37. KAPITEL

Courtney Pulanski

Courtney hatte schon seit einer Woche nichts mehr von ihrem Vater gehört. Langsam begann sie, sich Sorgen zu machen. Dass er sich so lange nicht bei ihr meldete, sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er mochte vielleicht mal ein oder zwei Tage keine E-Mail an sie schreiben, aber niemals eine Woche. Während Ralph Pulanski, so hieß ihr Vater, sich nicht meldete, flogen die E-Mails zwischen Courtney, ihrer Schwester und ihrem älteren Bruder hin und her. Ihre Geschwister waren genauso besorgt wie sie. Die drei trösteten sich gegenseitig.

Courtney verbarg ihre Ängste vor der Großmutter, so gut sie konnte. Grams strickte in der letzten Zeit eine ganze Menge – um sich zu beruhigen, wie Courtney vermutete. Meist versuchten sie, sich gegenseitig Mut zuzusprechen, etwa mit Sätzen wie „Ich bin sicher, es geht ihm gut“ oder „Vielleicht ist sein Computer kaputt“.

Jason hatte versucht, seinen Vater über die Baufirma zu erreichen, für die er arbeitete. Doch auch dort konnte er nichts Genaues erfahren. Dem Verwaltungsbeamten zufolge, mit dem Jason gesprochen hatte, war die Gegend als sicher eingestuft und es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Die Firma würde versuchen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Mehr konnten sie ihm zu diesem Zeitpunkt nicht versprechen.

Julianna, die inzwischen wieder studierte, rief Courtney an. Sie telefonierten zwanzig Minuten.

„Ich vermisse dich so“, sagte Courtney zu ihrer Schwester und bemühte sich, nicht loszuheulen. Sie presste den Hörer fest ans Ohr, als könne sie so Julianna näher sein.

„Wie geht es in der Schule?“

Sie hatte damit gerechnet, dass ihre Schwester danach fragen würde. „Ganz gut.“ Courtney wollte nicht eingehender über dieses Thema sprechen. Im Moment hatte sie gewichtigere Sorgen als ihre Schwierigkeiten, noch andere Freundinnen zu finden außer Annie Hamlin. Oder das damit zusammenhängende Gefühl von Einsamkeit, das sie häufig bedrückte.

„Erzähl mir nicht so was“, sagte Julianna streng und in einem Tonfall, der so sehr dem ihrer Mutter ähnelte, dass Courtney fast der Atem stehen blieb. „Ich möchte wissen, wie es wirklich aussieht.“

„Schrecklich.“ Das war die Wahrheit. „Ich dachte, wenn ich abnehme, wäre ich sofort beliebt bei allen“, gestand Courtney. „Dass die Jungs mich zum Beispiel nach meiner Telefonnummer fragen, aber so ist es überhaupt nicht.“ Natürlich interessierte sie nur ein bestimmter Junge, und das war Andrew Hamlin. Dummerweise hatte er eine feste Freundin.

Annie meinte, Melanie würde in einer Traumwelt leben und Andrew hätte genauso wenig eine feste Beziehung mit ihr wie mit Britney Spears. Allerdings sah Courtney das anders, schließlich hatte sie die beiden schon einmal miteinander beobachtet.

„Zwölf Kilo sind eine ganze Menge. Ich bin stolz auf dich. Damit geht es dir jetzt besser, oder?“

„Gesundheitlich, meinst du? Ja, ich denke schon.“ Sie fühlte sich viel wohler, jetzt, da die Pfunde runter waren. Sicher war sie auch selbst stolz auf diese Leistung, trotzdem war so vieles nicht eingetroffen, was sie sich erhofft hatte. Eigentlich schien alles genauso wie vorher. Wenn man es richtig betrachtete, hatte sich lediglich die Anzeige auf Grams alter Waage verändert. Na gut, und die Jeans saßen jetzt besser.

„Ruf mich an, wenn du mich brauchst“, sagte Julianna. „Wirklich, Court.“

„Okay. Sag mir Bescheid, wenn du was von Dad hörst.“

„Mach ich“, versprach ihre Schwester.

