2. KAPITEL

Elise Beaumont

Die Pensionierung sorgte für all das, was Elise Beaumont sich erhofft und was sie befürchtet hatte. Die Weckfunktion an ihrem Radiowecker blieb nun ständig ausgeschaltet. Sie wachte auf, wenn ihr Körper signalisierte, dass er keinen Schlaf mehr benötigte. Aß, wenn sie hungrig war, und nicht, wenn die Schulbibliothek wollte, dass sie ihre Mittagspause machte.

Dann gab es da aber noch die negativen Seiten. Jahrelang hatte sie geknausert und gespart, um ihr eigenes Haus auf ihrem kleinen Stück Land bauen zu können. Nach monatelangem Suchen und vielen Wochen, in denen sie verschiedene Projekte begutachtet hatte, fand sie eines, das genau ihren Wünschen entsprach. Es befand sich am Stadtrand, und auch ohne Blick auf den Ozean war es wunderschön, denn es lag in der Nähe eines Nadelwaldes. Sie stellte sich vor, wie sie am frühen Morgen auf ihrer kleinen Terrasse Kaffee trank und das Wild beobachtete, wenn es zwischen den Bäumen erschien. Sie plünderte ihr Bausparkonto und legte eine große Summe Bares vor. Dabei ging sie davon aus, dass der Bauplaner zuverlässig sei, aber das stellte sich als Irrtum heraus. Zusammen mit vielen anderen wurde sie betrogen und ausgenommen. Innerhalb eines Monats erklärte die Baufirma den Bankrott. Mit dem Resultat, dass sie kein Haus ihr Eigen nennen konnte, sämtliche Ersparnisse los war und eine Menge Rechnungen zu begleichen hatte. Es war ein Albtraum ohne Ende.

Während sie im Bett lag, dachte sie daran, dass sie schon seit Jahren einmal reisen wollte. Aus dem Gebiet hinaus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Nur, jetzt konnte sie sich das nicht mehr leisten. Doch zum ersten Mal seit ihrer Kindheit verspürte sie den Drang, ihrer kreativen Ader zu folgen. Sie hatte vor, wieder zu stricken und Unterricht in Ölmalerei zu nehmen. Nachdem sie ihr ganzes Leben inmitten von Büchern verbracht hatte, spielte sie mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben. Vielleicht eine Kindergeschichte … Sie war sozusagen offen und frei, alles zu probieren – sobald erst mal der Prozess gegen den Bauunternehmer abgeschlossen wäre. Bis dahin konnte sie an nichts anderes denken als an ihre finanzielle Misere und die juristische Auseinandersetzung, die vor ihr lag.

Ihr Leben schien auf Eis gelegt, bis sie diesen Ärger hinter sich hatte. Im Moment musste sie sich in Geduld üben, während die Anwälte die Unterlagen zusammensuchten und die Klage auf den üblichen Weg durch die Rechtsmühlen geschickt wurde. Im besten Fall würde es ein Jahr dauern, bis sie und die anderen überhaupt einen Teil ihres Geldes wiederbekämen. Falls das überhaupt jemals der Fall sein würde. Das war die große Frage. Sie konnte nichts weiter tun, als zu beten und zu hoffen, dass nicht alles verloren wäre.

Die Probleme mit der Baufirma bildeten nur einen Teil ihrer Schwierigkeiten. Mit der Aussicht darauf, dass ihr Haus rechtzeitig fertig würde, hatte sie den Mietvertrag für ihr Apartment gekündigt. Das war ihr erster Fehler gewesen. Wohnungen fand man in Seattle nicht so leicht. Es würde nicht nur schwierig werden, eine neue Bleibe zu mieten, sondern ihr graute davor, den größten Teil ihrer Rente für ein überteuertes Apartment auszugeben. Als ihre Tochter ihr vorschlug, zu ihr zu ziehen, nahm Elise dieses Angebot gern an. Nur für eine Übergangszeit, hatte sie sich geschworen. Doch inzwischen waren es bereits sechs Monate …

Nein – Elise weigerte sich, noch eine einzige Sekunde länger über ihr finanzielles Fiasko nachzudenken. Es deprimierte sie nur. Durch ihren Eifer, ein eigenes Heim zu bekommen, hatte sie praktisch alles verloren. Wenigstens war sie körperlich und geistig gesund, hatte ihre Tochter und die Enkelkinder.

