3. KAPITEL

Bethanne Hamlin

So sollte es nicht sein, dachte Bethanne Hamlin traurig, als sie die Auffahrt zu ihrem Haus in Capitol Hill hochfuhr. Das Gebäude, errichtet in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, bevor es als zu unsicher galt, mit Steinen auf einem erdbebengefährdeten Gebiet zu bauen, war ihr Traumhaus gewesen. Sie hatte sich auf den ersten Blick darin verliebt. Die kurze steile Auffahrt endete vor der Garage im Untergeschoss. Betonstufen führten zu einer kleinen Terrasse, und die Vordertür hatte einen Bogen. Wie der Eingang zu einem verwunschenen Häuschen im Märchen, dachte sie immer. Eine Giebelwand ragte vom Schlafzimmer im ersten Stock hervor. Von der Fensterbank dort konnte man die gesamte Nachbarschaft überschauen. Bethanne hatte oft an diesem Fenster gesessen und gelesen oder ihren Tagträumen nachgehangen. In diesem wunderschönen Heim hatte sie ihr perfektes Leben gelebt. Ihr Märchentraumleben …

Sie schaltete den Motor aus und blieb einen Moment in ihrem fünf Jahre alten Plymouth sitzen. Bethanne versuchte genug Energie und Kraft zu sammeln, um dieses Haus mit einem Lächeln auf dem Gesicht zu betreten. Dann holte sie tief Luft, stieg aus und zog die Tasche mit den Lebensmitteln, die sie gerade eingekauft hatte, vom Rücksitz.

„Ich bin zu Hause!“, rief sie so fröhlich, wie sie konnte, während sie die Tür öffnete.

Sie war erleichtert, als alles still blieb.

„Andrew? Annie?“ Sie stellte die Einkäufe auf dem Küchentresen ab, füllte den Teekessel, machte den Herd an und setzte das Wasser auf. Vor der Scheidung war sie keine große Teetrinkerin gewesen, aber im letzten Jahr hatte sie sich praktisch zu einer Süchtigen entwickelt. Sie trank inzwischen zwei oder drei Kannen pro Tag.

„Ich bin da“, rief sie ein zweites Mal. Wieder keine Antwort.

Nach wenigen Minuten begann der Kessel zu pfeifen, und sie goss das dampfende Wasser über die Earl-Grey-Teebeutel in der Keramikkanne, die einmal ihrer Großmutter gehört hatte. Dann trug sie den Tee zum Frühstückstisch.

Als sie in der kleinen Nische saß, dachte sie erneut über den Sinn ihres Lebens nach. Ein weiteres Mal versuchte sie zu verstehen, was ihr und ihren Kindern in den vergangenen zwei Jahren widerfahren war. Nichts schien mehr in Ordnung zu sein. So als würden nicht einmal mehr die Jahreszeiten in der richtigen Reihenfolge ablaufen. Oder als hätte der Mond plötzlich die Sonne ersetzt … Es fiel ihr immer noch schwer zu begreifen, was passiert war – und warum.

Alles hatte vor sechzehn Monaten an einem Valentinstag-Morgen begonnen … Die Kinder waren wach und machten sich in ihren Zimmern lautstark für die Schule fertig. Kurz zuvor, als sie gehört hatte, wie Andrew und Annie sich wegen des Badezimmers stritten, hatte sie ihren Morgenmantel übergezogen und war in die Küche gegangen, um das Frühstück vorzubereiten. Dann, als sie zum Schlafzimmer zurückging und vor der Tür stehen blieb, sah sie, dass ihr Mann auf dem Bett saß, die Knie angewinkelt, das Gesicht in den Händen vergraben. Bethanne fürchtete zuerst, er hätte eine Grippe. Normalerweise war er um diese Uhrzeit bereits aufgestanden und für die Arbeit angekleidet. Er liebte seinen Job als Makler bei einer erfolgreichen Grundstücksfirma. Sein Verdienst war hoch genug, sodass Bethanne bei den Kindern zu Hause bleiben konnte. Als Andrew und dreizehn Monate später Annie geboren waren, hatte sie beschlossen, sich vollständig den Kindern zu widmen. Grant hatte ihre Entscheidung unterstützt. Es gefiel ihm, dass sie zu Hause blieb, Zeit für ihn und die Kinder hatte, und wusste es zu schätzen, dass sie oft gediegene Geschäftsessen für ihn und seine Kollegen vorbereitete.

