12. KAPITEL
Bethanne Hamlin
Bethannes Treffen mit Grant lag bereits eine Woche zurück. Doch sie war immer noch so wütend, dass sie keine einzige Nacht danach richtig geschlafen hatte. Dieser egoistische Mistkerl weigerte sich, dreihundert Dollar für seinen Sohn auszugeben. Sie kannte den Grund. Grant besaß nicht den Mut, es auszusprechen, aber sie wusste Bescheid.
Er zahlte es ihm heim. Als Grant das Haus verlassen hatte und mit Tiffany zusammengezogen war, hatte der damals Sechzehnjährige seinen Vater zur Rede gestellt und ihm ganz genau erklärt, was er von seinem Verhalten hielt. Grant hatte die Offenheit seines Sohnes nicht gerade gefallen, und ihre Beziehung war seitdem ziemlich angespannt.
„Ist alles in Ordnung, Mom?“, erkundigte sich Annie, als sie in die Küche kam.
„Sicher doch“, erwiderte sie schnippisch, dann lächelte sie entschuldigend. „Tut mir leid. Ich war gerade in Gedanken.“
Annie ließ sich neben Bethanne, die mit einer Tasse Tee am Tisch saß, auf einen Küchenstuhl fallen. „Hast du an Dad gedacht?“
Sie versuchte nicht, es abzustreiten. „Er geht mir in letzter Zeit öfter durch den Kopf.“
„Mir auch“, gestand Annie. „Ich kann es nicht fassen, dass er immer noch mit der zusammen ist.“
Annie nannte Tiffany nie beim Namen. Es war immer „die“ oder „diese Hexe“. Die Beziehung zwischen Grant und ihrer Tochter war kompliziert. Annie liebte ihren Vater und hatte früher ein enges Verhältnis zu ihm gehabt. Sie wünschte sich, dass es wieder so wäre, doch sie fühlte sich verletzt und betrogen. Außerdem war sie sich nicht sicher, wie er zu ihr stand. Grant kümmerte sich nicht besonders um sie und erwartete, dass sie sich bei ihm meldete, was sie ab und zu auch tat. Doch die größte Wut richtete Annie auf Tiffany, da sie der Meinung war, die andere Frau hätte ihnen Grant weggenommen. Bethanne nahm diesen Hass nicht auf die leichte Schulter, besonders nachdem sie Annies Tagebuch durchgeblättert hatte. Aber sie wusste auch nicht, was sie unternehmen sollte. Sie hoffte nur, dass ihre Tochter ihre Verbitterung irgendwann überwinden würde.
Gerade in solchen Zeiten vermisste Bethanne ihre Mutter am meisten. Martha Gibson war in dem Jahr, als Annie geboren wurde, plötzlich an einem Schlaganfall gestorben. Bethannes Vater hatte seitdem körperlich und seelisch stark abgebaut. Er lebte in einem Alterssitz in Arizona, und sie war diejenige, die dafür sorgen musste, dass der Kontakt zwischen ihnen nicht abbrach.
„Ich glaube, die werden heiraten“, murmelte Annie so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
„Tatsächlich?“ Bethanne versuchte, nicht allzu interessiert zu klingen, doch in ihrem Kopf drehte sich alles. Wenn es jemanden in der Familie gab, der von Grants Heiratsplänen erfahren konnte, dann war es Annie. Er redete nicht viel mit seiner Tochter, aber auf jeden Fall immer noch mehr als mit Andrew oder Bethanne. Heiraten. Das erklärte, warum ihr Ex so knauserig war. Sie würde jeden noch verbliebenen Cent von ihrem Konto verwetten, dass er Tiffany einen riesigen Diamanten zur Hochzeit kaufen wollte und die Flitterwochen plante. Wenigstens würde Tiffany ein Schmuckstück bekommen. Für Bethanne hatte es nichts dergleichen gegeben. Sie hatten noch während ihrer College-Zeit geheiratet, und es war gerade noch genug Geld für die Hochzeitsnacht in einem Drei-Sterne-Hotel an der Küste von Oregon übrig geblieben. Am Montagmorgen waren sie beide wieder an der Uni erschienen.