Courtney war froh über den Anruf ihrer Schwester. Sie wünschte, sie könnten öfter telefonieren. Auch wenn Julianna älter und schon fast seit drei Jahren von zu Hause weg war, pflegte sie ein enges Verhältnis zu ihrem Vater. Viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, hatte Courtney sich nicht viele Gedanken darum gemacht, wie es ihrer Schwester ging.

Am Mittwochmorgen, acht Tage nach der letzten Mail ihres Vaters, fühlte Courtney sich nicht in der Lage, zur Schule zu gehen. Grams meinte, sie würde das verstehen, ermutigte Courtney aber, sich zu überwinden.

„Du wirst nichts ändern können, wenn du den ganzen Tag am Telefon hockst“, erklärte ihre Großmutter völlig zu recht.

Nachdem sie zwei Nächte kaum geschlafen hatte, hoffte Courtney, sich ein wenig ausruhen zu können. Aber es stimmte, was Grams sagte. Sie mochte vielleicht noch nicht viele Freunde gefunden haben, aber es war besser, wenn sie zur Schule ging. Besser, als zu Hause herumzuhängen, zu warten und sich Sorgen zu machen.

Mike, Andrews Freund, holte sie ab, um sie zur Schule mitzunehmen. Courtney gab ihm pro Woche zehn Dollar und wusste es zu schätzen, dass sie nicht mehr den Bus nehmen musste. Das einzige Problem dabei war Mike, der sehr schüchtern zu sein schien. Meistens sagte er kaum ein Wort, weder auf dem Hinweg noch auf dem Rückweg. Anfangs hatte sie versucht, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Aber nachdem er kaum darauf reagiert hatte, gab sie es auf.

Überraschenderweise entdeckte Mike ausgerechnet an diesem Morgen, dass er reden konnte.

„Hast du schon was von deinem Dad gehört?“, fragte er, als sie in seinen fünfzehn Jahre alten Honda stieg.

„Noch nicht.“

„Machst du dir Sorgen?“

„Was meinst du denn?“ Sie wollte nicht sarkastisch werden, aber das war echt die blödeste Frage überhaupt.

„Ich denke, du machst dir Sorgen“, vermutete er.

Courtney schloss die Augen, lehnte sich gegen das Fenster an ihrer Seite und betete, dass eine E-Mail von ihrem Vater da wäre, wenn sie wieder nach Hause kam.

„Hast du dich auf den Englisch-Test vorbereitet?“, fragte er als Nächstes.

Sofort richtete sie sich auf. „Wir schreiben eine Arbeit?“ Bei der ganzen Sorge um ihren Vater hatte sie gar nicht aufgepasst. „In was?“

„Poesie.“

Sie stöhnte. Vielleicht, wenn sie ins Sekretariat ging und erklärte, dass sie die Grippe hätte, würden sie ihr glauben und sie nach Hause gehen lassen.

Nach Hause. Egal wie sehr sie sich bemühte, sie konnte das Haus ihrer Großmutter nicht wirklich als Zuhause bezeichnen. Es war Grams’ Heim, nicht ihres.

Mike parkte, und sie liefen wortlos ins Schulgebäude. Drinnen trennten sich ihre Wege, Mike ging nach links, Courtney nach rechts. Ihr blieben, wenn es hochkam, fünf Minuten, um ihren Gedichtband und die Notizen für Englisch durchzugehen, bevor es klingelte. Dickinson. Whitman. Wer noch?

Sie stand vor ihrem Klassenraum, gegen die Wand gelehnt, und blätterte hektisch die Seiten um.

„Hallo.“ Andrew tauchte neben ihr auf, die Bücher unter den Arm geklemmt.

Vor Schreck hätte sie fast ihre Unterlagen fallen lassen. „Ich wusste nicht, dass wir heute einen Test schreiben“, erklärte sie, die Nase immer noch im Buch, während sie versuchte, so viele Informationen wie möglich aufzunehmen.

„In welchem Fach?“

„Englisch. Poesie. Neunzehntes Jahrhundert in Amerika, denke ich.“

Er schien auch nichts davon zu wissen.