„Grant?“, fragte sie, vollkommen unvorbereitet auf das, was nun folgen sollte.

Er blickte auf, und Bethanne sah solchen Schmerz in seinen Augen, dass sie sich zu ihm aufs Bett setzte und ihm die Hand auf die Schulter legte. „Was ist los?“, flüsterte sie.

Grant schien keinen Ton herauszubringen. Er öffnete den Mund, um zu reden, aber es kam kein Wort.

„Mom!“, rief Annie vom Treppenabsatz herunter. „Ich brauche deine Hilfe!“

Bethanne zögerte einen Augenblick, hin- und hergerissen zwischen der Sorge um ihren Mann und den Bedürfnissen ihrer Kinder, dann drückte sie kurz Grants Arm. „Ich bin gleich zurück.“ Tatsächlich dauerte es zehn Minuten, und beide Kinder hatten das Haus verlassen, als sie wieder zurückkam.

Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, saß Grant immer noch so da wie zuvor. Sein Gesichtsausdruck war zutiefst bekümmert.

„Sag es mir“, drängte sie leise, während sie sich beunruhigt fragte, was passiert sein könnte. Grant war vor einer Woche beim Arzt gewesen, und obgleich alles in Ordnung zu sein schien, waren sämtliche Routineuntersuchungen vorgenommen worden. Vielleicht hatte Dr. Lyman etwas gefunden, und Grant wagte jetzt erst, darüber zu reden. Sie setzte sich wieder neben ihn, die Matratze bewegte sich leicht unter ihrem Gewicht.

„Heute ist Valentinstag“, sagte Grant mit einer so heiseren Stimme, dass sie sie kaum wiedererkannte.

Sie küsste ihn auf die Wange und spürte, wie er sich versteifte. „Grant, bitte … was ist los?“

Da begann er zu weinen. Sein ganzer Körper wurde von großen Schluchzern geschüttelt. In den zwanzig Jahren ihrer Ehe konnte sich Bethanne nur an wenige Situationen erinnern, in denen ihr Mann solche starken Gefühle gezeigt hatte. „Ich will dir nicht wehtun.“

„Sag es mir einfach!“

Er fasste sie so fest bei den Schultern, dass sich seine Finger fast schmerzhaft in ihr Fleisch drückten. „Du bist eine gute Frau, Bethanne, aber …“ Er stockte. „Aber ich liebe dich nicht mehr.“

Zuerst dachte sie, dass er einen Scherz machte, und kicherte nervös. „Was soll das heißen, du liebst mich nicht mehr? Grant, wir sind seit zwanzig Jahren verheiratet. Natürlich liebst du mich.“

Er schloss die Augen, als könne er es nicht ertragen, sie anzusehen. „Nein, das tue ich nicht. Es tut mir so leid. Aber ich habe es versucht. Ich habe es weiß Gott versucht. Ich kann mit dieser … dieser Charade nicht länger leben.“

Bethanne starrte ihn sprachlos an. Das war der Mann, mit dem sie all die Jahre zusammengelebt und geschlafen hatte. Und plötzlich, auf einen Schlag, war er ein Fremder geworden.

„Was ist passiert?“, erkundigte sie sich unsicher.

