10. KAPITEL

„Um beim Stricken Fortschritte machen zu können, solltest du ruhig etwas wagen. Stricken ist um einiges sicherer als Fallschirmspringen. Es gibt kaum etwas, das nicht wieder auszubügeln ist!“

(Lucy Neatby, Tradewind Knitwear Designs Inc.
www.tradewindknits.com)

Lydia Hoffman

Bis zum Samstag konnte ich nichts weiter tun, als in Margarets Gegenwart meinen Mund zu halten. Ich war verletzt und es ärgerte mich, dass sie die ganzen Wochen nichts von Matt gesagt hatte. Jetzt, da ich von ihrer Situation wusste, begann ich sie noch aufmerksamer zu beobachten. Je länger sie diese Geheimniskrämerei aufrechterhielt, desto gekränkter fühlte ich mich.

Samstags war gewöhnlich am meisten zu tun im Laden. Doch die Verkäufe wurden jeweils zum Monatsende hin, kurz vor dem Zahltag, immer geringer.

„Hast du für den Unabhängigkeitstag irgendwas Besonderes geplant?“, fragte ich Margaret, als kurz nach Mittag gerade niemand im Geschäft war.

„Nicht direkt.“ Sie schien nicht sonderlich interessiert zu sein. „Und du?“

„Bisher noch nichts Richtiges.“ Brad und ich hatten keine endgültigen Pläne geschmiedet, aber ich wollte vorschlagen, dass wir eine Fahrt zum Pazifik mit einem Picknick machten und uns das Feuerwerk mit Cody und Chase ansahen. Das letzte Mal hatte ich Ocean Shores, ein Erholungsort, ungefähr drei Fahrtstunden entfernt, als Teenager besucht. Ich weiß noch, dass ich kurz vor der Krebsdiagnose dort gewesen war. Der Ausflug gehörte zu den letzten unbeschwerten Unternehmungen, die ich in den nächsten Jahren erleben durfte.

„Wir werden wahrscheinlich nur im Garten grillen und uns das Feuerwerk im Fernsehen ansehen“, fügte meine Schwester hinzu.

Ich konnte einfach nicht anders, als sie ungläubig anzustarren. In Seattle gab es zwei Orte, an denen zum Vierten Juli ein unglaublich eindrucksvolles Feuerwerk geboten wurde. Der erste war im Myrtle Edwards Park am Wasser und der zweite nördlich der City im Lake Union’s Park. Das Feuerwerk am See wurde von patriotischer Musik begleitet – ein bewegendes Erlebnis, bei dem mir immer auf dramatische Weise klar wurde, was wir eigentlich feiern.

Margaret wohnte am Capitol Hill, nicht weit von der Blossom Street entfernt. Es war der perfekte Standort, um sich die Vorführung am Lake Union anzusehen. Ich konnte nicht begreifen, dass sie sich lieber vor den Fernseher setzte, anstatt das Feuerwerk vor ihrer Tür in Wirklichkeit zu erleben.

„Was ist mit Julia und Hailey?“ Ich liebte meine fünfzehn und zehn Jahre alten Nichten. Im vergangenen Jahr, als meine angespannte und komplizierte Beziehung zu Margaret sich zu lockern begann, waren die Mädchen und ich uns sogar noch nähergekommen. Ich hatte immer gedacht, meine Schwester wollte mich aus Gemeinheit nicht näher an die zwei heranlassen. Doch im Nachhinein verstand ich, dass sie nur versuchte, sie zu beschützen. Damals war die Möglichkeit, dass ich einen Rückfall erleide, noch wesentlich größer als heute. Und sie hatte Angst gehabt, ihre Töchter könnten mich zu sehr ins Herz schließen. Wenn ich den Kampf gegen den Krebs verloren hätte, wären meine Nichten vollkommen am Boden zerstört gewesen.

Margaret widmete sich mit aller Aufmerksamkeit dem Ordnen von Garnrollen. „Die Mädchen haben schon ihre eigenen Pläne.“

„Ach so.“

„Julia geht mit Freunden zum Lake Washington, und Hailey fährt mit den Nachbarn zum Camping.“

„Dann bist du mit Matt allein?“

Margaret zuckte die Schultern und kehrte mir den Rücken zu. „Sieht so aus.“

Ich wartete einen Moment, dann beschloss ich, etwas zu sagen. Zuerst würde ich eine Andeutung machen, um zu sehen, wie sie reagierte. „Brad hat erzählt, dass er Matt vor Kurzem getroffen hat.“

Langsam drehte sie sich um. Sie musterte mich, als suchte sie nach einem Anzeichen, das ihr verriet, ob ich Bescheid wusste. „Matt hat nichts davon erwähnt.“

„War sicher auch nicht der Rede wert“, erwiderte ich lässig.

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte sie zu.

„Wirst du Mom zu dir einladen?“, fragte ich als Nächstes. Der Gedanke, dass sie den Feiertag allein verbringen könnte, gefiel mir nicht. Wir hatten es irgendwie geschafft, das erste Jahr und all seine Feiertage, an denen Dad nicht dabei war, zu überstehen.

