13. KAPITEL
Courtney Pulanski
Wenn Courtney der alten Waage ihrer Großmutter trauen konnte, dann hatte sie zwei Kilo abgenommen. Zweieinhalb, wenn sie auf einem Bein balancierte und sich nicht herunterbeugte, um auf die Anzeige zu sehen. Zum ersten Mal in diesem Monat schaffte sie es, sich an ein festgelegtes Ernährungsprogramm zu halten. Sie fühlte sich gut, richtig gut.
Die sportliche Betätigung half, da war sie sicher. Ihre Schwester hatte ihr eine E-Mail geschrieben und vorgeschlagen, eine kohlehydratarme Diät zu machen. Doch Courtney zog es vor, sich eine eigene auszudenken. Es war ein ganz einfaches Konzept: Sie aß nichts, was mit einem „P“ anfing. Dazu gehörte Pasta, Pizza, Popcorn, also so ziemlich alles, was sie in den letzten vier Jahren mit Vorliebe in sich reingestopft hatte.
Von Julianna hörte sie ständig, sie schrieb täglich eine E-Mail von Alaska aus. Ihre Geschichten über das Leben in dem Sommersitz – ihre Mitarbeiter, die Gäste, die Natur – waren wirklich unterhaltsam. Jason schickte ihr ein-, zweimal die Woche ein paar aufmunternde Sprüche, und Courtney freute sich darüber. Sie wiederum schrieb Jason und Julianna lange Briefe per E-Mail zurück. Ihre P-Diät erwähnte sie nicht, doch über jedes verlorene Pfund wurde, zumindest ihrer Schwester gegenüber, stolz berichtet.
Zu ihrem Vater pflegte sie ebenso regelmäßig Kontakt. Sein Job in Brasilien kostete ihn viel Zeit. Doch sie wusste, dass er sich bemühte, trotzdem für sie da zu sein. Dafür liebte sie ihn. Jetzt, da sie aufgehört hatte, sich selbst zu bemitleiden, wurde ihr klar, wie schwierig die Situation für ihn war. Er vermisste seine Kinder furchtbar und schrieb immer wieder von der Zeit, wenn er wieder zu Hause wäre. Dieses Jahr sollte das längste in ihrem gemeinsamen Leben werden.
Das einzige Problem in Seattle war, dass Courtney immer noch niemanden in ihrem Alter kennengelernt hatte. Nach ihrem Horrorerlebnis, als sie auf die ganzen superschlanken Mädchen vom Schwimmteam getroffen war, mied sie das Schwimmbad montags und mittwochs – die Tage, an denen die Gruppe trainierte.
Sie schwamm ihre Runden dreimal die Woche und fuhr an den anderen Tagen viel Fahrrad. Courtney war sogar zur letzten Strickrunde geradelt, obwohl ihre Großmutter fand, dass es im Stadtverkehr von Seattle zu gefährlich war. Die fünf Kilometer waren keine leichte Strecke gewesen, und sie konnte sich anschließend wirklich dazu gratulieren, dass sie sie unbeschadet überstanden hatte. Es stellte eine regelrechte Herausforderung dar, die steilen Anhöhen von Seattle zu bewältigen. Lance Armstrong wäre sicher auch außer Atem gewesen. Einmal musste sie anhalten, vom Rad steigen und schieben, weil es ihr zu anstrengend wurde. Ihr nächstes Ziel war, es den ganzen Capitol Hill, ohne anzuhalten, hochzuschaffen. Das erforderte Übung, doch irgendwann würde sie das auch hinkriegen.
„Gehst du schon wieder?“, erkundigte sich ihre Großmutter, als Courtney die Treppe heruntergepoltert kam. Sie trug ihre Shorts und ein T-Shirt, den Fahrradhelm unter dem Arm.
„Es dauert nicht lange, Grams.“ Vergangene Woche war aus dem „Grandma“ das kürzere „Grams“ geworden. Sie fand, „Grandma“ klang zu kindisch, außerdem war das Wort einfach zu lang.
„Sei vorsichtig“, rief Vera und blickte kurz vom Bildschirm auf.
„Ja, versprochen.“
„Wann kommst du zurück?“
Courtney sah auf ihre Uhr. „Gib mir eine Stunde, okay?“
Grams antwortete nicht, deshalb nahm Courtney an, sie hatte es nicht gehört, wie so oft. Sie setzte den Helm auf und streifte die Handschuhe über, als sie zur Garage ging, in der ihr Fahrrad stand.
Sie fuhr gerade mit Höchstgeschwindigkeit, den Wind im Gesicht, als sie eine bekannte Gestalt auf dem Parkplatz des Supermarkts bemerkte. Bethanne sah sie im selben Moment und hob zur Begrüßung die Hand. Courtney wäre vorbeigefahren, aber Bethanne winkte sie zu sich heran.
Courtney radelte auf Bethanne zu, die offensichtlich gerade eingekauft hatte. Ein gut aussehender Junge mit breiten Schultern und dunklem Haar schob ihren Einkaufswagen zum Auto, um die Waren einzuladen.