„Bitte“, flehte er, „zwinge mich nicht, es zu sagen.“

„Was zu sagen?“ In diesem Moment war sie eher verwundert als verärgert. Statt die Worte persönlich zu nehmen, verfiel sie sofort in ihre pragmatische Art, ein Problem anzugehen. Was auch immer nicht stimmte, konnte in Ordnung gebracht werden, genauso wie ein undichter Wasserhahn oder eine kaputte Steckdose. Man brauchte nur den Klempner oder den Elektriker zu bestellen. Was immer reparaturbedürftig war, benötigte lediglich die entsprechende Behandlung, und alles funktionierte wieder so wie vorher.

„Es gibt einen Grund, warum ich dich nicht mehr liebe“, stieß ihr Mann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er warf die Steppdecke zur Seite und stand auf. Seine gereizte Art bestürzte sie.

„Grant, was ist in dich gefahren?“

Er stieg in seine Hosen, zog sie hoch und schloss den Reißverschluss. „Bist du wirklich so schwer von Begriff, dass ich es aussprechen muss?“

Innerhalb von Sekunden war aus dem Häufchen Elend ein Tyrann geworden. „Was aussprechen?“, wollte sie wissen und hob unschuldig die Hände, in Erwartung dessen, was immer er ihr zu sagen hatte. Sie war mehr von seiner aggressiven Art schockiert als von seinen Worten.

Er hielt inne, den einen Arm im Ärmel seines Hemdes. Seine Worte kamen ohne jede Gefühlsregung und ohne dass er sie ansah. „Es gibt jemand anderen.“

Da begriff Bethanne endlich. „Du hast … eine Affäre?“ Plötzlich fühlte sie sich wie betäubt, und ihr Mund war wie ausgetrocknet. Ihre Zunge schien auf die doppelte Größe angeschwollen zu sein, sodass sie nicht sprechen konnte. Das war unmöglich. Sie weigerte sich, das zu glauben – Grant würde sie niemals betrügen. Sie hätte es gewusst, wenn er jemand anders gehabt hätte. In Filmen und Büchern hatten Männer Affären. Das war etwas, das anderen Frauen passierte, in anderen Ehen, aber nicht in ihrer. Im ersten Augenblick wollte sie es einfach nicht wahrhaben, bis er weiterredete, während er sich für die Arbeit anzog.

„Wann? Wie?“, stotterte sie.

„Wir haben uns im Büro kennengelernt“, sagte er. „Sie ist auch Maklerin, und sie war neu in der Firma.“ Er seufzte schwer. „Ich habe versucht, unsere Ehe zu retten, aber es ging nicht. Es war nicht meine Absicht, dass so was passiert.“ Sie hörte für einen kurzen Moment einen fast flehenden Tonfall in seiner Stimme, der aber sofort ärgerlich wurde. „Verdammt, Bethanne, mach es nicht noch schwieriger, als es ohnehin schon ist.“ Als hätte er es bereits seit Tagen geplant, öffnete er die Schranktür und zog einen Koffer heraus, den er aufs Bett legte.

„Du … gehst?“

Er beantwortete ihre Frage, indem er die Schubladen öffnete und seine Kleidungsstücke herausnahm. Bethanne zuckte zusammen, als sie beobachtete, wie er einen Stapel ordentlich zusammengelegter Unterhemden in den Koffer tat. Grant war ziemlich eigen mit seinen T-Shirts, sie mussten auf besondere Art gefaltet sein. Er war, was sein Äußeres betraf, besonders sorgfältig, und dieser Perfektionismus betraf auch sein Haar und die Kleidung.

„Wohin … wohin willst du?“ In ihrem Kopf überschlugen sich die Fragen, und die belangloseste war die erste, die sie aussprach.

„Ich ziehe zu Tiffany“, verkündete er.