„Ich hasse diese Hexe, Mom. Okay, du hast gesagt, das wäre nicht richtig, aber ich kann nicht anders. Wenn es die nicht gäbe, würde Dad noch bei uns wohnen, und alles wäre wie immer.“ Annie schluckte, weil ihr die Stimme versagte.
„Ich verstehe dich“, flüsterte Bethanne und unterdrückte ihre eigene Wut, „aber wenn sie es nicht gewesen wäre, dann wahrscheinlich jemand anders.“
Diese Einsicht war während der Scheidungsverhandlung wie eine kleine Erleuchtung für Bethanne gewesen. Ihr Anwalt war die Vereinbarungen durchgegangen, und sie hatte sich um Konzentration bemühen müssen, als es ihr plötzlich dämmerte. Es war nicht ihre Schuld. Sie war eine gute Ehefrau und Mutter gewesen. Immer liebevoll und treu. Nicht ein Mal in den zwanzig Jahren ihrer Ehe hatte sie auch nur daran gedacht, Grant zu betrügen. Ihr ganzes Leben war auf die Familie ausgerichtet gewesen. Ohne jeden Groll oder sich zu beschweren hatte sie ihrem Mann das Essen gekocht, sein Heim sauber gehalten und seine Kinder aufgezogen. Sie war die Gastgeberin für seine legendären Partys gewesen.
Vor allem ihr riesiges Weihnachtsfest, die Super-Bowl-Party und das Fest zum Vierten Juli waren bei ihren Freunden beliebt gewesen, und Grant hatte es gefallen, den Gastgeber zu spielen. Es war unwichtig, dass sie die ganze Arbeit getan hatte. Sie waren ein Team.
Nein, man konnte sie nicht dafür verantwortlich machen, dass ihr Leben zerstört worden war. Sie weigerte sich, deshalb Schuldgefühle zu haben. An jenem Tag im Anwaltsbüro war ihr zum ersten Mal richtig bewusst geworden, was Grant getan hatte. Ihr die Schuld zu geben war Grants Art, seine Untreue zu begründen und sein Versagen als Ehemann und Vater zu rechtfertigen. Offensichtlich konnte er so sein Gewissen erleichtern, indem er die Wirklichkeit verdrängte. Eine Zeit lang hatte sie sich verantwortlich dafür gefühlt, war überzeugt davon gewesen, dass sie versagt haben musste. Er wollte ihr einreden, dass sie sich so stark auf die Kinder konzentriert hatte, dass sie ihn vernachlässigte. Das stimmte nicht, und sie würde diesen grausamen Anklagen, die sie ständig im Hinterkopf gehabt hatte, nicht mehr zuhören. Die Stimmen, die immer wieder …
„Mom … Mom“, sagte Annie und griff über den Tisch hinweg nach ihrem Arm. „Du bist abgedriftet.“
„Oh, tut mir leid.“
„Wie war der Strickkurs?“, versuchte ihre Tochter sie auf andere Gedanken zu bringen.
„Wirklich großartig.“ Die zweite Unterrichtsstunde war viel besser gewesen als die erste. Gleich nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten, entschuldigte sich Elise für, wie sie es ausdrückte, ihre „Wunderlichkeit“ eine Woche zuvor. Sie hätte schlechte Nachrichten erhalten und keine Zeit gehabt, diese vor dem Kurs zu verarbeiten, erklärte sie. Ihr täte es sehr leid, wenn sie jemanden beleidigt haben sollte.
Bethanne selbst hatte ebenfalls etwas zu beichten. Sie berichtete den anderen, warum sie beim ersten Mal so angespannt gewesen war – dass sie gehofft hatte, die Anmeldung wieder rückgängig machen zu können, da sie es bereute, Geld dafür ausgegeben zu haben. Das war inzwischen anders. Zwar machte sie sich immer noch Sorgen um die vielen Kosten, doch Annie hatte recht; sie musste auch etwas für sich tun. Sich mit etwas völlig Neuem beschäftigen, das mit ihrem bisherigen Leben überhaupt nichts zu tun hatte.
Sogar Courtney schien besserer Laune zu sein. Sie verkündete stolz, ein Kilo abgenommen zu haben. Zuerst hatte Bethanne verstanden, der Teenager hätte beim Stricken an Gewicht verloren, was sie sehr ulkig fand, doch dann hatte Courtney erklärt, das Stricken hätte sie daran gehindert, ständig in die Küche zu gehen.