„Hallo“, rief Courtney ein wenig außer Atem. Sie griff nach ihrer Wasserflasche und nahm einen Schluck.
„Grüß dich, Courtney. Ich wollte dir meinen Sohn Andrew vorstellen. Er arbeitet hier halbtags – wie du siehst.“ Sie deutete auf seinen Arbeitskittel mit dem aufgedruckten Firmenlogo.
Bei der letzten Strickrunde hatte sie von ihren Kindern gesprochen, aber Courtney war nicht richtig bei der Sache gewesen. Es waren zwei, wie sie sich erinnerte – ein Junge und ein Mädchen.
„Hi“, sagte Andrew nicht gerade sehr begeistert.
„Hi.“ Großartig, dass sie ihm jetzt so nass geschwitzt, außer Puste und in Shorts begegnete. Sie fühlte sich wohler, wenn sie ihre Beine bedeckt hatte, was auch sonst meist der Fall war.
„Courtney ist in meinem Strickkurs“, erklärte Bethanne ihrem Sohn. „Sie ist das Mädchen, von dem ich euch erzählt habe. Sie wird diesen September an der Washington High in der Abschlussklasse anfangen.“ An Courtney gerichtet fügte sie hinzu: „Andrew macht jetzt auch seine Prüfung.“
„An der Washington?“
Er nickte.
„Hast du nicht gesagt, du hättest noch eine Karte für das Spiel der Mariners heute Abend?“, fragte Bethanne ihren Sohn, und bevor er darauf etwas erwidern konnte, schlug sie vor: „Du solltest Courtney dazu einladen. Sie hat bisher hier kaum junge Leute getroffen, und das wäre doch eine gute Möglichkeit für sie, deine Freunde kennenzulernen.“
„Das brauchst du aber nicht“, sagte Courtney schnell, der es peinlich war, dass Bethanne ihren Sohn in diese schreckliche Situation gebracht hatte.
„Hast du Lust mitzukommen?“, fragte Andrew sie.
„Ich denke schon.“ Obwohl sie so klang, als wäre es keine große Sache, war es das doch. Plötzlich war sie total aufgeregt, aber sie wagte nicht, es zu zeigen.
„Du kannst sie doch abholen, nicht?“, mischte sich Bethanne wieder ein.
„Wenn ich das Auto kriege.“ Das klang so, als wäre es ein ständiges Thema zwischen den beiden.
Bethanne grinste. „Schon gut, schon gut, du kannst den Wagen nehmen.“
Andrew ließ sich Courtneys Adresse und Telefonnummer geben und versprach ihr, sie später am Nachmittag anzurufen, wenn er mit der Arbeit fertig wäre.
Courtney war so aufgeregt, dass sie gar nicht schnell genug nach Hause radeln konnte. Andrew war echt cool und süß und genau der Typ, den sie zu treffen gehofft hatte. Das Spiel fand erst in ein paar Stunden statt, doch bis dahin gab es noch tausend Vorbereitungen zu treffen.
Als sie nach Hause kam, hatte ihre Großmutter das Mittagessen gerade fertig. Courtney nahm sich einen Apfel, biss ein großes Stück davon ab und rannte die Treppe hoch.
„He“, rief Vera ihr hinterher, „wohin willst du denn?“
„Ich habe jemanden getroffen, Bethannes Sohn.“ Als Vera sie verständnislos ansah, erklärte sie: „Bethanne. Vom Strickkurs.“ Courtney holte tief Luft. „Ich gehe heute Abend zum Spiel der Mariners.“
„Bis dahin dauert es doch noch ein paar Stunden.“
„Ich weiß!“, rief sie von oben, „aber ich muss noch duschen und so was alles. Ach, was soll ich denn bloß anziehen?“ Blöde Frage. Grams war süß, aber was Mode anbetraf überhaupt nicht auf dem Laufenden. „Schon gut“, fügte Courtney schnell hinzu. „Ich werde schon was finden.“
Nach dem Duschen wechselte Courtney ungefähr fünfzehnmal ihre Klamotten, wog sich mit dem jeweiligen Outfit und unterzog sich vor dem Spiegel einer sorgfältigen Prüfung. Schließlich entschied sie sich für Jeans, ein weißes Tanktop und darüber ein gelb gemustertes Shirt. Mit diesen Klamotten wog sie mehr als in anderen, aber das gelbe Hemd ließ ihre Augen dunkler wirken und betonte ihr dunkelbraunes Haar. Das war die beste Wahl.
Andrew rief um fünf an, um ihr zu sagen, dass er sie in dreißig Minuten abholen würde. Das Spiel begann um sechs. Courtney wollte nicht zu eifrig erscheinen, indem sie vor der Tür wartete, aber drinnen wollte sie ihn auch nicht empfangen. Es war ja kein Date oder so etwas. Sie entschied sich für einen Kompromiss und hielt durch das Wohnzimmerfenster nach ihm Ausschau. Als er vor dem Haus hielt, drückte sie ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange und rannte hinaus.
„Viel Spaß!“, rief Grams ihr hinterher.