„Tiffany?“, wiederholte sie ungläubig. Warum sie ausgerechnet in der schrecklichsten Situation ihres Lebens diese Komik entdeckte, würde sie nie begreifen. Mit einem Mal musste sie lachen. „Du verlässt mich wegen einer Frau, die Tiffany heißt?“

Er sah sie wütend an, als hätte sie den Verstand verloren. Und vielleicht war das ja auch der Fall. „Hau ab“, sagte sie fast lässig und wedelte mit der Hand. „Ich will, dass du verschwindest.“

Wie um ihren Wunsch zu untermauern, stapfte sie in den Keller hinunter und holte einen zweiten, noch größeren Koffer, den sie ins Schlafzimmer schleppte. Auf dem Weg überlegte sie angestrengt, ob sie dieser Tiffany je begegnet war. Soweit sie wusste, war das nicht der Fall. In Grants Büro wimmelte es von Frauen. Doch sie hätte nie gedacht, dass er in der Lage wäre, sie so zu hintergehen. Obwohl sie schon außer Atem war, nachdem sie den schweren Koffer die beiden Treppen hochgeschleppt hatte, verschnaufte sie nicht, ihr Ärger trieb sie an.

Sie warf den leeren Koffer achtlos auf das Bett und ignorierte die dicke Staubwolke, die sich dabei über die weiße Decke legte. Dann zog sie die Schranktür auf, packte die Anzüge mit einem Griff und warf sie mitsamt den Bügeln in den Koffer.

„Bethanne!“, rief Grant. „Hör auf.“

„Nein!“, schrie sie fast. Dann, etwas leiser, fragte sie: „Wie lange geht das schon mit dir und Tiffany?“ Als er nicht antwortete, drängte sie weiter. „Wie alt ist sie überhaupt?“ Kaum hatte sie mit diesen Fragen begonnen, gab es kein Halten mehr. „Ist sie auch verheiratet, oder bin ich die Einzige, die abserviert wird?“

Grant vermied es, sie anzusehen.

„Schon eine ganze Weile?“

Noch immer sah er sie nicht an und fuhr fort, seinen Koffer zu packen. Sie war wieder in die alte Gewohnheit verfallen – und faltete, glättete und ordnete seine Kleidungsstücke, die sie zuvor achtlos in den großen Koffer geworfen hatte.

„Ein Monat? Zwei Monate? Ist sie gut im Bett?“

„Bethanne, nicht.“

„Wie lange?“ Sie wollte keine Ruhe geben, bevor er ihr nicht die Wahrheit sagte.

Er stieß einen langen Seufzer aus, als hätte sie ihn mit ihrer Unnachgiebigkeit besiegt. „Zwei Jahre.“

Zwei Jahre!“, schrie sie, außer sich vor Zorn. „Mach bloß, dass du rauskommst!“

Er nickte nur.

„Hau ab und komm nie wieder!“ In diesem Augenblick hatte sie es auch so gemeint. Doch nach nicht allzu langer Zeit wünschte sie sehnlichst, er wäre wieder zu Hause. Inzwischen war es ihr peinlich, wie verzweifelt sie versucht hatte, die Liebe ihres Mannes zurückzugewinnen. Sie war bereit gewesen, alles zu tun – einen Rechtsanwalt aufsuchen, betteln, locken, diskutieren. Einmal war sie an dem Punkt angelangt, kurz vor der Gerichtsverhandlung, da hätte sie zehn Jahre ihres Lebens gegeben, wenn Grant wieder zu ihr und den Kindern zurückgekehrt wäre.

Doch nachdem er erst mal das Haus verlassen und zu Tiffany gezogen war, hatte er nicht mehr die Absicht gehabt wiederzukommen. Es hätte sie fast umgebracht. Irgendwann musste sie es akzeptieren: Grant würde nie mehr zurückkehren. Er liebte sie nicht mehr, und nichts, was sie sagte oder tat, würde daran etwas ändern.

Ihre Ehe war kaputt, und ihre Selbstachtung zerstört. Wären die Kinder nicht gewesen, Bethanne hätte nicht gewusst, was sie getan hätte. Andrew und Annie brauchten sie mehr denn je, und nur für sie machte sie weiter.

