44. KAPITEL
„Wenn im Zweifel, greif dir ein Knäuel Wolle und werde kreativ!“
(Sasha Kagan, Sasha Kagan Knitwear)
Lydia Hoffman
Es war eine Woche her, seit ich Brad getroffen hatte. Meine Wut war verraucht, und ich wünschte, ich könnte einiges, was ich gesagt hatte, wieder zurücknehmen. Dabei hoffte ich, dass es ihm genauso ging. Dienstagmorgen, als ich das „Geschlossen“-Schild von der Tür nahm, blickte ich bei der Gelegenheit durch die Scheibe nach draußen auf die Straße. Es war zu früh, um Brads UPS-Lieferwagen zu sehen, aber ich hoffte es trotzdem. Ich wusste nicht, was ich zu ihm gesagt hätte, doch ich wäre ganz sicher viel gefasster als vor einer Woche am Green Lake.
Die vergangenen Tage waren unglaublich gewesen. Freitagnachmittag kam Courtney vorbei, um mir ihre ältere Schwester vorzustellen. Sie erzählte mir eine irre Geschichte von einem mysteriösen Wohltäter, der es ihr ermöglicht hatte, zum Homecoming-Ball, zu dem Bethannes Sohn sie eingeladen hatte, so perfekt wie möglich zu erscheinen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wer das getan haben sollte. Courtney hatte wahrscheinlich gehofft, ich wüsste es, aber das war nicht der Fall.
Am Samstag erschien Bethanne, die ebenfalls von einem fantastischen Erlebnis mit einem unbekannten Gönner berichtete, der ihr die Summe spendete, die sie für ihr Geschäft benötigte – ohne dass es irgendeinen Haken an der Sache gab. Es handelte sich um ein Geschenk, keinen Kredit. Er wollte lediglich, dass sie jemand anders half, wenn sie einmal in der Lage dazu sein sollte.
Ausgelassen war sie über die Straße zu Alix gelaufen, um mit ihr über eine weitere Geschäftsidee zu reden – ein Vertrag mit dem French Café, Geburtstagstorten und andere Desserts für die verschiedenen Veranstaltungen zu liefern, die Bethanne arrangierte.
Ich freute mich riesig für Bethanne und Courtney. Wenn dieser gute Zauberer ein wenig von dem magischen Feenstaub übrig hatte, könnte ich auch etwas davon gebrauchen – nicht dass ich irgendwelche Wunder in meinem Leben erwartete.
Die Türglocke ertönte, und Margaret betrat um Punkt zehn den Laden. „Guten Morgen“, grüßte sie mich fröhlich.
„Morgen.“ Ich hätte sie gern gefragt, warum sie so gut gelaunt war, unterließ es aber erst mal, weil ich abwarten wollte, ob sie von selbst mit einer Erklärung herausrückte. Es ist immer noch nicht ganz einfach, den richtigen Weg zu finden, um sich meiner Schwester zu nähern.
„Sieht aus, als hättest du ein gutes Wochenende gehabt“, bemerkte ich schließlich vorsichtig.
„Auf jeden Fall.“ Sie hüpfte fast auf dem Weg durch den Laden nach hinten. Ich folgte ihr ins Büro.
„Habt ihr was Schönes unternommen?“, wollte ich wissen. Dabei dachte ich an ein Dinner im Restaurant oder einen Kinobesuch.
„Es war besser, als du dir überhaupt vorstellen kannst!“ Sie strahlte mich förmlich an. Das war kein typisches Margaret-Lächeln, das oft ein wenig gequält wirkte, sondern ein offenes und entspanntes, das ihr ganzes Gesicht verwandelte und es zum leuchten brachte.
„Ja?“ Ich platzte fast vor Neugierde.
Sie öffnete ihre Tasche und zog einen Briefumschlag heraus, den sie mir mit einer theatralischen Geste überreichte.
„Was ist das?“
„Mach auf und sieh nach.“
Ich muss zugeben, ich war so gespannt, dass ich den Umschlag ohne große Umschweife aufriss. Darin lagen eine Karte und ein Scheck. Ich sah die Summe und schnappte nach Luft – sie entsprach genau der Höhe des Bankkredits, den ich aufgenommen hatte. Zehntausend Dollar. Auf der Karte stand ein Dankeschön an mich, von meinem Schwager und Margaret unterschrieben.