„Oma, Oma!“, rief der sechsjährige John, während er wild gegen ihre Schlafzimmertür klopfte. „Bist du wach? Ich will reinkommen, darf ich?“

Elise stand auf und öffnete die Tür. Ihr sommersprossiger Enkel stand davor und grinste sie verschmitzt an. Sein volles karottenrotes Haar stand nach allen Seiten ab, genauso wie Mavericks früher. Die Haarfarbe ihres jüngsten Enkelkindes erinnerte sie oft an ihren Exmann. Sie hatte ihn in den vergangenen dreißig Jahren immer nur für kurze Zeit gesehen. Wie sie es jemals fertiggebracht hatte, einen Spielsüchtigen zu treffen, ganz zu schweigen davon, ihn zu heiraten, konnte sie sich immer noch nicht erklären. Ihre Liebesbeziehung war die wilde, impulsive Geschichte ihres Lebens.

Aber … wie hatte sie ihn geliebt. Sie war Hals über Kopf in diesen Mann verknallt gewesen. Nur Wochen nachdem sie sich kennengelernt hatten – ausgerechnet in einem Lebensmittelladen –, waren sie verheiratet gewesen. Kurz darauf wurde Aurora geboren, doch die Probleme hatten bereits angefangen. Zu jener Zeit arbeitete Marvin „Maverick“ Beaumont für eine Versicherungsfirma, doch er war abhängig von Kartenspiel und Wetten. Das hätte sie fast beide kaputtgemacht. Letztendlich wusste Elise, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als ihn zu verlassen. Immer, wenn sie ankündigte, die Scheidung einzureichen, bat er sie, es sich noch einmal zu überlegen. Er flehte sie an, ihm noch eine Chance zu geben. Doch dann verlief sein so genannter Besserungsversuch jedes Mal nach dem gleichen Muster. Bis ihr klar wurde, dass sie ihn aus ihrem Leben ausschließen musste. Es tat immer noch weh. Nie hatte sie einen Mann so sehr geliebt wie Maverick. Sie hatte es versucht, doch keiner konnte solche intensiven Gefühle in ihr hervorrufen wie er.

In der Hoffnung, noch einmal zu heiraten, hatte sie sich ernsthaft bemüht, wieder am sozialen Leben teilzunehmen. Am nächsten war sie diesem Ziel gekommen, als Aurora fünfzehn wurde. Doch Elise fand heraus, dass Jules, ein Orchestermusiker, mit dem sie sich traf, in San Francisco eine Frau und zwei Töchter hatte. Völlig verzweifelt war sie seitdem nicht mehr dazu bereit, sich auf eine Beziehung einzulassen.

Mit beunruhigtem Gesichtsausdruck kam Elises Tochter um die Ecke. „John, ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Großmutter in Ruhe lassen“, schimpfte sie, während sie ihn am Arm packte und von der Tür wegzog. „Tut mir leid, Mom, ich habe den beiden gesagt, sie sollen dich heute ausschlafen lassen“, fügte sie mit einem entschuldigenden Blick hinzu.

„Ist schon in Ordnung, ich war bereits wach.“ Mit ihrer Tochter zusammenzuwohnen – einer Mutter, die keinen Beruf ausübte, sondern zu Hause blieb – gehörte nicht unbedingt zu Elises Traumvorstellung für ihr Rentnerdasein. Doch im Moment passte ihnen beiden dieses Arrangement. Elises Möbel befanden sich in einem Lagerraum, und ihre Wohnsituation war improvisiert. Aber sie hatte ein Dach über dem Kopf.

