29. KAPITEL
„Du schaffst es. Es ist immer nur eine Schlaufe nach der anderen.“
(Myra Hansen,
Geschäftsbesitzerin, Fancy Image Yarn, Shelton, WA
www.FancyImageYarn.com)
Lydia Hoffman
Ich freute mich auf meine nächste Unterrichtsstunde – auch wenn es vorläufig die letzte sein sollte. Elise, Bethanne und Courtney hatten jede mithilfe zweier Rundnadeln ein Paar Socken fertig gestrickt und schon ein weiteres angefangen. Wieder einmal war ich fasziniert, wie sich drei Frauen mit vollkommen unterschiedlichen Hintergründen nur durch die gemeinsame Begeisterung für das Stricken nähergekommen waren. Ich war stille Zeugin von allem gewesen und dachte wieder einmal darüber nach, wie die Leben der drei mittlerweile miteinander verwoben waren.
Elise war diejenige, die vorgeschlagen hatte, Bethanne solle ihr eigenes Unternehmen aufbauen, und Courtney war inzwischen eine gute Freundin von Bethannes Tochter Annie. Und am besten fand ich, dass die drei sich miteinander angefreundet hatten. Und auch für mich Freundinnen geworden waren …
Margaret befand sich in guter Stimmung, seit sie nicht mehr befürchten musste, ihr Haus zu verlieren. Ich weiß nicht, was sie Matt über die Herkunft des Geldes gesagt hatte, aber das war auch egal. Sie brachte das Thema nicht ein einziges Mal auf die zehntausend Dollar, und offen gestanden erleichterte mich das. Ich zahlte die Raten und verlor auch kein Wort darüber. Meine Familie hatte über die Jahre so viel für mich getan, dass es mir ein gutes Gefühl gab, mal etwas zurückzugeben. Meiner Mutter, die meine Gesellschaft und Fürsorge mehr denn je benötigte, und meiner Schwester.
Elise erschien als Erste zum Kurs. Schnell bemerkte ich den weißen Wagen, der vor dem Laden parkte, in dem dieser bemerkenswerte ältere Herr hinter dem Steuer saß. Ich fand die Hingabe von Elises Exmann sehr berührend, und es hatte etwas Beruhigendes, zu wissen, dass es möglich war, immer wieder Liebe zu finden – nicht dass ich so etwas für mich selbst erwartete.
Ich liebe Brad und Cody; das würde sich auch nicht ändern. Cody und ich telefonierten ein- oder zweimal in der Woche miteinander. Er meinte, sein Dad habe ihm erlaubt, mich anzurufen, wann immer er wollte. Seine Mutter erwähnte er selten, als ahnte er, dass es mir wehtat, von Janice und Brad zu hören. Die einzige Information, die ich bekommen hatte, war, dass seine Mom immer noch ihre eigene Wohnung behielt. Das würde wahrscheinlich nicht mehr lange so bleiben.
„Guten Morgen, alle beisammen“, grüßte Elise. Sie glühte förmlich – anders konnte man das nicht ausdrücken.
Ich legte das, mit dem ich mich gerade beschäftigte, beiseite, und musste noch einmal hinsehen. „Du bist sehr gut gelaunt“, bemerkte ich.
„Das hat meine Tochter auch gesagt.“
„Wie ich sehe, ist Maverick da“, sagte Margaret mit einem Blick aus dem Fenster.
Elise errötete vor Aufregung. „Ich habe ihm gesagt, es wäre Unsinn, da draußen zu sitzen und zu warten. Aber er meint, er hätte nichts Besseres vor. Er liest die Zeitung.“ Sie setzte sich an den Tisch und holte ihr Strickzeug heraus. „Jetzt habe ich ihm die Socken geschenkt, die ich gestrickt habe. Deshalb mache ich noch ein Paar für David, wenn ich die hier für Aurora fertig habe.“
„Hat Maverick sich gefreut?“ Es ging mich überhaupt nichts an, aber ich war neugierig. Die ersten Socken, die ich mit der Rundnadel gestrickt hatte, waren für Brad gewesen. Er hatte sie getragen, bis sie ihm fast vom Fuß fielen, und deshalb hatte ich ihm noch mehrere Paare gestrickt. Ich fragte mich, ob er sie noch trug. Wenn Janice erfuhr, wer diese Socken gemacht hatte, bat sie ihn womöglich, sie wegzuwerfen. Oder er tut es selbst, dachte ich finster.
