronenscheibe dazu. Die meisten Zitronen waren bereits verschrumpelt, und ich warf sie weg, ohne es Mutter zu sagen. Bei einem kurzen Blick in den Kühlschrank fand ich einen Liter Milch, dessen Haltbarkeitsdatum bereits seit einem Monat abgelaufen war, und eine Packung tiefgefrorenen Spinat, die sich inzwischen verflüssigt hatte. Auch diese beiden Dinge ließ ich im Mülleimer verschwinden. Als ich auf die Terrasse zurückkam, hatte Mom ihren Hut wieder aufgesetzt und saß mit dem Rücken zur Sonne.

Ich reichte ihr ein Glas und setzte mich zu ihr, genoss die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut, das Singen der Vögel in der Ferne, dazu das leise Geräusch der Sprinkleranlage auf dem Rasen.

„Erzähl mir ein bisschen vom Geschäft“, bat Mutter mich. „Hast du diese Woche wieder neue Ware bekommen?“

Ihr gefielen besonders die Geschichten über meine Kundinnen. Mit einer Menge von ihnen hatte ich mich angefreundet, vor allem mit Jacqueline, Carol und Alix, meine ersten Kursteilnehmerinnen. Es kam selten vor, dass ich sie einmal eine Woche nicht traf. Wenn nichts anderes anfiel, dann kamen zumindest ein oder zwei von ihnen zum Wohltätigkeits-Stricken am Freitag.

Ich erzählte fast zwanzig Minuten lang ohne Pause vom Laden und beschrieb die drei Frauen, die sich vor Kurzem für den neuen Kurs angemeldet hatten. Am meisten interessierte sich Mom für Courtney, die siebzehnjährige Enkelin von Vera Pulanski, einer Stammkundin.

„Ich plane, einmal im Monat einen kleinen Imbiss zu veranstalten, zu dem jede etwas mitbringt“, sagte ich, weil ich ihre Meinung dazu hören wollte – teilweise, um sie mit einzubeziehen, und auch weil ich auf ihr Urteil vertraute. Für meinen Vater war sie über die Jahre eine wertvolle Ratgeberin bei seiner Arbeit gewesen.

„Hast du im Laden Platz dafür?“

„Ich denke schon, wenn ich ein bisschen zusammenräume.“ Anfangs gab es noch Platz für einen großen Tisch, an dem sechs Personen sitzen konnten, doch nachdem ich noch weitere Sorten Wolle eingeführt hatte, war es etwas enger geworden. Jetzt stand der Tisch inmitten von Ausstellungsvitrinen.

„Bist du sicher, dass du zwischen den ganzen Wollsachen Essen ausbreiten willst?“

Meine Mutter sprach meine eigenen Bedenken aus. „Ich dachte, wir sitzen am Tisch, an dem ich die Kurse abhalte, und das Büfett baue ich auf einer Ablage im Büro auf.“

Meine Mutter zuckte die Schultern. „Das wäre eine Möglichkeit, aber wozu sollen diese Essen gut sein?“

Interessante Frage. „Na ja, ich will, dass meine Kundinnen sich kennenlernen. Außerdem, wenn eine der anderen zeigt, was sie gestrickt hat, könnte das motivierend wirken.“ Aus diesem Grund stricke ich öfter verschiedene Muster, die ich im Laden ausstelle. „Du könntest doch auch mitmachen, Mom“, schlug ich begeistert vor. „Margaret und ich würden uns freuen.“ Ich versuche, sie so oft wie möglich einzubeziehen. Sowohl Margaret als auch ich sorgen dafür, dass sie immer etwas hat, auf das sie sich freuen kann, damit sie sich aktiv und lebendig fühlt.