„Ich habe nichts zu ihr gesagt. Was ist mit dir?“, fragte Margaret ausweichend, und mir war klar, dass es ihr lieber wäre, wenn ich mich um Mom kümmerte.

„Willst du, dass ich mit ihr rede?“, erkundigte ich mich. Was mit anderen Worten hieß, ich würde dafür sorgen, dass unsere Mutter an diesem Feiertag beschäftigt wäre.

„Das wäre am besten“, erwiderte sie.

Ich wollte sie nicht darauf hinweisen, dass es sinnvoller wäre, wenn Mom zu Margaret und Matt ginge. Im Garten grillen wäre für sie perfekt gewesen und weit weniger anstrengend als eine Fahrt zum Ozean, wenn Brad und ich uns tatsächlich dafür entscheiden sollten.

„Sie wird mit euch mehr Spaß haben“, murmelte Margaret entschuldigend.

Schließlich hielt ich es nicht mehr länger aus. „Du hättest es mir sagen können, weißt du“, begann ich leise, in der Hoffnung, Matts Arbeitslosigkeit ansprechen zu können, ohne dass ein Streit daraus entstand.

„Was sagen?“

Ich verstand nicht, warum Margaret weiterhin so tat, als wäre nichts. „Dass Matt vor Monaten entlassen wurde. Ich bin deine Schwester – du solltest in der Lage sein, mit mir zu reden.“

Margaret sah mich verärgert an, sagte aber keinen Ton.

„Ist es denn so ein tiefes, dunkles Geheimnis, dass du es aus lauter Scham für dich behalten musst?“, rief ich und konnte jetzt meinen Schmerz und Ärger nicht mehr zurückhalten.

„Das ist Matts und meine Angelegenheit. Es geht dich nichts an.“

Ich griff nach meinem Strickzeug und setzte mich. Beim Stricken kann ich immer am besten meine Anspannung loswerden. Mit schnellen Fingern bearbeitete ich mein neuestes Projekt, einen Pullover, den ich ausstellen wollte.

„Ich habe keine Geheimnisse vor dir“, erinnerte ich meine Schwester. Vergangenes Jahr hatte ich ihr alles, was mich beschäftigte, anvertraut, und damit meine ich wirklich alles. Ich gestand ihr meine Ängste, erzählte, was mich glücklich machte, redete von meinen Hoffnungen, meiner … Seele. Ich strickte immer schneller, der Geschwindigkeit entsprechend, in der sich meine Wut steigerte.

„Das ist etwas anderes“, entgegnete Margaret ausdruckslos. Sie zog ihr Häkelzeug so ruckartig hervor, dass dabei das Wollknäuel auf den Boden rollte. Sie bückte sich, um es aufzuheben, klemmte sich das Knäuel unter den Arm und begann, mit der Häkelnadel zu arbeiten, die Finger im gleichen schnellen Tempo wie meine.

„Warum ist das was anderes?“, fragte ich herausfordernd.

„Es ist nicht meine Sache, sondern Matts.“

„Er hat Brad davon erzählt. Dein Mann fand es nicht weiter schlimm, es Brad gegenüber zu erwähnen. Aber meine Schwester hat mir nichts gesagt.“ Ich fühlte mich irgendwie betrogen. Jetzt, da ich mit ihr darüber sprach, sogar noch mehr. Sie zeigte nicht das kleinste bisschen Reue. Ich hatte gehofft, sie würde gestehen, wie sehr sie sich gewünscht hätte, mit mir darüber zu reden. Offensichtlich war das nie der Fall gewesen.

„Es ist Matts Sache, wem er was erzählt.“ Margaret starrte auf ihre Handarbeit, ein Poncho für Julia. Ihre Finger flogen nur so hin und her, während sie sich fiebrig auf die Fäden konzentrierte.

„Genau.“ Ich zerrte wild an dem Wollknäuel und riss es dabei aus dem Weidenkorb. Es rollte auf den Boden.

Margaret hob das schöne blaue Garn auf und legte es in meinen Korb zurück. Dabei bemerkte ich, dass ihre Hände zitterten. Ich widerstand dem Wunsch, sie zu berühren, um ihr zu zeigen, dass sie mir wichtig war und ich ihr helfen wollte, wenn ich es konnte. Fast hätte ich es getan, aber ich fürchtete, dass sie mich zurückweisen würde. Wenn sie sich wieder von mir abwandte, würde ich das nicht ertragen.

„Nachdem ich über die Sache mit Matts Job Bescheid wusste, konnte ich mir vieles erklären“, bemerkte ich, während ich weiter im Eiltempo strickte. Obwohl mir klar war, dass ich später jede einzelne Masche wieder auftrennen musste. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und arbeitete etwas langsamer. Auf das Muster achtete ich schon gar nicht mehr, sondern strickte einfach aufs Geratewohl weiter. Irgendwie musste ich meine Hände beschäftigen.

