22. KAPITEL

Elise Beaumont

Elise war tief in Gedanken versunken, während sie den Salat für das Dinner zerkleinerte. Ihre Enkelsöhne waren wieder mit Maverick in dem kleinen Park in der Nachbarschaft. Luke und John nutzten jede Gelegenheit, um ihn dorthin zu zerren, und er ließ sich immer gern dazu überreden. Wenn er nur halb so gut als Ehemann und Vater gewesen wäre wie jetzt als Großvater, dann hätte ihre Ehe womöglich halten können.

Obwohl sie es nicht gern zugab, genoss Elise Mavericks Anwesenheit inzwischen. Doch es war gefährlich, etwas von ihm zu erwarten, auch wenn es nur um eine lockere Freundschaft ging. Niemand wusste das besser als sie. Dennoch hatte er es geschafft, ihre Entschlossenheit, ihm aus dem Weg zu gehen, ins Wanken zu bringen. Stück für Stück hatte er ihre Vorbehalte und Zweifel zerschlagen. Nicht mit großartigen Versprechen oder Ankündigungen, sondern durch sein Verhalten – vor allem dadurch, dass er sich so liebevoll um Aurora und die Enkel kümmerte. Er respektierte Elises Gefühle und stritt sich nie mit ihr oder versuchte, sein früheres Verhalten zu rechtfertigen. Er schien sich ernsthaft zu bemühen. Sie wollte ihm nicht vertrauen und wusste, dass sie ihm nicht gestatten sollte, wieder an ihrem Leben teilzuhaben. Trotzdem fühlte sie sich zu ihm hingezogen.

Die Zeituhr im Wäscheraum meldete sich. Elise wischte sich die Hände ab, bevor sie die frisch gewaschene Kleidung aus dem Trockner in den Wäschekorb legte. Aurora traf sich mit Bethanne wegen Lukes Geburtstagsfeier. Elises Vorschlag, Bethanne dafür zu engagieren, hatte ihrer Tochter gefallen, und sie bestand darauf, die Kosten selbst zu übernehmen. Sie und Elise waren darüber fast in einen kleinen Streit geraten und schließlich übereingekommen, dass Elise für den Kuchen zahlen würde.

Da Aurora wegen der Besprechung mit Bethanne in Zeitdruck geraten würde, hatte Elise schon mit den Vorbereitungen für das Dinner begonnen. Die Soße war bereits angerührt und der Käse für das Lieblingsessen der Familie gerieben, das den nicht sehr eleganten Namen „Spaghetti-Auflauf“ trug.

Innerhalb von wenigen Minuten hatte sie die Kleidung ihrer Neffen zusammengefaltet. Um sie nicht im Wäscheraum liegen zu lassen, trug sie den Korb ins Zimmer der Jungs. Seit Mavericks Ankunft hatte sie den Raum nicht mehr betreten. Wenn sie von ihm erwartete, dass er ihre Privatsphäre respektierte, dann musste sie ihm das Gleiche zugestehen.

Sie öffnete die oberste Schublade des Kleiderschranks und stellte fest, dass Aurora sie für Maverick freigeräumt hatte. Sofort schob sie sie wieder zu und schaute in die zweite und dritte, in denen Lukes und Johns Sachen waren. Schnell ordnete sie die Shorts und T-Shirts ein. Elise wusste sehr wohl, was sie als Nächstes tun sollte – sich umdrehen und das Zimmer verlassen. Aber sie konnte nicht widerstehen … In Mavericks Schublade hatte sie die Ecke eines Bilderrahmens entdeckt. Natürlich ging es sie nichts an, um wessen Foto es sich handelte und warum er es ganz unten im Schrank aufbewahrte – das war ihr klar, aber dennoch …

Zögernd wandte sie sich um und lief zur Tür, dann drehte sie sich wieder um und ging mit klopfendem Herzen zurück. Auf dem kleinen Tisch neben dem unteren Bett sah sie das Buch, in dem Maverick gerade las, und eine Kaffeetasse. Aber keine Fotos.

Plötzlich hielt sie es nicht mehr länger aus. Warum sich so quälen? Ein kurzer Blick würde ihr sagen, wer auf dem Foto war, und ihre Neugierde wäre befriedigt. Sie öffnete die Schublade und starrte hinein. Die Kante des Rahmens lugte unter seinen T-Shirts vor. Der Rahmen war silbern und leicht abgeschabt.

Nur ein Blick, überlegte sie wieder. Okay, es wäre ein Eindringen in seine Privatsphäre, aber keine so große Sache. Nicht dass sie grundsätzlich solche … solche subjektiven moralischen Prinzipien guthieß. Nein, sie würde sich nichts vormachen. Sich das Foto anzusehen, war nicht richtig. Aber sie würde es trotzdem tun. Sie würde es nicht anfassen. Nur die T-Shirts ein wenig bewegen. So wie sie Maverick kannte, handelte es sich wahrscheinlich um ein Foto eines Blackjack-Turniers, das er gewonnen hatte.