„Was … wie …“, stammelte ich, vollkommen perplex.
„Matt hat einen wundervollen neuen Job.“
Ich nahm an, dieser Job hatte nichts mit Renovierungen zu tun. „Das Geld …“
„Ein Einstellungsbonus.“
„Aber …“
„Wir haben es durchgesprochen, Matt und ich, als du uns das Geld gegeben hast. Er war so gerührt von deiner Großzügigkeit. Ich kann dir kaum sagen, was es für uns bedeutete, nicht mehr um unser Haus bangen zu müssen. Wir waren noch nie so sehr im Rückstand mit den Zahlungen, das war für uns beide ein schwerer Schlag. Bei aller Dankbarkeit für deine Hilfsbereitschaft wussten wir aber beide von Anfang an, dass wir das Geld nur als Leihgabe betrachteten.“
„Aber …“ Es sah so aus, als brächte ich immer nur ein Wort heraus – und es muss schon einiges passieren, damit es mir die Sprache verschlägt.
„Das wirklich Erstaunliche an dieser Sache ist, dass Matt sich bei dieser Konstruktionsfirma gar nicht beworben hatte. Am Dienstag rief die Personalabteilung bei ihm an und bat ihn, sofort seine Bewerbungsunterlagen zu schicken, was er auch tat. Es dauerte kaum einen Tag, da kam schon die Antwort, und die Einstellungsgespräche begannen.“
„Das ist ja wunderbar!“
„Das ist es auch – du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel uns das bedeutet. Ich habe Matt bisher kaum jemals so aufgeregt erlebt. Er war wie ein kleines Kind, als er die Nachricht erhielt. Gestern hat er angefangen zu arbeiten. Ich wollte am Freitag schon was sagen, aber wir hatten beschlossen, zu warten, bis alles unter Dach und Fach ist – und wir dir das da geben können.“ Sie zeigte auf den Scheck.
„Margaret“, sagte ich und umarmte meine Schwester. „Bist du dir auch sicher? Ich meine, es gibt doch sicher tausend Dinge, die ihr braucht. Behalte das Geld und zahle es zurück, wenn du kannst.“
„Nein“, widersprach sie streng, „es ist deins, und weder Matt noch ich wollen eine Widerrede hören.“
„Wow“, sagte ich leise, „der Feenstaub fliegt hier überall herum.“ Ich glaube, meiner Schwester war gar nicht klar, was für einen Wendepunkt diese Leihgabe für mich markierte, in mehr als einer Beziehung. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben war ich aus meinem eigenen Bannkreis herausgetreten. Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber es hat mit dem ziemlich isolierten Leben zu tun, das ich so viele Jahre geführt hatte. Als Teenager und in meinen Zwanzigern drehte sich alles nur um mich und meine Krankheit. Erst als ich mein Geschäft in der Blossom Street eröffnete, begann ich zu begreifen, wie egozentrisch ich geworden war.
Dieser Sommer war für mich eine besonders schwierige Phase gewesen, in der ich lernte, auf die Bedürfnisse und Sorgen anderer einzugehen und nicht nur meine eigenen zu sehen. Margaret und Matt zu helfen war zwar eine finanzielle Belastung, doch ich wollte meiner Schwester und ihrer Familie so gern etwas für die ganzen Opfer, die sie für mich gebracht hatten, zurückgeben.
Später, nachdem Mom den Zusammenbruch hatte, wurde mir klar, dass sich unsere Rollen nun verändern mussten. Es wurde Zeit, dass ich mich um sie kümmerte. Der bürokratische Aufwand, die Regelung der Finanzen und alles andere, was getan werden musste, damit Mutter in das betreute Wohnobjekt umziehen konnte, waren sehr zeitaufwendig und oft frustrierend. Doch meine Eltern hatten diese Dinge auch für mich getan, während meiner Krankheit. Ich erhielt die beste Behandlung, weil meine Eltern sie für mich erkämpft hatten. Jetzt war ich an der Reihe.