Die zweistündige Sitzung war schnell vergangen, Bethanne hatte sich danach sehr gut gefühlt und war jetzt froh, dass sie doch mitgemacht hatte. Mit den Socken kam sie gut voran – jedenfalls mit dem ersten davon –, und auch die Gesellschaft der anderen drei Frauen empfand sie inzwischen als angenehm.
„Ich wusste, dass es dir gefallen würde“, sagte Annie mit einem triumphierenden Leuchten in den Augen.
Als das Telefon klingelte, sprang Annie sofort auf, um das Gespräch anzunehmen. „Hallo.“
Ihr Blick wanderte zu Bethanne.
„Ja, sie ist hier.“ Sie drückte den Hörer an ihren Bauch. „Es ist für dich.“ Sie zögerte, bevor sie flüsterte: „Ein Mann.“
Bethanne verdrehte die Augen. „Das ist wahrscheinlich der Angestellte von der Bank, der mir sagen will, dass ich mein Konto wieder überzogen habe.“ Es war ihr bereits zweimal passiert, eine fürchterlich peinliche Angelegenheit.
Annie reichte ihr den Hörer.
„Bethanne Hamlin“, sagte sie und versuchte dabei, souverän und professionell zu klingen. Nach ihrer Berechnung sollte sie eigentlich noch fünfzig Dollar zur Verfügung haben. Doch seit sie ihr Konto eröffnet hatte, war es ihr bisher nie gelungen, den Überblick zu behalten. Mathematik war noch nie ihre Stärke gewesen.
„Bethanne, hier ist Paul Ormond.“
Ihr stockte der Atem. Paul war Tiffanys Exmann. Tiffany hatte zur selben Zeit die Scheidung eingereicht wie Grant. Offensichtlich hatten sie sich dabei abgesprochen, und Bethanne konnte sich vorstellen, wie die beiden zum Gericht geschlendert waren, Händchen gehalten und gelacht hatten. Paul und Bethanne waren die betrogenen Partner, die Zurückgelassenen, die Leidtragenden dieser Affäre.
„Hallo Paul“, sagte sie zögernd. Sie hatte ihn nur einmal kurz getroffen, doch ein paarmal überlegt, ihn anzurufen. Um ihn zu fragen, ob er über diese Verbindung informiert gewesen war, bevor seine Frau es ihm gesagt hatte. Hatte sie es ihm auch am Valentinstag gestanden, so wie Grant? Letztendlich war es Bethanne dann aber egal gewesen.
„Ich dachte, wir könnten uns vielleicht mal unterhalten“, schlug Paul vor.
„Sicher. Ich meine, das wäre in Ordnung“, erwiderte sie misstrauisch.
Schweigen folgte.
„Meinen Sie jetzt?“, erkundigte sich Bethanne.
„Nein“, kam die Antwort sofort. „Wie wäre es heute Nachmittag? Nach fünf?“
„Okay.“ Bethannes Terminkalender war leer. Während der Scheidung hatten sich ihre Freunde sehr um sie bemüht und sie unterstützt. Sie hatten sie jedoch nicht mehr zu sich eingeladen. Die meisten Treffen in diesen Kreisen fanden zwischen Paaren statt, und als neuerdings alleinstehende Frau – als unfreiwillig alleinstehende Frau – war sie zur Außenseiterin geworden. Außerdem nahm sie an, dass Tiffany bei diesen Abendessen und Partys jetzt ihren Platz einnahm. Gerade jetzt, da sie ihre Freunde am meisten brauchte, zogen sie sich zurück.
„Würden Sie mit mir zu Abend essen? Ich lade Sie ein.“ Er klang unsicher, als erwarte er, dass sie ablehnte.
„Das wäre nett“, sagte sie spontan. „Wo sollen wir uns treffen?“
„Im Anthony’s, sagen wir um sechs? Ich werde Plätze reservieren lassen.“
Das Lokal war nicht weit vom Pike Place Market entfernt und in der Gegend als eins der besten Restaurants für Meeresfrüchte bekannt.
Bethanne bedankte sich und legte den Hörer auf, erfreut und verwirrt zugleich. Dies war kein Date im eigentlichen Sinne. Doch war es immerhin ihre erste Verabredung mit einem Mann nach zweiundzwanzig Jahren.