Solange sie darauf wartete, dass ihre Klage vor Gericht zum Abschluss kam, wohnte sie bei Aurora und David zur Miete. Die beiden hatten darauf bestanden, dass sie nicht so viel zahlte, doch ihr Beitrag stellte für das knappe Familienbudget trotzdem eine Aufbesserung dar. Elise half ihrer Tochter außerdem mit den Kindern. David, Elises Schwiegersohn, war Computerspezialist und installierte Software-Systeme für Firmen im Norden Amerikas, sodass er oft für eine oder zwei Wochen unterwegs war. Elise und Aurora, die schon immer ein enges Verhältnis zueinander gehabt hatten, leisteten sich gegenseitig Gesellschaft. Und Elise wusste die Aufmunterung und Unterstützung ihrer Tochter zu schätzen.

„Gehst du heute Nachmittag mit uns in den Park?“, fragte John.

„Vielleicht“, erwiderte Elise, die ihm schwer eine Bitte abschlagen konnte. „Ich muss heute ein paar Besorgungen machen und weiß nicht, wie lange das dauert.“

„Kann ich mitkommen?“ John war so ein lieber Junge, der immer begierig darauf war, etwas Neues zu sehen oder zu unternehmen. Er war einen Monat zu früh auf die Welt gekommen und schien es noch heute immer besonders eilig zu haben.

„Nein, mein Schatz, du musst in den Kindergarten.“

Sofort machte er ein enttäuschtes Gesicht. Aber er akzeptierte mit einem kleinen Schulterzucken, dass er sie nicht begleiten konnte. Dann rannte er los und verschwand durch den Flur, um sich seinem Bruder anzuschließen.

„Ich hatte vor, in die Blossom Street zu gehen und mir diesen Strickladen mal anzusehen“, erklärte Elise ihrer Tochter.

Sie wusste, dass Aurora sich über ihr neu erwachtes Interesse am Stricken freute. Nach einem kurzen Besuch in der Kanzlei ihres Anwalts war Elise durch die neu gestaltete Straße gelaufen und hatte das Wollgeschäft entdeckt, von dem sie Aurora anschließend begeistert erzählt hatte.

Elise war über die Veränderungen in der Blossom Street freudig überrascht gewesen. Seit Jahren hatte die Gegend mit ihren heruntergekommenen Gebäuden einen Schandfleck dargestellt. Elise war nicht davon ausgegangen, dass eine solche Sanierung stattfinden würde. Anstelle die Altbauten abzureißen, hatte der Architekt die bereits vorhandenen Häuser modernisieren lassen und die verwahrloste Gebäudestruktur verbessert. Durch die Markisen, die Blumen und die bunt gefüllten Schaufenster sahen die Geschäfte sehr viel ansprechender aus. Bei ihr hatte dieses Idyll den Eindruck einer traditionsreichen, freundlichen Nachbarschaft hinterlassen, einer netten kleinen Welt für sich. Es war kaum vorstellbar, dass nur ein paar Häuserblocks entfernt die Wolkenkratzer aus dem Boden schossen. Ein Stück weiter den Berg hinunter befanden sich die Finanzunternehmen, die die City von Seattle bestimmten.

Als sie sich das Schaufenster von „A Good Yarn“ angesehen hatte, war ihr Blick an einem Schild hängen geblieben, auf dem Strickunterricht angeboten wurde. Es mochte ihr vielleicht verwehrt bleiben, ihren Ruhestand so zu genießen, wie sie gehofft hatte. Aber sie würde dadurch doch nicht zur Einsiedlerin werden, die sich nicht traute, auch nur einen Cent auszugeben! Außerdem würde sie das Stricken ja vielleicht auch von ihren finanziellen Problemen ablenken.

Nach einer Tasse Tee in ihrem Zimmer zog sich Elise an. Sie hatte noch immer eine schlanke Figur und wählte einen pfirsichfarbenen Hosenanzug, der sowohl elegant als auch bequem war. Obwohl es Anfang Juni war und die Sonne schien, blieb es immer noch recht kühl. Deshalb würde sie die dazugehörige Jacke brauchen, wenn sie nach draußen ging. Sie steckte sich eine kleine pinkfarbene Kamee an den Ausschnitt ihrer weißen Bluse. Es war das schönste Schmuckstück, das sie besaß. Maverick hatte es ihr geschenkt, noch bevor sie verheiratet gewesen waren. Sie liebte es und trug es ziemlich oft.