So wie Mom die Stirn runzelte, bezweifelte ich, dass sie mir zugehört hatte. „Veranstalte ein monatliches Treffen, bei dem jede sich vorstellt und ihr Projekt vorführt, und lass das Büfett weg. Wenn ihr etwas essen wollt, geht anschließend in ein Restaurant.“

Die Idee gefiel mir. „Danke, Mom.“

Ich war sicher, sie freute sich, dass ich sie um Hilfe bat. Bestimmt vermisste sie das, nachdem sie die Rolle der Ratgeberin so oft in ihrer Ehe übernommen hatte. Wir saßen noch etwa eine halbe Stunde zusammen und unterhielten uns, dann brach ich auf, um mich mit Brad und Cody zu treffen.

Die beiden warteten auf dem Parkplatz am Green Lake auf mich. Chase zerrte an seiner Leine.

„Hallo!“, rief ich, als ich aus meinem Wagen stieg. Nicht nur Chase schien schon ganz wild auf diesen Ausflug zu sein.

Cody kam als Erster zum Auto gerast und umarmte mich kurz. „Können wir jetzt losgehen?“

Sein Vater strich ihm übers Haar. „Okay, Sportsfreund, aber lauf nicht zu weit vor, in Ordnung? Und lass Chase nicht von der Leine.“

Cody nahm sich nicht die Zeit, um etwas darauf zu erwidern. Zusammen mit Chase schoss der Junge mit einer Energie davon, die ich bewunderte.

Brad und ich begannen zügig zu laufen. Wie immer an einem sonnigen Wochenende war es hier voller Leute und Hunde. Wir kamen an einem Mann vorbei, der mit seiner Gitarre im Gras saß und Folksongs spielte. Ein Kleinkind jagte den Schmetterlingen hinterher. Nahe am Ufer sahen wir ein paar Kanus. Brad und ich liefen nebeneinander und hatten dabei ein Auge auf Cody und Chase.

„Wie geht es deiner Mutter?“, erkundigte sich Brad, der wusste, dass ich vorher bei ihr gewesen war.

In diesem Moment wollte ich keine lange Diskussion über meine Sorgen um sie beginnen. Dieses Gespräch hob ich mir lieber für Margaret auf, und das würde ich auch bald in Angriff nehmen. „So wie immer eigentlich“, erwiderte ich, was mehr oder weniger stimmte. „Meine Schwester besucht sie nachher mit den Mädchen. Mom braucht das.“

„Da du gerade von Margaret sprichst, hat sie schon was zu dir gesagt?“

„Weshalb?“, fragte ich vorsichtig.

Brad griff nach meiner Hand und verschlang seine Finger mit meinen. Ich lächelte ihn an und vergaß Margaret. Es sind diese Momente, in denen wir uns unendlich nahe und verbunden fühlen, die mich so mit Glück erfüllen, dass ich fast platzen könnte. Wie jede Frau sehne ich mich nach Liebe, Heirat, einer Familie. Wegen meiner Krebserkrankung hätte ich nie gedacht, jemals eine Chance für so etwas zu bekommen. Jeden Tag war ich aufs Neue dankbar, Brad an meiner Seite zu haben, dass er an meinem Leben teilnahm, dankbar, trotz all meiner Unzulänglichkeiten und Fehler von ihm geliebt zu werden. Dass ich gegen den Krebs gekämpft hatte, nicht nur einmal, sondern zweimal, machte mich für ihn zu einer zweifachen Gewinnerin. Und das bin ich auch, eine Gewinnerin, weil ich mich so unglaublich beschenkt fühle.

„Ich glaube, ich weiß, was Margarets Problem sein könnte“, sagte Brad und riss mich damit aus meinen Gedanken.

„Ja?“ Irgendwie war mir nicht so danach, über Margaret zu sprechen. Im Augenblick hätte ich lieber einfach mein Glück genossen.

„Ja. Gestern Nachmittag im Eisenwarenladen habe ich Matt getroffen“, erzählte Brad.

Mein Schwager ist ein offener, starker Charakter. Ich glaube, er bildet ein gutes Gegengewicht zu meiner Schwester, die dazu neigt, die Dinge zu pessimistisch zu betrachten. Matt nimmt das Leben nicht so ernst wie sie. Im Gegensatz zu ihr neigt er nicht dazu, sich allzu sehr über irgendetwas aufzuregen, und – was noch angenehmer ist –, er frisst nichts in sich hinein.