„Wer war das?“, wollte Annie wissen.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund zögerte Bethanne, es ihr zu erklären. „Ein alter Bekannter“, sagte sie schließlich.
„Und er will sich mit dir treffen?“, fragte ihre Tochter, als wäre das unvorstellbar.
„Meinst du, ich hätte nicht zusagen sollen?“ Bethanne überlegte sofort, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, auf Pauls Einladung einzugehen.
Annie zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Warum fragst du mich das? Wer ist denn hier die Erwachsene?“
„Da hast du recht. Ich bin die Erwachsene und treffe mich mit … einem alten Bekannten.“
Als es Zeit wurde aufzubrechen, waren Annie und Andrew ausgeflogen. Deshalb hinterließ Bethanne eine Nachricht auf dem Küchentresen, so wie es ihre Kinder auch immer taten.
Sie musste in der Innenstadt irgendwo eine Parklücke finden, denn die Preise für Parkhäuser konnte sie sich nicht leisten. Glücklicherweise fand sie eine nur drei kurze Häuserblocks vom Restaurant entfernt. Als sie auf das „Anthony’s“ zulief, stand Paul Ormond bereits draußen vor der Tür und wartete. Er winkte ihr zu.
Sie schätzte Paul auf ungefähr Mitte dreißig. Er hatte dunkles Haar, braune Augen, ein freundliches Gesicht und einen leichten Bauchansatz. Wenn sie sich richtig erinnerte, arbeitete er in der City bei einer internationalen Versandfirma. Er trug Anzug und Krawatte. Sie war überrascht, dass die wundervolle Tiffany einen so mittelmäßig aussehenden Mann geheiratet hatte. Sie schätzte „Tiff“, wie ihr Ex seine Neue nannte, als eine sehr eitle Frau ein, für die das Erscheinungsbild ihres Mannes fast so wichtig war wie ihr eigenes.
„Danke, dass Sie gekommen sind.“ Paul öffnete die Tür zum Restaurant. Als er an den Tresen ging und der Kellnerin seinen Namen sagte, wurden sie sofort an ihren Tisch geführt.
Sie bestellten beide ein Glas Wein, und Paul blickte aus dem Fenster hinaus zur Bucht. „Sie werden sich bestimmt fragen, warum ich Sie angerufen habe“, begann er nach einer Weile. Komischerweise hatte sich Bethanne nicht unwohl gefühlt und auch nicht wie sonst den Drang verspürt, das Schweigen mit Small Talk zu unterbrechen.
Sie nickte. „Ich bin schon neugierig. Die Scheidungen sind jetzt schon ziemlich lange rechtsgültig.“
„So fühlt es sich aber für mich nicht an.“
„Für mich auch nicht“, gestand sie. „Ich …“ Sie wollte ihm erzählen, dass Grant sich weigerte, für Andrews Footballcamp zu bezahlen. Es ist nicht wichtig, sagte sie sich. Es ist wirklich nicht wichtig.
„Wann haben Sie von der Affäre erfahren?“, wollte er wissen.
Sie schämte sich, ihm die Wahrheit zu gestehen. „Erst als Grant es mir erzählte. Sie kennen ja den Spruch, die Ehefrau wäre immer die Letzte, die es bemerken würde. Wie war das bei Ihnen?“
„Ich wusste es fast von Anfang an“, erwiderte er. „Aber ich wollte es nicht wahrhaben.“
„Wie lange waren Sie mit Tiffany verheiratet?“
„Sechs Jahre. Zumindest vier davon waren gut. Dann traf sie Grant.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, im Grunde wusste ich, was los ist, als sie erklärte, noch keine Familie gründen zu wollen.“
Bethanne hatte von Grant erfahren, dass es auf der anderen Seite keine Kinder gab. Das Ganze war ohnehin schon schlimm genug, ohne auch noch die Gefühle von noch mehr Kindern zu verletzen.
Sie nahm hastig einen Schluck von ihrem Chardonnay, dann noch einen. „Annie hat heute Nachmittag gesagt, dass die beiden wahrscheinlich heiraten.“
Paul zog die Augenbrauen hoch. „Das ist wohl anzunehmen.“
Obwohl ihr bei diesem Gesprächsthema der Appetit vergangen war, schlug sie die Speisekarte auf. „Ich weiß nicht, ob ich jemals darüber hinwegkommen werde“, flüsterte sie.