Immerhin hatte Maverick den Kontakt zu seiner Tochter aufrechterhalten. Wenn auch nicht mit solcher Regelmäßigkeit, die Elise angemessen gefunden hätte. Was sie betraf, so wollte sie nichts mit ihm zu tun haben. Aber sie gönnte Aurora die Möglichkeit, ihren Vater kennenzulernen. Das hatte sie immer unterstützt. Die Beziehung der beiden hatte nichts mit ihr zu tun.

Auf einmal blieb sie mit gerunzelter Stirn stehen. Zum zweiten Mal an diesem Morgen dachte sie an Maverick. Nicht, dass sie ihn jemals vollkommen vergessen hätte – wie konnte sie auch, wenn ihr Enkel ihm so ähnlich sah –, doch sie gab sich den Erinnerungen an ihn selten hin. Sie wollte nicht an ihn und die Tage und Nächte voller Liebe denken.

Nachdem sie ihr schulterlanges braunes Haar gekämmt hatte, band sie es im Nacken zusammen. Es war noch immer nicht ergraut und ihr ganzer Stolz. Sie hielt in der Bewegung inne, als sie sich an noch etwas erinnerte. Maverick hatte es gern gehabt, wenn ihr Haar offen war. In der Bibliothek trug sie es immer fest zu einem Knoten zusammengebunden, aber wenn sie am Ende eines Arbeitstages nach Hause kam, hatte er als Erstes nach den Haarnadeln gegriffen, um ihre dichten Locken zu lösen. „Rapunzel, Rapunzel“, flüsterte er dann, und sie lächelte … Ein wenig ärgerlich mit sich selbst presste sie die Lippen zusammen und verscheuchte diesen Gedanken.

Aurora goss gerade Milch in die Müslischüsseln, als Elise in die Küche trat.

„Du siehst gut aus, Mom“, bemerkte sie.

Komplimente verunsicherten Elise, und sie tat die Bemerkung ihrer Tochter mit einem Kopfschütteln ab.

„Einen schönen Tag euch“, wünschte Elise den Jungs, als sie die Vordertür öffnete und das Haus verließ.

Die zwei sahen ihr nach, beide ein wenig bedrückt, als hätte sie sie verlassen und einem schrecklichen Schicksal übergeben. Die beiden Enkelsöhne waren ihre ganze Freude, aber sie wusste nicht, wie Aurora das schaffte. Sie bewunderte ihre Tochter für ihre Fähigkeiten als Ehefrau und Mutter.

Manchmal fürchtete Elise, dass sie in beidem versagt hatte. Sie hatte immer geglaubt, dass es nicht ihre Bestimmung war, eine Ehefrau zu sein. Und ihre beiden Ehejahre schienen es ihr bewiesen zu haben. Aurora war der einzige Schatz, den sie aus dem Wrack ihrer Ehe hatte bergen können. Ihre Tochter, mit eins dreiundachtzig genauso groß wie ihr Vater, war ein unbeschreiblicher Segen. Auch wenn Elise es nicht gern zugab, aber sie waren in mehr als einer Hinsicht zusammen erwachsen geworden. Glücklicherweise standen sie sich noch immer nahe.

Maverick hatte den Unterhalt für sein Kind regelmäßig gezahlt. Und wenn ihm danach war, dann rief er Aurora von dort an, wo er gerade lebte, und das schien jedes Mal in einem anderen Teil des Landes zu sein. Schon bald nach ihrer Hochzeit hatte er es aufgegeben, einen regelmäßigen Job auszuüben – obwohl er ziemlich viel Erfolg beim Verkauf von Versicherungen gehabt hatte – und konzentrierte seine ganze Energie auf das Spielen. Bindungen waren für einen Spielsüchtigen störend. Und wenn ein fester Wohnsitz für einen Spieler schon nicht geeignet war, dann war es eine Familie noch weniger. Während Elise in den Wehen lag, hatte ihr liebender Ehemann im Wartezimmer ein Pokerspiel angeleiert und die Geburt seines einzigen Kindes verpasst.