„Was hat Matt gesagt?“ Wir waren gelegentlich zu viert ausgegangen, und die beiden Männer hatten sich prächtig verstanden. Margaret lud uns vor einigen Monaten zum Essen ein, und wir waren bis zum frühen Morgen beim Kartenspielen versackt. Ich hatte gehofft, dass wir uns noch öfter treffen würden, aber bisher war das nicht mehr passiert.

„Er arbeitet nicht mehr.“

„Wie, er arbeitet nicht mehr?“ Matt war bei Boeing angestellt, solange ich ihn kenne, wahrscheinlich seit zwanzig Jahren.

„Nicht mehr arbeiten im Sinne von: entlassen sein.“

„Wie bitte? Wann?“

„Vor drei Monaten.“

„Nein.“ Das konnte nicht sein. Drei Monate? Margaret hatte drei Monate lang kein Wort verloren? Ich war schockiert.

„Das sagt er jedenfalls. Er hat sich die Hacken abgerannt und eine neue Stelle gesucht, aber nichts gefunden.“

Mir wurde ganz elend zumute. „Aber ich dachte …“ Ich wusste nicht, was ich gedacht hatte. Das war verrückt. Ich bin Margarets einzige Schwester, und wenn sie nicht in der Lage war, mit mir zu reden, wem konnte sie dann vertrauen?

„Matt schien zu denken, ich wüsste Bescheid, deshalb habe ich so getan als ob.“

Das Brennen in meinen Augen kündigte an, dass ich kurz davor war loszuheulen. Meine Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt.

„Fängst du an zu weinen?“

Ich schniefte und nickte. „Man sollte meinen, sie hätte mit mir darüber reden können.“

„Wenigstens weißt du jetzt, warum sie in letzter Zeit so angespannt ist.“

Das machte es nicht besser. „Ich hätte gedacht, meine eigene Schwester würde mir vertrauen. Aber das war wohl ein Trugschluss.“ Ich wischte mir die Tränen aus den Augen, bevor sie mir über die Wange rollten. Jetzt war mir einiges klar. Margarets Verhalten in den letzten Wochen bekam nun einen Sinn. Sie war nicht nur schlechter Stimmung, sondern hatte auch schon lange keine Wolle mehr gekauft und auch nichts im French Café gegenüber auf der anderen Straßenseite. Im Grunde, jetzt, da ich darüber nachdachte, stellte ich fest, dass sie überhaupt nie Geld ausgab, wenn es nicht absolut notwendig war.

„Ich hätte es wissen müssen“, flüsterte ich aus einem plötzlichen Schuldgefühl heraus. „Es hätte mir auffallen können.“

„Wie denn?“

Es ist nicht leicht, das Verhalten meiner Schwester zu interpretieren. Doch tief im Innern glaubte ich, ich hätte die Zeichen bemerken müssen. Womöglich hätte ich auch mehr auf die Nachrichten achten sollen. Über Entlassungen bei Boeing hatte es bestimmt einen oder zwei Berichte gegeben. Mir war das alles völlig entgangen …

„Wirst du sie darauf ansprechen?“, wollte Brad wissen.

Ich dachte lange darüber nach, bevor ich antwortete. „Ich glaube nicht.“ Aus irgendeinem Grund wollte Margaret nicht mit mir darüber sprechen. Ich würde sie nicht dazu drängen, doch ich hoffte, dass sie bald von selbst zu mir käme. Bis dahin konnte ich nichts weiter tun, als ihr meine Zuneigung zu zeigen, ihre schlechten Launen geduldig zu ertragen und zu warten, bis sie Vertrauen zu mir fassen würde.

„Ich glaube schon“, widersprach Brad sanft. „Dazu kenne ich dich zu gut, Lydia. Du kannst es nicht so lange für dich behalten. Das ist einfach deine Natur.“

Ich lachte darüber, aber ich wusste, dass er eigentlich recht hatte.