„Sagen Sie so was nicht“, bat er. „Ich hatte gehofft, dass für Sie alles besser ist.“
„Es ist besser“, behauptete sie forsch. „Nur … es fühlt sich noch nicht so an.“ Nachdem das Alleinsein all die Monate so sehr wehgetan hatte, konnte sie sich kaum vorstellen, dass der Schmerz irgendwann einmal vorbeigehen würde.
„Ihr Mann und meine Frau haben uns betrogen“, sagte er plötzlich ärgerlich. „Warum sind wir diejenigen, die leiden?“
Tatsächlich war es unfair. Sie war es, die verletzt worden war; Paul ebenfalls. Während Grant und Tiffany sich ihrer Verantwortung entzogen hatten und womöglich jeden Abend feierten, musste sich Bethanne um die Kinder kümmern, deren Zukunft auf dem Spiel stand, ein altersschwaches Haus erhalten und mehr Kummer ertragen, als eine einzelne Person auf die Dauer aushalten konnte.
„Ich habe mir gesagt, sie müssen mit dem, was sie getan haben, leben“, sagte Paul, „aber das ist ein schwacher Trost.“
„Es ist gar kein Trost.“
Er schlug ebenfalls seine Speisekarte auf. „Ich dachte …“
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn wir von etwas anderem reden?“, unterbrach ihn Bethanne plötzlich. „Wir müssen beide mit unserem Leben weitermachen. Lassen Sie uns jetzt bestellen, ja?“
Er nickte. „Haben Sie sich schon was ausgesucht?“
„Nur einen Appetithappen. Den geräucherten Lachs, denke ich. Und vielleicht eine leichte Suppe mit Meeresfrüchten.“
Er rief den Ober, und sie bestellten. Paul nahm ebenfalls die Suppe und eine kleine Portion Pasta mit Meeresfrüchten. „Und? Tun Sie das?“, fragte er dann. „Ich meine, machen Sie weiter mit Ihrem Leben?“
„Ich versuche es jedenfalls.“
„Wie?“ Als sie ihn erschrocken ansah, fügte er hinzu: „Der Grund, warum ich das wissen will, ist, weil ich Hilfe brauche. Ich hatte wohl gehofft, dass es Ihnen besser als mir ginge und Sie mir ein paar weise Ratschläge erteilen könnten.“
„Ich … ich mache einen Strickkurs.“
Paul grinste, und dabei sah er auf eine jungenhafte Art gut aus. „Ich glaube, das ist mehr etwas für Frauen.“
„Eine Menge Männer stricken auch.“
„Tatsächlich?“
Sie zuckte die Schultern. „Das habe ich jedenfalls gehört.“
„Ich habe mit Golfspielen angefangen. Aber bisher kriege ich den Dreh nicht so richtig raus.“
Wieder herrschte Schweigen, während sie sich auf ihre Suppe konzentrierten, die inzwischen gebracht worden war. Beide murmelten vor sich hin, wie gut es schmeckte. Es war tatsächlich köstlich, und Bethanne versuchte automatisch, die Zutaten herauszufinden. So wie sie es während ihrer Ehe immer getan hatte, um das jeweilige Gericht später für Grant nachzukochen. Überraschenderweise fühlte sie sich dabei eher besser statt schlechter, als hätte sie auf einmal wieder einen kleinen Teil der Frau in sich entdeckt, die sie einst gewesen war.
Sie kostete ihren geräucherten Lachs. Gut, doch sie hätte ihn nicht mit dieser Currymayonnaise serviert. Zu viele unterschiedliche Geschmacksrichtungen.
Zeit, sich erneut der Unterhaltung zu widmen. „Haben Sie sich inzwischen wieder mit jemandem getroffen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein. Sie?“
Lächelnd zeigte sie auf ihn. „Sie sind meine erste Verabredung zum Dinner seit zweiundzwanzig Jahren.“
„Sie sind mein erstes Date seit sieben.“
„Ist das ein Grund zum Feiern?“
Er lachte. „Ich glaube schon.“ Er gab dem Kellner ein Zeichen, und sie bestellten jeder ein zweites Glas Wein.