„Den werde ich haben!“ Das war viel besser, als in ihrem Zimmer zu hocken und stundenlang im Internet herumzusurfen. Und Fernsehen im Sommer war einfach bescheuert.
Andrew lehnte sich vom Fahrersitz des Autos herüber und öffnete die Beifahrertür für sie. „Hi“, sagte er wieder ziemlich gelangweilt.
„Hi! Danke, dass du mich mitnimmst.“
Courtney saß bereits vorn auf dem Sitz, als sie bemerkte, dass sich noch jemand im Wagen befand. „Hi“, grüßte sie, als sie sich herumdrehte, um nach dem Sicherheitsgurt zu schauen.
„Das ist Annie, meine Schwester. Sie geht dieses Jahr in die Mittelstufe. Annie, das ist Courtney.“
Courtneys Begrüßungslächeln erstarrte, als sie Andrews Schwester sah. Es war das Mädchen aus dem Schwimmteam, das mit einer Freundin über sie getuschelt hatte. Sie konnte nur hoffen, dass Annie sie mit ihren Klamotten jetzt nicht wiedererkannte. Offenbar war es auch so, denn sie machte jedenfalls keine Bemerkung darüber, Courtney an jenem Tag in der Schwimmhalle gesehen zu haben.
„Andrew und meine Mutter haben mich gezwungen, ihn zu begleiten“, beschwerte sich das Mädchen.
Das sollte wohl klarstellen, dass Annie dazu genötigt worden war, mit ihnen zu fahren, bevor Courtney auf die Idee käme, sie hätte Lust dazu gehabt.
„Wie lange bist du schon in Seattle?“, erkundigte sich Andrew, nachdem er seiner Schwester einen warnenden Blick zugeworfen hatte.
„Zwei Wochen. Ich wohne bei meiner Großmutter.“ Courtney erzählte minutenlang von der Arbeitssituation ihres Vaters und der Wichtigkeit seines Brückenprojekts in Brasilien. Sie erklärte, dass ihr Bruder im Internat sei, ihre Schwester auf dem College und den Sommer über in Alaska. Dann bemerkte sie noch, wie schwer es ihr gefallen war, Chicago und all ihre Freunde zu verlassen. Sie hatte den beiden garantiert mehr Informationen geliefert, als sie haben wollten, aber es tat einfach so gut, endlich mal wieder mit Gleichaltrigen zusammen zu sein.
„Sind deine Eltern geschieden?“, fragte Annie vom Rücksitz.
„Meine Mom ist vor vier Jahren bei einem Autounfall umgekommen“, erwiderte Courtney leise.
„Verdammt“, bemerkte Andrew mitfühlend.
„Ja.“ Plötzlich fiel ihr nichts mehr ein, und Andrew und Annie sagten auch kein Wort mehr. Die Stille im Wagen war bedrückend.
„Ich wünschte, Dad wäre auch umgekommen“, flüsterte Annie plötzlich.
„Sag so was nicht!“, fuhr Andrew sie an.
„Ich meine es aber so!“, rief sie wütend.
„Unsere Eltern haben sich vor Kurzem scheiden lassen. Aber ich nehme an, dass Mom schon darüber gesprochen hat“, erklärte Andrew.
„Sie hat es am Anfang mal erwähnt.“ Ansonsten konnte sich Courtney noch daran erinnern, dass Bethanne dringend einen Job suchte.
„Unser Vater ist ein Mistkerl!“, schrie Annie fast.
„Meine Schwester hat die Trennung der beiden ziemlich mitgenommen“, erklärte Andrew leise.
„Das habe ich verstanden“, schimpfte Annie von hinten.
In einer Seitenstraße parkten sie und stiegen aus. Annie musterte Courtney, und die hielt die Luft an. Sie betete, Annie möge sich nicht daran erinnern, dass sie sie schon einmal gesehen hatte. Es half nicht.
„Ich kenne dich“, sagte Annie.
Courtney verließ der Mut. „Vielleicht aus dem Strickkurs von deiner Mutter“, sagte sie hoffnungsvoll, doch das nervöse Gefühl im Magen wollte nicht weggehen.
„Jetzt weiß ich es!“, rief Annie triumphierend. „Du warst im Schwimmbad, oder? Diese Frühmorgens-Runde mit den ganzen alten Tanten.“ Sie lehnte sich ein Stück vor und sagte in bühnenreifem Flüsterton: „Keine Sorge, du wirst mir dort nicht mehr begegnen. Ich hab letzte Woche in dem Team aufgehört. Mom weiß es noch nicht, und Andrew wird es ihr nicht erzählen, weil wir einen Deal haben.“
Andrew sah seine Schwester mit zusammengekniffenen Augen an.
„Er wollte ganz sicher sein, dass ich mitkomme, wenn ihr zusammen zu dem Spiel geht“, erklärte Annie schadenfroh, „weil er Angst hat, dass sonst seine Freundin was davon erfährt.“
„Halt endlich den Mund“, fuhr Andrew seine Schwester an. Er warf Courtney einen entschuldigenden Blick zu.
„Kein Problem“, versicherte sie ihm. Und das war es auch wirklich nicht.