Elise nahm den 48er-Bus, fuhr in Richtung Blossom Street und stieg drei Stationen vor der Stadtbibliothek von Seattle aus, die kürzlich erst renoviert worden war. Durch ihre Arbeit in der Schulbibliothek hatte Elise einige der einflussreichsten Bibliothekare Washingtons kennengelernt. Zu denen gehörte Nancy Pearl, die das Programm „Wenn ganz Seattle das gleiche Buch liest“ organisiert hatte. Überall in den USA waren Städte, ob groß oder klein, dem Beispiel Seattles gefolgt. Elise war erfreut gewesen, dass diese Idee so beliebt wurde. Das zeigte, dass die Bibliothek noch immer ein wichtiger Teil der Gesellschaft war.

Als sie ausstieg, drückte sie ihre Tasche ganz fest an sich. Die Gegend war einmal für ihre Taschendiebe und Straßenräuber bekannt gewesen. Das schien sich nun geändert zu haben, aber man konnte ja nie vorsichtig genug sein.

Vor Fanny’s Floral blieb sie stehen, um in der Auslage die purpurroten Nelken zu bewundern. Sie hatte vorher noch nie Nelken in einer solchen Farbe gesehen und war versucht, für Aurora einen Strauß mitzunehmen. Sie sollte wahrscheinlich kein Geld für Blumen verschwenden, aber dennoch … Nun ja, sie würde darüber nachdenken.

Eine Tigerkatze schlief zusammengerollt im Schaufenster des Wollgeschäfts. Elise öffnete die Tür, und eine kleine Glocke erklang. Offenbar an das Geräusch gewöhnt, rührte sich die Katze nicht.

„Guten Morgen“, wurde sie von einer freundlich aussehenden Frau begrüßt. Eine andere, etwas ältere, stand am Tresen und nickte Elise zu.

„Ja, es ist ein schöner Morgen“, erwiderte sie, von der warmen Ausstrahlung der jüngeren Frau sofort angenehm berührt. Das hier war ein sehr sympathischer Laden, geschmackvoll gestaltet und nicht zugestopft mit Wolle. Es gefiel Elise, dass sie über die Schaukästen hinwegsehen konnte. „Ich wollte mich wegen des Unterrichts erkundigen“, sagte sie, etwas abgelenkt von den Farben und Mustern überall um sie herum. Auf den Auslagen waren fertige Teile ausgestellt, sehr raffiniert auf Drahtrahmen angeordnet. Ihr Blick wurde von einem Pullover angezogen, auf dem vorn ein Dinosaurier gestrickt war. Luke und John würde das gefallen. Vielleicht könnte sie so etwas eines Tages für ihre Enkel machen.

„Diese Woche kann man sich für den Unterricht im Sockenstricken anmelden.“

„Socken“, wiederholte Elise, nicht sicher, ob sie so ein Kurs interessierte. „Ich habe früher mit fünf Nadeln gestrickt, aber das ist schon eine Weile her.“

„Wir arbeiten mit zwei Rundnadeln“, erklärte ihr die Frau. „Hier, ich zeige Ihnen mal, was ich meine.“ Sie führte Elise durch den Mittelgang, wo eine Reihe von Socken auf Plastikfüßen präsentiert wurden. Die Muster sahen kompliziert aus – viel zu kompliziert für Elises Geschmack. Es war schon Jahre her, seit sie Stricknadeln in der Hand gehabt hatte, und sie war nicht besonders erpicht darauf, ihre Motivation gleich an einem Projekt zugrunde gehen zu lassen, das zu schwer für sie war.

Sie wollte es gerade aussprechen, als die Frau ihr erklärte, dass die Verzierungen durch die Wolle selbst entstanden waren.