Paul mochte nicht der attraktivste Mann sein, den sie jemals getroffen hatte, vor allem im Vergleich zu Grant. Doch Bethanne gefiel es, wie ungekünstelt, großherzig und einfühlsam er war. Obwohl er genauso litt wie sie, drückte er sein ehrliches Bedauern darüber aus, dass seine Exfrau ihre Familie zerstört hatte.
„Kann ich irgendetwas für Sie tun?“, erkundigte er sich, als sie das Restaurant verließen.
Es gab nur eins, was sie sich sehnlichst wünschte. Eine Arbeit. „Wüssten Sie vielleicht jemanden, der einen Job für mich hat?“
„Welcher Art?“
Sie seufzte. „Im Moment würde ich alles tun.“
„Kennen Sie sich mit Computern aus?“
„Na ja …“ Tatsächlich hatte sie nicht viel Ahnung. Sie konnte zwar ein wenig mit dem Internet umgehen, aber meist hatten ihre Kinder ihr alles gezeigt. Sie wusste einigermaßen über die Funktionen der Textverarbeitung Bescheid, war jedoch verloren, wenn es etwas komplizierter wurde.
„Vielleicht sollten Sie einen Kurs machen“, schlug Paul vor.
Er hatte recht, doch der Gedanke gefiel ihr überhaupt nicht. Sich nach so langer Zeit wieder einen Job zu suchen, war fast genauso aufreibend wie die Scheidung.
Paul bestand darauf, sie zu ihrem Auto zu begleiten. „Ich habe den Abend wirklich genossen, Bethanne. Vielen Dank.“
„Ich danke Ihnen.“ Sie gaben sich die Hand. „Wenn Sie mal mit jemandem reden möchten, rufen Sie mich ruhig an.“
Er sah sie erstaunt an. „Das würde Sie nicht stören?“
„Kein bisschen.“
Auf dem Nachhauseweg hörte sie Radio. Es war fast zehn, als sie die Auffahrt hochfuhr. Sie hatte das Haus noch nicht erreicht, da flog die Vordertür auf, und ihre Kinder empfingen sie mit verärgertem Gesichtsausdruck.
„Wo warst du denn?“, wollte Annie wissen.
„Wir haben uns große Sorgen gemacht“, sagte Andrew.
Sie starrte die beiden erstaunt an. „Ich entschuldige mich vielmals! Annie, ich habe dir doch erzählt, dass ich mich mit einem alten Bekannten treffe.“
„Aber du hast nicht gesagt, dass es so spät wird!“
„Wir haben uns unterhalten und … die Zeit verging“, verteidigte sich Bethanne automatisch.
„Ich kann es nicht fassen, dass du so was machst“, murrte Andrew.
„Was denn?“
„Nachdem du uns ständig in den Ohren liegst, dass du wissen willst, wo und mit wem wir zusammen sind, uns so warten zu lassen.“ Andrew schüttelte den Kopf.
„Das ist einfach nicht in Ordnung“, fügte Annie hinzu.
„Könntet ihr mich bitte reinlassen?“ Als sie zur Seite gingen, sagte sie: „Ich habe euch eine Nachricht hinterlegt.“
„Das stimmt. Aber du hast uns nicht gesagt, wie der Typ heißt und wo ihr hingeht. Ich kann mir nicht helfen“, versuchte Andrew zu erklären, „aber ich finde es nicht okay, dass meine Mutter zu einem Date geht.“
„Wir sollten vielleicht nicht so viel Aufhebens machen“, sagte Annie jetzt ein wenig nachdenklicher. „Aber es fühlt sich nicht richtig an.“
„Für mich auch nicht“, stimmte ihr Bethanne zu. „Aber das ist nun mal meine neue Situation.“ Zum ersten Mal konnte sie diese unangenehmen Worte aussprechen, ohne zusammenzuzucken.
„Wir müssen uns also an so was gewöhnen?“, fragte Andrew.
Bethanne nickte. Ihre Kinder brauchten sich keine Sorgen zu machen; sie würde weiterhin ihr Fels, ihre Sicherheit bleiben. Ihre Mutter eben. Das würde sich nicht ändern, egal was ihr Vater tat.