„Mike hat es mir gesagt.“

„Das erklärt alles“, sagte Andrew. „Er ist im regulären Englischkurs, wir sind im Leistungskurs. Mr. Hazelton hat nichts von einem Test erwähnt. Ich glaube nicht einmal, dass wir den gleichen Stoff durchnehmen.“

Sie fühlte sich unendlich erleichtert. „Danke dir, Gott!“, rief sie mit einem Blick zur Decke.

„Und da sagen sie, die Schulgebete gäbe es nicht mehr“, scherzte Andrew.

Sie grinste.

„Wie läuft es bei dir?“, erkundigte er sich.

Courtney zuckte nur die Schultern, weil sie nicht über ihre Sorgen um ihren Vater reden wollte. „Wie geht’s bei dir?“

Was für eine blöde Frage. Das wurde ihr klar, kaum dass sie die Worte ausgesprochen hatte. Andrew war gerade als Mitglied des Komitees für den Homecoming-Ball nominiert worden, genau wie Shelly vorausgesehen hatte. Als erste Cheerleaderin war Melanie ebenso unter den Auserwählten. An dem Nachmittag vor dem großen Spiel würden der König und die Königin von der Schulversammlung gewählt werden. Ginge es nach Shelly würden Melanie und Andrew den Preis bekommen.

„Mir geht’s gut.“ Andrew schien wegen seiner Nominierung nicht besonders aufgeregt zu sein. „Was ist mit deinem Vater?“

„Immer noch verschollen“, platzte Courtney heraus. Sie konnte es nicht länger für sich behalten. „Ich mache mir solche Sorgen! Wenn ihm irgendwas passiert ist, weiß ich nicht, was ich dann machen soll!“ Die Tränen schossen ihr in die Augen, und sie versuchte, es zu verbergen, indem sie nach unten sah.

Zu ihrem Schrecken legte ihr Andrew den Arm um die Schulter. „Hab keine Angst, es wird schon alles gut werden.“

„Nein, wird es nicht!“, rief sie und schluchzte los. „Ich brauche meinen Vater.“ Gerade in der letzten Zeit war er es gewesen, der die Familie zusammengehalten hatte. Sie hatte bereits keine Mutter mehr, und sie könnte es nicht ertragen, auch noch ihren Vater zu verlieren.

„Ich weiß, ich weiß“, murmelte er.

Sie blickte ihn mit tränennassen Augen an, nicht in der Lage, etwas zu sagen.

„Wenn meiner Mutter was zustoßen würde“, fuhr er fort, „ginge es mir genauso wie dir, aber trotzdem. Egal, was passiert, man findet immer einen Weg, um es durchzustehen. Hast du das nicht auch zu Annie gesagt?“

Courtney schniefte und nickte. Sie nahm ein Taschentuch und putzte sich die Nase. Es war ihr peinlich, dass sie sich so hatte gehen lassen. Andrew schien es aber nicht zu stören, und sie tat so, als wäre es ihr auch egal.

„Das war ein guter Rat“, sagte Andrew. „Annie war gerade ziemlich am Boden, als du sie kennengelernt hast. Ich bin froh, dass du dich in demselben Strickkurs wie unsere Mutter angemeldet hast, Annie hat wirklich eine Freundin gebraucht. Obwohl sie immer noch ein paar Probleme hat, geht es ihr inzwischen schon viel besser. Dank deiner Hilfe.“

Courtney war zu überwältigt, um zu antworten.

„Jetzt würde ich gern etwas für dich tun. Vielleicht kann ich dir bei der Suche nach deinem Vater helfen. Meinst du, es wäre in Ordnung, wenn ich nach dem Football zu euch käme?“

Es kostete sie eine Menge Anstrengung, lediglich zu nicken. Das letzte Klingeln zum Unterricht ertönte.

„Ich muss los“, sagte Andrew. „Bis später.“ Dann rannte er den Flur hinunter.

Courtney ging in ihr Klassenzimmer und wunderte sich darüber, wie eine einzelne Person in so kurzer Zeit so viele unterschiedliche Gefühle durchleben konnte.

Sobald Mike sie nach der Schule vor Grams’ Haus abgesetzt hatte, raste Courtney die Treppe hoch und loggte sich ins Internet ein.

„Irgendwelche Nachrichten?“, rief ihre Großmutter von unten.

Ihr sank das Herz, als sie ihren Posteingang durchging. Nichts von ihrem Vater. „Nein!“, rief sie entmutigt zurück.