Als sie endlich einen Termin mit dem Anwalt verabredet hatte, war der Mann sehr offen und hilfreich gewesen. Es wurde eine finanzielle Vereinbarung getroffen, die fair schien. Mit so viel Gerechtigkeitssinn, wie er aufbringen konnte, bezahlte Grant die Hypotheken auf das Haus, ihre Autos und die Rechnungen ihrer Kreditkarten, sodass sie beide zunächst schuldenfrei waren. Er wurde verpflichtet, für zwei Jahre Alimente zu zahlen, zusätzlich zu dem Unterhalt für die Kinder, bis diese die Highschool absolviert hätten. Die Studienkosten würden sie sich teilen. Bisher hatte er immer pünktlich bezahlt, doch dafür sorgte der Staat schon. Bethanne würde bald einen Job finden müssen, doch aus Dutzenden von Gründen hatte sie das immer wieder aufgeschoben.

Jetzt war es sechs Monate her, dass die Scheidung rechtsgültig wurde, und der Nebel begann sich gerade erst etwas zu lichten. Während sie versuchte, mit dem, was ihre Familie und Freunde als ihre „neue Realität“ bezeichneten, klarzukommen, wollte sie einen Schritt nach dem anderen in die Zukunft tun. Das Problem war, dass sie ihre „alte Realität“ herbeisehnte …

Bethanne nippte an ihrem Tee, der langsam abkühlte. Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als die Küchentür aufgerissen wurde und die sechzehnjährige Annie hereinstürzte, mit roten Wangen und schweißgebadet. Nasse Haarsträhnen klebten ihr zu beiden Seiten im Gesicht. Sie trug ein rückenfreies Top und Radlershorts und kam offensichtlich von einem ausgedehnten Lauf. Da Annie immer ein enges Verhältnis zu ihrem Vater gehabt hatte, war die Scheidung für sie besonders hart gewesen. Kurz nachdem Grant ausgezogen war, hatte Annie mit dem Joggen begonnen und rannte oft acht oder sogar sechzehn Kilometer am Tag. Unglücklicherweise war das nicht die einzige Veränderung im Verhalten ihrer Tochter. Die neuen Freunde, mit denen sie sich zusammengetan hatte, wirkten nicht sehr vertrauenerweckend.

Bethanne machte sich ständig große Sorgen um den Umgang ihrer Tochter. Das Mädchen hatte seine Wut auf Tiffany fokussiert, und Bethanne hegte den Verdacht, ihre neuen Freunde ermutigten sie zu ihren ungeheuerlichen Aktionen. Obgleich Bethanne sicher nicht zu den Fans dieser Frau gehörte, die übrigens, wie sie erfahren hatte, fünfzehn Jahre jünger war als ihr Ex, befürchtete sie, dass Annie in ihrem Eifer, sich an Tiffany zu rächen, etwas sehr Dummes anstellen könnte, das womöglich die Polizei auf den Plan rief.

Andrew hatte mit Bethanne mehrmals über die Aktionen von Annie gesprochen, von denen er wusste. Dazu gehörte, dass sie Tiffanys Namen und Adresse für ein Zeitschriftenabonnement angegeben hatte ebenso wie für etliche Bestellungen oder Verabredungen. Wie auch immer, Annie schwieg beharrlich, wenn Bethanne mit ihr darüber zu reden versuchte.

„Du hast mir keine Nachricht hinterlassen“, rügte Bethanne sie milde, als Annie zum Kühlschrank ging und eine kalte Flasche Wasser herausnahm.

„Tut mir leid“, murmelte das Mädchen ohne aufrichtiges Bedauern, drehte den Verschluss ab und lehnte den Kopf zurück, um die halbe Flasche zu leeren. „Ich dachte, du könntest es dir denken. Ich laufe ja jeden Tag.“

Bethanne hatte es sich gedacht, aber das war nicht der Punkt.

„Wie war es bei der Arbeitsagentur?“, wollte ihre Tochter wissen.