Elise erklärte gerade, dass Maverick seine Socken sehr liebte und dass ihn ihr Geschenk überrascht habe. Da wurde die Tür geöffnet, und Bethanne rauschte herein.
„Ich bin doch nicht zu spät, oder?“, fragte sie. „Meine Vorbereitungen halten mich so auf Trab, dass ich gar nicht mehr durchblicke, wann ich wo sein muss.“ Sie ging sofort nach hinten, wo Elise bereits saß.
Bethanne hatte sich seit unserem ersten Unterricht im Juni sehr verändert. Sie wirkte jetzt selbstsicher, optimistisch und glücklich. Mittlerweile gab es in ihrem Leben auch wieder einen Mann. Sie hatte mal irgendwann seinen Namen erwähnt, Pete oder Paul.
Courtney kam fast direkt nach Bethanne. Ich machte mir Sorgen um sie. In den letzten zwei Wochen war sie ruhiger als sonst. Ich wusste, dass sie nervös war, weil der Schulbeginn kurz bevorstand, und hoffte für sie, dass der Anfang nicht allzu schwer sein würde. Ich hatte beschlossen, das Thema nicht anzuschneiden. Aber wenn sie von selbst darüber sprechen wollte, würde ich jederzeit gern zuhören.
„Das ist heute offiziell unsere letzte Unterrichtsstunde“, sagte ich. Zu meiner Freude wurde diese Ankündigung von Unmutsrufen begleitet. „Würdet ihr gern weitermachen?“ Alle drei bejahten sofort, genauso, wie es in meinem ersten Kurs gewesen war. „Dann schlage ich vor, dass wir unsere Versammlung in eine Strick-Fördergruppe umwandeln.“ Ich hatte schon daran gedacht, eine neue Runde zu gründen, und das war die perfekte Gelegenheit. „Ich werde das den anderen Gruppen mitteilen, es kann also sein, dass wir ab und zu noch jemand dabeihaben werden.“ Ich erklärte, dass wir uns weiterhin wöchentlich treffen würden – selbe Zeit, selber Ort. Sie könnten zum Stricken mitbringen, was immer sie mochten, und ich wäre zur Stelle, wenn es irgendwelche Fragen oder Probleme gäbe. Ich wollte keine Bezahlung mehr dafür haben, schließlich war es für mich von großem Vorteil, wenn die Frauen regelmäßig in den Laden kamen.
„Das klingt gut“, bemerkte Elise und sprach für alle drei. „Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr wir diesen Unterricht genossen haben.“
Ich nahm an, sie war so sehr in ihren Exmann verliebt, dass ihr die ganze Welt hell und leuchtend erschien. Ob die beiden irgendetwas für die Zukunft geplant hatten, wusste ich nicht. Vielleicht lebten sie aber einfach nur in der Gegenwart und machten sich keine Gedanken um das, was morgen kam.
„Ich werde immer kommen, wenn ich Zeit habe“, versprach Bethanne den anderen. „Der einzige Hinderungsgrund wäre, wenn ich gerade eine Feier ausrichte. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele Partys am Nachmittag mitten in der Woche geben wird.“
„Ich auch nicht“, stimmte ich ihr zu. „Du hast deine Socken fertig, oder?“
Sie nickte.
„Hast du sie deinem Sohn geschenkt?“
Ihre Wangen röteten sich leicht. „Nein, ich habe sie einem … Freund gegeben.“
Margaret kam mit einem Stapel Musteralben zum Tisch herüber. „Paul?“
Bethanne nickte. „Seht mich nicht so an. Wir sind lediglich Freunde. Es ist der Exmann von der Frau, wegen der mich mein Exmann verlassen hat.“ Ein Aufstöhnen war zu hören. „Seine Ex und mein Ex haben jetzt geheiratet“, sagte sie lässig, „und wir treffen uns ab und zu und reden miteinander. Wie wir uns dabei fühlen und so was alles.“
„Wann haben sie denn geheiratet?“, erkundigte sich Courtney überrascht.
„Erst vor Kurzem. Es kam ja nicht unerwartet. Aber es ist schon eine Hilfe, jemanden zu haben, mit dem man darüber sprechen kann. Paul ist großartig.“ Sie holte tief Luft. „Er ist ein paar Jahre jünger als ich und, na ja, er würde schon lieber eine … romantische Beziehung mit mir eingehen. Ich habe ihm versprochen, darüber nachzudenken. Aber letztendlich finde ich, wir können uns mehr geben, wenn wir Freunde bleiben. Ich habe ihm gesagt, dass ich nur noch mit ihm ausgehe, wenn seine Mutter als Anstandsdame mitkommt.“
Elise und Courtney lachten.