„Sie meinen, ich bräuchte einfach nur drauflos zu stricken?“

„So ist es. Die Wolle entwickelt das Muster von selbst.“ Die Frau fuhr fort, indem sie ihr erklärte, wie viel der Kurs kostete, wobei die Wolle und alle Hilfsmittel im Preis enthalten waren. „Übrigens, ich bin Lydia Hoffman, und das ist meine Schwester Margaret. Wir arbeiten zusammen.“

„Elise Beaumont“, stellte sie sich vor und lächelte die beiden an. Beim näheren Hinsehen wurde offensichtlich, dass die beiden miteinander verwandt waren. Die Ältere der beiden, Margaret, war kräftig gebaut, während die andere, Lydia, klein und zierlich war. Doch ihre Gesichter hatten die gleiche Form, mit ausgeprägten Wangenknochen und großen dunklen Augen. Sie ertappte sich dabei, wie sie die beiden anstarrte, und fügte schnell hinzu: „Ich bin gerade in Rente gegangen und dachte mir, ich fange wieder an zu stricken.“

„Das ist eine wunderbare Idee!“

Elise lächelte über Lydias Begeisterung. Margaret hatte sich wieder auf die Unterlagen konzentriert, die vor ihr auf dem Tresen lagen. Offenbar handelte es sich um Bestellkataloge und Formulare.

„Ich denke, es ist gut, mit einem Kurs wieder anzufangen“, sagte Elise.

Lydia nickte. „Ich bin froh, dass Sie beschlossen haben vorbeizukommen.“ Sie führte sie in den hinteren Teil des Ladens, wo ein Tisch und Stühle aufgestellt waren. „Wenn Sie Freitagnachmittag Zeit haben, würde ich Sie gern zu unseren Stricktreffen für die Wohlfahrt einladen.“

„Noch ein Kurs?“ Elise konnte sich nur einen leisten.

„Nicht direkt. Es entstehen keine Kosten. Ein Teil meiner Stammkundinnen kommt hierher, um für verschiedene Spendenprojekte und Organisationen zu stricken. Sie wären uns sehr willkommen, Elise.“ Sie erzählte von „Warm Up America“, dem „Linus-Projekt“ und „ChemoCaps“ für Menschen, die eine Chemotherapie durchmachten.

„Stellen Sie die Wolle?“, wollte Elise wissen, weil sie wieder an ihr begrenztes Budget denken musste.

„Auf jeden Fall, ja“, erwiderte Lydia. „Zumindest einen Teil davon. Für die „Warm Up America“-Decken haben ein paar Förderer Wollreste gespendet, und jeder, der für eins der anderen Projekte Wolle kauft, bekommt darauf einen Rabatt.“

„Ja, vielleicht werde ich kommen. Klingt auf jeden Fall interessant.“ Elises Terminkalender war nahezu leer, und sie suchte nach Möglichkeiten, ihn zu füllen. Bisher hatte sie sich einer Lesegruppe angeschlossen, die sich einmal im Monat in einer der Filialen der Stadtbibliothek von Seattle traf. Und sie hatte sich gemeldet, um ehrenamtlich die Rundschreiben der Kirche zu falten. Außerdem war sie eine große Unterstützerin der lokalen Blutbank und arbeitete auch dort unentgeltlich jeden Montag von morgens bis nachmittags am Empfang.

„Möchten Sie sich für den Kurs zum Sockenstricken eintragen?“, fragte Lydia nach. „Ich bin sicher, es wird Ihnen gefallen.“

Wieder war Elise von der Freundlichkeit der Frau angenehm berührt. „Ja, ich denke schon.“ Sie öffnete ihre Tasche und holte ihr Scheckheft heraus. „Wie viele Leute werden an dem Kurs denn teilnehmen?“, erkundigte sie sich, während sie den Scheck ausschrieb.

„Ich würde es gern auf sechs beschränken.“

„Haben Sie schon viele Interessenten?“

„Noch nicht, aber das Schild hängt erst seit Dienstagmorgen draußen. Sie sind die Erste, die sich anmeldet.“

„Die Erste“, wiederholte Elise. Und aus unerfindlichen Gründen verspürte sie eine gewisse Freude bei dem Gedanken, die Erste zu sein.

Schließlich beschloss sie, doch noch einen Strauß dieser wunderbaren Nelken für Aurora zu kaufen.