Bethanne seufzte und wünschte, Annie hätte dieses Thema nicht angesprochen. „Nicht gut.“ Sie hatte gewusst, dass die Jobsuche schwierig werden würde, doch sie hatte keine Ahnung gehabt, wie schmerzhaft diese Angelegenheit tatsächlich war. „Als ich dem Mann von meinen Backkünsten erzählte, schien er nicht sonderlich beeindruckt.“

„Du solltest in einer Konditorei arbeiten.“

Daran hatte sie auch schon gedacht. Doch acht Stunden umgeben von Backwaren erschien ihr nicht sehr verlockend.

„Andrew und ich wurden von allen unseren Freunden immer beneidet.“ Annie klang fast nostalgisch. „Wir hatten die besten Geburtstagspartys mit den leckersten Kuchen von allen.“

„Ich habe auch großartige Spieleabende organisiert, aber dafür gibt es heutzutage keine Verwendung mehr.“

„Ach, Mom.“ Annie verdrehte die Augen.

„Ich werde mich ernsthaft bemühen, wenn der Sommer vorbei ist.“

„Du schiebst es immer wieder auf.“

Ihre Tochter hatte recht. Doch nachdem sie so viele Jahre nicht gearbeitet hatte, glaubte Bethanne nicht, dass sie irgendwelche vermittelbaren Fähigkeiten besaß. Sie dachte mit Entsetzen daran, dass sie womöglich für den Rest ihres Daseins an der Kasse im Lebensmittelladen stehen und die Kunden fragen müsste, ob sie lieber eine Papier- oder eine Plastiktüte haben wollten.

„Vielleicht sollte ich Kosmetika verkaufen“, sagte sie und beobachtete Annies Reaktion. „Ich könnte so meine Zeit selbst einteilen und …“

„Mom!“ Das Mädchen sah sie aufgebracht an. „Das ist doch lächerlich.“

„Viele Frauen verdienen damit ein gutes Einkommen, und …“

„Kosmetika verkaufen ist vielleicht für andere in Ordnung, aber nicht für dich. Du hast eine Menge Talente, aber als Vertreterin wärst du eine Katastrophe, das wissen wir beide ganz gut. Es muss doch irgendwas anderes für dich geben. Wo bleibt denn dein Stolz?“

Tja, der versteckte sich seit sechzehn Monaten irgendwo in den Untiefen des Kellers, dachte Bethanne. „Ein Bürojob wäre fürchterlich“, sagte sie. Es war unvorstellbar für sie, sich jemals an einen Acht-Stunden-Trott zu gewöhnen.

„Du solltest einfach mal was nur für dich machen“, beharrte Annie. „Damit meine ich keinen Job.“

Jeder, den Bethanne kannte, sogar der Anwalt, den sie vor Kurzem getroffen hatte, riet ihr das Gleiche. „Seit wann bist du denn so schlau?“, scherzte sie.

„Gibt es nicht irgendwas, das du gern tun würdest, nur so aus Spaß?“

Bethanne zuckte die Schultern. „Du würdest lachen und mir wieder erklären, das wäre albern.“

„Was denn?“

Sie seufzte, nicht sicher, ob sie es sagen wollte. „Ich habe neulich ein Wollgeschäft gesehen und dachte daran, wie gern ich mal wieder stricken würde. Es ist schon Jahre her. Ich habe dir mal eine Babydecke gestrickt, erinnerst du dich noch?“

„Mom!“, rief Annie und sah dabei fast peinlich berührt aus. „Natürlich erinnere ich mich. Ich habe ja bis zu meinem zehnten Lebensjahr unter dieser gelben Decke geschlafen.“

„Ich habe gerne gestrickt, aber das ist lange her.“

Die Eingangstür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Es war Andrew, der von seinem Halbtagsjob im Supermarkt kam. Er betrat die Küche, legte den Rucksack ab, öffnete, ohne ein Wort zu seiner Mutter oder seiner Schwester zu sagen, den Kühlschrank und starrte hinein. Offensichtlich schien ihn außer eine Flasche Sodawasser nichts zu interessieren. Er nahm sie heraus, schloss die Tür, lehnte sich dagegen und sah die beiden stirnrunzelnd an.