„Ich versuche, ihn zu ermuntern, sich jemanden zu suchen, der eher in seinem Alter ist.“
„Was ist mit dir?“, erkundigte sich Margaret. „Wärest du denn schon bereit, dich mit jemand anders zu verabreden?“
Bethanne schüttelte den Kopf. „Noch nicht. Das würde ja bedeuten, dass ich mir die Beine rasieren und Strumpfhosen tragen müsste. Das ganze Theater ist mir die Sache nicht wert.“
„Du rasierst dir nicht die Beine?“, fragte Courtney entsetzt. „Das mache ich praktisch jeden Tag.“
„Annie auch.“ Bethanne zuckte die Schultern. „Das habe ich mir irgendwann mit dreißig wieder abgewöhnt.“
„Was ist mit dir, Court?“, erkundigte ich mich und benutzte die Kurzform ihres Namens. „Wirst du weiterhin Zeit haben, an den Treffen teilzunehmen?“
„Ich werde kommen, bis die Schule anfängt. Vielleicht schaffe ich es auch danach, aber vorher muss ich noch mit meinem Schulberater sprechen. Ich glaube, so wie mein Stundenplan für Dienstag aussieht, könnte es klappen.“
„Hey“, meldete sich Elise, „wer sagt denn, dass wir uns um dieselbe Uhrzeit treffen müssen? Wir können es ja auch nach der Schule stattfinden lassen, dann kann Courtney auf jeden Fall mitmachen. Wäre das für alle anderen in Ordnung?“
Sofort stimmten alle im Chor zu. „Drei Uhr dann“, verkündete ich.
Die Türglocke bimmelte, und eine meiner bisher liebsten Schülerinnen betrat den Laden. „Jacqueline!“, rief ich erfreut. Es war schon zwei Wochen her, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Sie kam sonst regelmäßig freitags zur Wohltätigkeits-Handarbeitsgruppe, war aber mit ihrem Mann verreist gewesen.
„Ich bin zurück aus New York City und hier, um meinen Wollvorrat aufzustocken“, erklärte sie. Alle am Tisch kannten Jacqueline, deshalb war es nicht notwendig, sie vorzustellen.
Sie hatte wieder diesen einen bestimmten Blick, den ich schon kannte. Dieser Ausdruck war regelmäßig in den Augen derer zu sehen, die verrückt nach Wolle sind. Jacqueline gehörte zu meinen besten Kundinnen. Sie konnte es sich leisten, so viel Garn zu kaufen, wie sie wollte, und das tat sie auch ohne Einschränkung. Vor Kurzem hatte sie mir erzählt, dass Reese extra für sie einen kleinen Nebenraum im Haus für ihre Wollvorräte eingerichtet hätte. Ich beneidete sie um so viel Platz. Auch hatte Jacqueline immer die Absicht, jedes einzelne Knäuel, das sie kaufte, zu verarbeiten – wenn ihr ein passendes Projekt dafür einfiel. Auch mir schwirrten immer tausend Ideen im Kopf herum, die ich ausarbeiten wollte. Wir beide besaßen wohl mehr Wolle, als wir jemals im Leben verbrauchen konnten.
Jacqueline setzte sich neben Elise und bewunderte ihre Arbeit. Sie neigte dazu, das Gespräch an sich zu reißen, aber es machte niemandem etwas aus. Ihre Begeisterung für die Wollsorten und das Stricken wirkte ansteckend.
Das Telefon klingelte, und meine tüchtige Schwester nahm ab. Ich achtete nicht besonders darauf. Aber als sie den Hörer auflegte und zum Tisch herüberkam, sah ich, dass ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war.
Sie legte mir die Hand auf die Schulter. „Es geht um Mutter“, brachte sie mühsam hervor. „Wir müssen sofort ins Swedish Hospital.“
„Was ist passiert?“ Mir klopfte sofort das Herz bis zum Hals.
„Sie ist zusammengebrochen – die Nachbarin fand sie auf der Veranda. Niemand weiß, wie lange sie da gelegen hat.“
Ich sprang von meinem Stuhl auf, bereit, sofort loszustürzen, als mir klar wurde, dass ich den Laden voller Kundinnen hatte. Mehrere Frauen sahen sich bei den Regalen mit der Wolle um, eine blätterte gerade durch die Musterkataloge. Abgesehen von meinen Schülerinnen …
„Geh“, sagte Jacqueline. „Ich kümmere mich darum, bis du zurück bist. Geh einfach.“
„Kann ich irgendwie helfen?“, bot sich Elise an.