„Was soll das heißen, du konntest dir vieles erklären?“, fragte Margaret angriffslustig.

„Deine Launen bei der Arbeit, wie du dich mir und den Kunden gegenüber verhalten hast.“

„Du weißt ja nicht, was du da sagst.“

Ich wählte meine Worte nicht so sorgfältig, wie ich es eigentlich hätte tun sollen, und redete einfach weiter drauflos. „Du warst reizbar und ruppig zu den Kunden.“

„Wenn du nicht willst, dass ich hier arbeite, dann brauchst du nur einen Ton zu sagen“, schoss Margaret zurück.

„Warum muss es denn bloß zwischen uns so sein?“, fragte ich flehend. „Ich bin deine Schwester.“

„Du bist meine Arbeitgeberin.“

„Ich bin beides. Aber ich habe es nie für notwendig gehalten, das zu trennen.“ Offensichtlich war das bei ihr anders. „Ich wollte vor Kurzem wissen, ob dir etwas fehlt. Und du hast mir versichert, dass alles in Ordnung sei.“

„Wie gesagt, mein Leben geht dich nichts an.“

Ich blinzelte gegen die Tränen an. „Wenn du so denkst, na dann gut.“

„Was soll’s!“

Ich stopfte den halbfertigen Pullover in den Weidenkorb zurück und sprang auf. „Ich bin deine Schwester“, wiederholte ich. „Wird es nicht bald mal Zeit, dass du anfängst, dich entsprechend zu verhalten?“

Zu meinem Entsetzen schlug Margaret die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Ich sah sie entgeistert an und wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Margaret?“, flüsterte ich. „Was ist los?“

Sie wirbelte herum und rannte ins Hinterzimmer.

Obwohl gerade zwei Kunden den Laden betreten hatten, folgte ich ihr. Glücklicherweise brauchten sie in diesem Moment keine Beratung, weil ich sie nämlich stehen gelassen hätte. Margaret war mir wichtiger. Auch auf das Risiko hin, dass sie mich zurückwies, legte ich einen Arm um sie. Zu meiner Überraschung drehte sie sich zu mir um und legte ihren Kopf an meine Schulter.

„Ich wollte es dir sagen“, schluchzte sie.

„Warum hast du es nicht gemacht?“ Ich verstand es nicht und befürchtete, sie irgendwie enttäuscht zu haben, wusste aber nicht, wie.

„Ich … konnte nicht.“

„Doch, du hättest es gekonnt.“

„Matt fühlt sich so elend … Er hat immer angenommen, dass er bis zur Rente bei Boeing bleibt. Er war die ganzen Jahre über bei dieser Firma.“

„Ich weiß“, sagte ich leise. „Es tut mir so leid.“

Margaret richtete sich auf und wischte sich die Tränen von der Wange. „Ich hatte Angst, du würdest wieder auf eitel Sonnenschein machen, und das hätte ich einfach nicht ertragen.“

„Auf was machen?“

„Na, ich meine deine ‚Alles wird wieder gut‘-Sprüche.“

Ich starrte sie verständnislos an.

„Du musst nur alles positiv sehen, dann werden sich die Probleme schon lösen“, fuhr sie sarkastisch fort.

Manchmal tat es weh, die Wahrheit zu hören. Und das war so ein Moment. Wenn Margaret ein paar Wochen früher mit mir darüber gesprochen hätte, wäre mir sicher so ein Satz über die Lippen gekommen – nicht genauso, aber etwas in der Art. Positiv denken und optimistisch sein, sich für das Glück entscheiden: So nahm ich dieser Tage das Leben in die Hand. Ohne dass es meine Absicht gewesen wäre, musste es sich für Margaret wohl ziemlich oberflächlich angehört haben, wenn ich von meiner Zufriedenheit herumgefaselt hatte.

„Wie kann ich dir denn helfen?“, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Sei einfach nur meine Schwester. Ich will keinen Rat. Du sollst dir auch keine Sorgen um mich machen.“ Sie versuchte zu lächeln. „Das schaffe ich schon für uns beide.“

„Es muss doch irgendwas geben, das ich tun kann“, entgegnete ich. Langsam bekam ich das Gefühl, an allen Enden versagt zu haben. Aber ich war entschlossen, mir weiterhin Mühe zu geben.

Mit feuchten Augen sah Margaret mich an. „Hör einfach nur zu.“

Ich nickte, und wir umarmten uns. „Warum kommen Brad und ich nicht einfach am Vierten zu euch“, schlug ich vor. „Dann grillen wir zusammen.“

Margaret brachte ein zittriges Lächeln zustande. „Wie dir vielleicht aufgefallen sein wird, bin ich in letzter Zeit nicht gerade die angenehmste Gesellschaft.“

„Wir machen das Beste draus. Immerhin sind wir eine Familie.“

Wieder kamen ihr die Tränen. „Danke“, flüsterte sie.

Ich umarmte sie noch einmal fest, froh darüber, dass endlich alles gesagt war. Auch wenn wir unnötig lange dafür gebraucht hatten.