Das Telefon klingelte. Normalerweise nahm Courtney ab, aber sie war nicht in der Stimmung, mit irgendjemandem zu reden. Nicht mal mit Andrew. Auch wenn sie so was gesagt hatte, von wegen man findet immer einen Weg, um alles durchzustehen, glaubte sie nicht, dass sie den Verlust ihres Vaters aushalten würde. Sie könnte den Schmerz nicht ertragen. Es würde nicht genug Schokoladenplätzchen oder Wollknäuel oder tröstende Worte geben, um sie das überstehen zu lassen.

„Ja, ja, natürlich, ich hole sie sofort“, hörte sie ihre Großmutter sagen. „Courtney, Telefon!“, rief sie laut, obwohl Courtney schon die Treppe herunterkam. „Da möchte jemand mit dir sprechen.“ Lächelnd hielt sie ihr den Hörer hin.

In dem Moment, als Courtney die Stimme ihres Vaters hörte, kamen ihr vor Erleichterung die Tränen. Die Verbindung war nicht gerade die beste, als ihr Vater schilderte, wie er im Dschungel festgesessen hatte, ohne eine Möglichkeit, sich mit seinen Kindern in Verbindung zu setzen. Während der Vermessung war sein Team in einen sintflutartigen Regen geraten, doch jetzt befand er sich in Sicherheit. Es tat ihm leid, dass er seiner Familie solche Sorgen bereitet hatte. Irgendwann war die Verbindung so schlecht, dass Courtney sich schweren Herzens von ihrem Vater verabschiedete und auflegte.

Die Tränen waren auf ihrer Wange noch nicht ganz getrocknet, als Andrew kam. Courtney telefonierte gerade mit Julianna, nachdem sie das Gespräch mit Jason beendet hatte.

„Ich habe Besuch und muss jetzt auflegen“, erklärte sie ihrer Schwester und blickte verstohlen zu Andrew. Er stand unbeholfen im Wohnzimmer, während ihre Großmutter ein großes Theater um ihn veranstaltete.

„Junge oder Mädchen?“, wollte Julianna wissen.

„Ein J“, murmelte sie.

„Andrew?“

„Ja“, zischte sie. Ihr war klar, dass sie ihrer Schwester mehr erzählt hatte, als sie sollte.

„Dann leg den Hörer auf und unterhalte deinen Besuch“, sage Julianna lachend.

Grams war eine sehr aufmerksame Gastgeberin. Sie ließ Andrew auf dem Sofa Platz nehmen und plauderte mit ihm, als wäre er ein alter Freund der Familie.

Courtney betrat zögernd das Wohnzimmer, und Grams lächelte ihr zu. „Ich habe Andrew gerade erzählt, dass du endlich eine Nachricht von deinem Vater bekommen hast.“

„Ich habe gerade mit meiner Schwester gesprochen.“ Verlegen zeigte sie auf das altertümliche schwarze Telefon am Fuß der Treppe.

„Ist das der junge Mann, den du erwähnt hast?“, erkundigte sich Grams mit gesenkter Stimme, so als könne Andrew es nicht mithören. „Derjenige, für den du die Socken strickst?“

Courtney wünschte, sie könnte mit dem Finger schnipsen und sich in Luft auflösen, so wie die Hexe in der alten Fernsehserie, die Grams sich manchmal ansah. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, und sie warf ihrer Großmutter einen bösen Blick zu.

„Sie hat schon ein sehr schönes Paar für ihren Vater gestrickt“, gab Vera Pulanski zum Besten. „In Marineblau, aber die neuen jetzt sind grün und …“ Sie blickte Courtney entsetzt an. „Ach herrje, sollte das eine Überraschung werden?“ Mit ungewohnter Hast sprang sie auf und eilte in die Küche.

Andrew stand auf und sah Courtney an. „Du strickst Socken für mich?“

Courtney nickte. „Ich bin gerade dabei, den Hacken beim zweiten zu stricken. Sie sind fast fertig.“

„So was Cooles hat ja noch keiner für mich getan. Das ist echt … süß.“

Süß. Er fand sie süß. Das war ja das Letzte, was Courtney sich wünschte.