Meine dritte Lektion gehörte vielleicht zu den schmerzhaftesten. Ich meine die Situation, als Brad mir von Janice erzählte. Ich war von Selbstmitleid fast zerfressen, weil der Mann, den ich liebte, mit mir Schluss gemacht hatte. Erst später, als ich den schrecklichen Kummer ein wenig überwunden hatte und wieder klarer sehen konnte, verstand ich, dass Brad diesen Schritt aus Liebe zu seinem Sohn tat. Die Aussöhnung mit Janice hatte er sich nicht gewünscht, aber er liebte Cody so sehr, dass er seine eigenen Bedürfnisse zurückstellte, um ihm die Familie zu geben, die er brauchte. Ich war nicht so nobel. Als ich seine Gründe schließlich verstanden hatte, fühlte ich mich sicher weniger verletzt, doch ich war bei weitem nicht so verständnisvoll, wie ich es hätte sein sollen.
Die Glocke über der Tür klingelte und kündigte meinen ersten Kunden für diesen Tag an. Ich erwartete fast, dass Margaret hinausstürmte. Sie schien aber mit Bestellformularen beschäftigt zu sein, deshalb legte ich den Scheck auf meinen Schreibtisch und ging schnell in den Ladenraum.
Brad stand in der Tür, und mir wurde bei seinem Anblick ganz warm. Margarets Lächeln von vorhin war gar nichts gegen meins. „Hallo, Hübscher“, sagte ich.
„Hallo, Schöne.“
Wir standen da und grinsten uns eine ganze Weile an, bis er die Arme ausbreitete. Eine zweite Einladung brauchte ich nicht. Ich flog förmlich über den Boden, als ich auf ihn zulief. Jeder, der zufällig an meinem Laden vorbeigekommen wäre, hätte zwei Menschen gesehen, die sich liebten. Brad und ich hielten einander umschlungen und küssten uns – und konnten gar nicht wieder aufhören damit.
Als wir uns endlich voneinander lösten, taten wir es nur widerstrebend. „Du hast so recht“, rief ich und strich ihm über das Gesicht, unfähig, die Finger von ihm zu lassen. „Ich habe mich wie ein eifersüchtiger Dummkopf verhalten, und ich habe dich angelogen. Es gibt keinen anderen. Brad, verzeih mir. Es tut mir leid.“
„Mir tut es auch leid – was ich letzte Woche gesagt habe. Ich könnte genauso wenig von dir lassen wie von Alix’ Schokoladen-Eclairs.“
Ich lachte und piekste ihm den Finger in die Rippen. Es war so ein gutes Gefühl, wieder mit ihm zusammen zu sein, deshalb schlang ich die Arme um ihn und hielt ihn ganz fest.
„Es gibt also keinen anderen Mann?“, murmelte er. „Hat es gar nicht gegeben?“
„Nein, keinen. Du bist der Einzige für mich, die Liebe meines Lebens.“
„Für immer?“
Ich sah ihn an. „Das könnte man einrichten“, flüsterte ich.
Er entspannte sich. „Ich habe gehofft, dass du das sagst. Es wird Zeit, Lydia, Zeit für dich und mich. Ich hätte dich fast verloren. Ich liebe dich, habe nie aufgehört, dich zu lieben. Cody liebt dich auch. Chase liebt dich, ich …“
Wieder küsste ich ihn und brachte ihn so zum Schweigen. Er brauchte nichts mehr zu sagen.
Er umarmte mich noch fester. „Heißt das, du willst mich heiraten, Lydia Hoffman?“
„Ja, so ist es.“ Allerdings wollte ich ihn noch einmal darauf hinweisen, auf was er sich einließ. Es wäre möglich, dass ich einen Rückfall erleide. Ich war nicht sicher, ob ich Kinder bekommen könnte oder ob dies überhaupt ratsam wäre. Doch dann sagte ich nichts von allem. Unsere Heirat betraf nicht nur mich – sie betraf Brad, Cody und mich. Chase natürlich auch. Wir würden eine kleine Familie bilden.
„Lydia?“, meldete sich Margaret vorsichtig aus dem Büro.
Ich lächelte meiner Schwester zu. „Wärst du gern meine Trauzeugin?“, fragte ich.
Sie sah zu Brad, dann wieder zu mir. „Ihr heiratet?“
Ich nickte. „Bist du bereit für eine Hochzeit?“
„Darauf kannst du wetten!“, rief sie.
Ich legte den Arm um Brad.
Ich hätte schwören können, dass überall im Laden Feenstaub herumschwebte.