Mit rasendem Puls hob sie die Shirts mit spitzem Finger an – und erstarrte. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Es war ein Foto von ihr!

Er hatte es gemacht, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass sie mit Aurora schwanger war. Sie waren durch einen nahe gelegenen Park geschlendert, und er hatte sie gerade geknipst, als sie sich umdrehte, nachdem sie einen Rosenbusch betrachtet hatte. Ihre Augen leuchteten voller Liebe und Aufregung. Das war, bevor ihr alle Illusionen geraubt worden waren, bevor sie die Wahrheit über den Mann, den sie geheiratet hatte, erkennen und akzeptieren musste. Doch in diesem Moment, als sie von ganzem Herzen glücklich gewesen war wie nie zuvor und niemals mehr danach, hatte er sie fotografiert. Sie war eine Frau voller Liebe gewesen, mit Zukunftsträumen von ihrem Baby und von der Familie, die sie haben würde.

Elise starrte auf diese Frau, die sie einmal gewesen war, und biss sich auf die Lippen, überwältigt von den Erinnerungen. Von den Gefühlen.

„Weißt du noch, wann ich das Foto gemacht habe?“, fragte Maverick, der plötzlich im Schlafzimmer stand.

Elise schrie auf, sprang vom Schrank weg und schlug sich die Hand aufs Herz. Sie war so erschrocken, weil er sie so unerwartet angesprochen hatte. Aber noch größer als der Schrecken war die Scham darüber, dass er sie dabei erwischt hatte, wie sie auf das Foto von sich starrte. Das in seiner Schublade versteckt war. In seinem Zimmer.

„Es … es tut mir leid“, sagte sie leise, unfähig, ihm in die Augen zu sehen.

„Was? Dass du schnüffelst?“

Peinlich berührt hielt sie das Gesicht abgewandt und schüttelte den Kopf. „Ich hätte nie … es tut mir wirklich leid. Ich kann mir gut vorstellen, was du jetzt denkst.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“

Sie wollte nur noch raus aus diesem Zimmer. „Ich erinnere mich nicht mehr, was du gefragt hast.“

„Ich wollte wissen“, sagte er langsam und bedächtig, „ob du dich daran erinnerst, wann ich das Foto gemacht habe.“

Statt etwas zu sagen, nickte sie.

„Ich habe es die ganzen Jahre über mit mir herumgetragen“, sagte er leise. „Aber dann fing es an auseinanderzufallen, deshalb habe ich den Rahmen gekauft.“

„Ach so.“

„Ich wollte dich bei mir haben.“

„Wir sind geschieden“, erinnerte sie ihn kühl. Sie wollte nicht daran denken, wie es sich damals angefühlt hatte, ihn so hingebungsvoll zu lieben. Mit einem Mal war sie sich bewusst, wie nahe er war, nur einen Schritt entfernt. Sie konnte sein Aftershave riechen. Das gleiche, das er benutzt hatte, als sie verheiratet gewesen waren. An den Namen konnte sie sich nicht mehr erinnern. Aber dessen frisches, holziges Aroma umfing sie jetzt wie ein Aphrodisiakum. Ohne dass sie es wollte, wurde sie wie magisch von Maverick angezogen. Sie schwankte und befürchtete einen Augenblick lang, sie würde gleich zu seinen Füßen zusammenbrechen.

Maverick kam noch näher. „Ich habe es dir schon gesagt: Ich liebte dich damals.“ Er legte ihr den Zeigefinger unter das Kinn und hob ihren Kopf an, damit sie ihn ansah. „Und ich liebe dich immer noch.“

Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Es war ihr unmöglich, einen Ton herauszubekommen, deshalb schüttelte sie nur den Kopf.

„Ich weiß“, flüsterte er, „es war nicht genug – es ist nicht genug. Aber es war alles, was ich zu bieten hatte.“

Er hätte sie geküsst, wenn nicht in diesem Moment die Jungs gekommen wären. Luke und John stürmten wie ein Tornado ins Zimmer, traten und stießen um sich und kämpften wild gegeneinander. Offensichtlich hatten sie sich auf dem Weg von der Garage, in der sie ihre Räder aufbewahrten, gestritten.

Widerstrebend wandte sich Maverick von ihr ab und kümmerte sich sofort um die zwei Streithähne. Elise nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Sie kehrte in die Küche zurück, hielt sich mit beiden Händen am Tresen fest und versuchte, sich zu beruhigen. Ihr Exmann hätte sie eben fast geküsst, das war schon schockierend genug. Aber bei dem Gedanken daran, dass sie es zugelassen hätte, wurden ihr die Knie weich.