„Und ich?“, fragte Bethanne.
„Ich kann auch länger bleiben“, sagte Courtney.
Ich war vor Dankbarkeit über diese Freundlichkeit und Anteilnahme sehr gerührt. „Danke, ich danke euch allen so sehr.“ Diese Frauen waren wirklich mehr als Kundinnen oder Schülerinnen. Sie waren meine Freundinnen.
Margaret wartete bereits mit der Tasche in der Hand, während ich meine holte. Als ich aus dem Büro kam, war Brad gerade mit einer Lieferung eingetroffen. Er stand neben der Tür.
„Wir müssen gehen“, erklärte ihm Margaret und unterschrieb den Lieferschein. „Es geht um unsere Mutter. Sie ist gerade ins Krankenhaus gebracht worden.“
Er blickte mich besorgt an. „Ist es ernst?“
„Ich weiß es nicht“, erwiderte ich. „Im Moment weiß ich noch gar nichts.“ Ich konnte mich nicht beherrschen. Mein Bedürfnis nach Trost, nach ihm war so groß, dass ich den Arm nach ihm ausstreckte. Ich brauchte seine Nähe, nur ein letztes Mal, um Mut und Kraft daraus zu schöpfen. Er schien es sofort zu verstehen und nahm mich in seine Arme.
„Wir müssen gehen“, sagte Margaret leise.
Er ließ mich los, und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor ich aus dem Laden rannte.
Die Belegschaft im Krankenhaus war fabelhaft, obwohl es, wie es mir schien, Stunden dauerte, bis wir mit jemandem sprechen konnten. Ich machte mir immer wieder schwere Vorwürfe, nicht mehr Zeit für meine Mutter gehabt zu haben. Sie hatte nie etwas von mir gefordert und war immer dankbar für das, was ich für sie erübrigte. Ich besuchte sie zwei- oder dreimal die Woche, doch das war offensichtlich nicht genug gewesen.
Margaret fuhr auch immer zu ihr, wenn sie konnte. Doch Mom brauchte mehr als gelegentliche Besuche von ihren zwei Töchtern. Ich wurde von Schuldgefühlen fast zerfressen, und ich glaubte, meiner Schwester erging es ebenso.
Margaret hasste Krankenhäuser. Sie sagte, es wäre wegen des Geruchs, der ihr sofort Angst machte. Ich hatte praktisch meine ganze Jugend in einem Hospital verbracht und mich so daran gewöhnt, dass ich ihn gar nicht mehr bemerkte. Meine Schwester klammerte sich förmlich an meinen Arm und ließ sich von mir führen.
Wir wurden gebeten, uns ins Wartezimmer zu setzen, bis der Arzt uns über den Zustand unserer Mutter informieren konnte. Die Sessel waren bequem, der Fernseher lief und zeigte eine Soap Opera – ironischerweise handelte es sich um „General Hospital“. Ich achtete nicht auf das, was auf dem Bildschirm geschah, hörte kein einziges Wort von dem, was gesprochen wurde. Stattdessen war ich vollkommen mit meinen Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und meiner Angst beschäftigt. Ganz bestimmt hatte ich bei meiner Mutter versagt, und alles war irgendwie meine Schuld.
Ein Arzt erschien, Margaret und ich sprangen gleichzeitig auf.
Der Mann kam gleich zum Punkt. „Ihre Mutter ist ernsthaft krank. Sie befindet sich in einem diabetischen Koma.“
Das war ein Schock für uns beide.
„Wir haben sie stabilisiert, und ich denke, wir werden ihren Insulinspiegel wieder ausgleichen können. Aber mit dieser Krankheit ist nicht zu spaßen.“
„Bei uns in der Familie hatte bisher niemand Diabetes“, sagte Margaret. „Wir hätten so etwas bei unserer Mutter nie erwartet.“
„Sie lebt allein?“
Wir nickten beide.
Wieder redete der Arzt nicht lange um den heißen Brei. „Also, ich schlage vor, Sie kümmern sich darum, sie in ein betreutes Wohnheim zu bringen.“
Er wollte, dass wir unsere Mutter aus dem Haus holten, in dem sie seit fünfzig Jahren lebte. Ich wusste nicht, ob ich dazu fähig wäre – andererseits hatten wir wohl keine andere Wahl.