„Was geht hier vor?“, fragte er und sah von Bethanne zu seiner jüngeren Schwester.

„Mom meinte gerade, dass sie wieder stricken will“, berichtete Annie.

„Ich habe nur mal daran gedacht“, beeilte sich Bethanne hinzuzufügen.

„Das kannst du doch machen“, erklärte Annie voller Überzeugung.

„Ja, klar“, stimmte ihr Andrew zu und öffnete den Verschluss seiner Flasche.

Aber Bethanne war sich nicht sicher, ob sie dazu in der Lage war. Es schien ihr alles zu viel Energie zu kosten – eine Arbeit finden, ihr Leben organisieren und dazu noch das Stricken. „Vielleicht mach ich’s“, murmelte sie unschlüssig.

„Du wirst es nicht hinausschieben, so wie alles andere.“ Annie öffnete die Vorratskammer und holte die Gelben Seiten hervor. „Wo war dieses Wollgeschäft?“

Bethanne biss sich auf die Unterlippe. „Blossom Street.“

„Erinnerst du dich an den Namen des Ladens?“, fragte Andrew.

Annie blätterte im hinteren Teil des dicken Verzeichnisses.

„Nein, aber seht mal …“

Mit dem Finger auf einer Seite blickte Annie auf, ihre Augen funkelten entschlossen. „Hab’s gefunden.“ Sie warf ihrem Bruder ein triumphierendes Lächeln zu, nahm das Telefon und tippte die Nummer ein, bevor Bethanne protestieren konnte. Als sie fertig war, reichte sie ihrer Mutter den Hörer.

Die freundliche Stimme einer Frau war zu hören. „A Good Yarn“, meldete sie sich. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

„Also, hallo … Mein Name ist Bethanne Hamlin. Obwohl es ja auch egal ist, wie ich heiße, aber na ja, ich wollte wissen, ob Sie immer noch die Strickkurse anbieten.“ Sie schwieg kurz, um Luft zu holen. „Ich habe vor Jahren gestrickt“, fuhr sie fort, „aber das ist ja schon eine ganze Weile her. Vielleicht wäre es besser, wenn ich in Ihren Laden komme.“ Bethanne sah zu ihrer Tochter hoch.

„Gib mir mal das Telefon.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, griff Annie danach und hörte der Frau am anderen Ende der Leitung zu.

„Ja, das klingt gut. Schreiben Sie sie ein“, sagte sie schließlich, griff nach Stift und Papier, um die Einzelheiten zu notieren. „Sie wird da sein.“ Dann legte Annie auf.

„Du hast sie zu einem Kurs angemeldet?“, fragte Andrew.

„Genau.“

„Ich, also …“ Plötzlich dachte Bethanne voller Panik an die Kosten. „Hört zu, das ist vielleicht doch nicht so eine gute Idee, weil …“

Ihre Tochter unterbrach sie. „Du lernst, Socken zu stricken.“

„Socken?“, rief Bethanne und schüttelte den Kopf. „Das ist viel zu kompliziert für mich.“

„Mom“, mischte sich Andrew ein, „du hast doch die ganze Zeit gestrickt, oder nicht?“

„Die Ladeninhaberin meint, Socken stricken wäre nicht so schwierig“, fuhr Annie fort. „Sie heißt übrigens Lydia Hoffman, und sie behauptet, das wäre ganz einfach.“

„Na gut“, murmelte Bethanne.

„Mom, du gehst hin, und ein Nein werde ich nicht akzeptieren.“

„Du gehst“, stimmte Andrew ein.

Ihre Rollen hatten sich offenbar irgendwann vertauscht, das war Bethanne noch gar nicht aufgefallen. Es musste wohl passiert sein, als sie gerade nicht aufgepasst hatte.