Glücklicherweise hatte sie etwas, um ihre Hände zu beschäftigen. Sie machte den Salat fertig und rührte energisch in der Tomaten-Fleisch-Soße, die auf dem Herd köchelte. Dann setzte sie einen großen Topf Wasser auf, um die Spaghetti zu kochen. Alles würde zusammen in eine Kasserolle kommen und darüber der geriebene Käse.

Als zwanzig Minuten später die Garagentür geschlossen wurde, seufzte sie erleichtert auf. Entweder Aurora oder David waren nach Hause gekommen.

Ihre Tochter trat in die Küche. Als sie sah, dass Elise das Dinner schon vorbereitet hatte, jubelte sie vor Freude.

„Ach, Mom, vielen Dank!“ Sie umarmte ihre Mutter fest.

„Vielen Dank wofür?“, fragte Elise. „Für das Kochen? Ich versuche zu helfen, wo ich kann.“ Während sie das sagte, goss sie das Spaghettiwasser ab, füllte alle Zutaten in den Topf und streute zum Schluss den Käse darüber.

„Nein, ich meine, ja, danke dir dafür, aber Mom, danke, dass du mir von Bethanne erzählt hast. Sie ist großartig! Wir machen das mit den Dinosauriern.“ Strahlend umarmte sie wieder ihre Mutter. „Bevor ich mit ihr gesprochen habe, dachte ich, ich würde alle zu einer Pizza und Eis einladen, und dann wäre es okay. Aber für das gleiche Geld wird Luke jetzt eine aufregende Party bekommen, an die er sich immer erinnern kann.“

Elise hatte die richtige Eingebung gehabt. Viel beschäftigte Eltern würden gern für eine Party bezahlen, die ein wenig anders und speziell auf die Interessen ihrer Kinder zugeschnitten war.

„Gayle von gegenüber ist mitgekommen. Und sie hat auch eine Party gebucht, obwohl Sonjas Geburtstag erst in einem Monat ist!“

„Das ist schön.“ Elise lächelte erfreut. Sie öffnete die Ofenklappe und schob den großen Topf hinein.

„Was ist los?“, erkundigte sich Maverick, der gerade in die Küche kam. Er sah zu Elise.

„Eine der Frauen in meinem Strickkurs braucht dringend einen Job. Es ist etwas kompliziert“, sagte sie, weil sie nicht die ganze Geschichte erzählen wollte, warum es für Bethanne so wichtig war, Arbeit zu finden.

„Gayle war so aufgeregt, dass sie auf dem Weg nach Hause drei Freundinnen anrief“, erzählte Aurora.

„Ich bin ja so froh darüber“, murmelte Elise.

„Das kannst du auch. Bethanne hat mir erzählt, dass es deine Idee war.“

Elise errötete. Sie wollte die Aufmerksamkeit von sich weglenken und kündigte deshalb an: „Das Abendessen ist fast fertig.“

„Was gibt es denn?“, erkundigte sich Luke misstrauisch. Er war der pingelige Esser in der Familie.

Maverick lugte in den Ofen und drehte sich zu seinem Enkel um. „Für mich sieht es aus wie Würmer mit Blut.“

„Maverick Beaumont!“, rief Elise, entsetzt darüber, dass er so etwas sagte.

Luke bekam vor Wonne große Augen und raste ins andere Zimmer, um seinem Bruder diese Nachricht zu übermitteln.

„Besser bekannt als Spaghetti-Auflauf“, unterrichtete Maverick seine Tochter.

„Ach so.“

Elise grinste und musste ihn für seinen weisen Umgang mit seinem Enkelsohn bewundern.

„Ich decke den Tisch“, bot er an.

„Dazu ist es noch zu früh“, entgegnete Aurora. „Warum gehst du nicht mit Mom raus und holst ein paar Blumen als Tischdekoration. Meine Rosen sind in diesem Sommer sehr schön.“

Zu jeder anderen Zeit hätte Elise abgelehnt und entweder Maverick diese Aufgabe überlassen oder darauf bestanden, die Blumen allein zu pflücken. Das hätte sie jetzt auch tun sollen, aber sie entschied sich dagegen.

Zusammen gingen sie in den hinteren Teil des Gartens, in dem Auroras Rosen blühten. Zu ihrem ersten Hochzeitstag hatte David ihr einen Rosenbusch von einer alten Sorte geschenkt, und ein Jahr später hatte dieser geblüht. Jetzt, an diesem Julinachmittag, erfüllte der Duft der zarten Blüten die Luft.

Elise atmete tief ein. „Ich werde die …“

Sie verstummte, als Maverick ihre Hand nahm. „Lass uns einfach erst ein paar Minuten im Garten herumstreifen. Wäre das in Ordnung?“

Ja“, sagte sie und erkannte ihre Stimme kaum noch. „Das ist okay.“

Tatsächlich war es mehr als okay.