39. KAPITEL
Bethanne Hamlin
An einem Freitagabend Mitte September, als Andrew und Annie bei Schulveranstaltungen waren, rief Paul an und schlug vor, ins Kino zu gehen. Bethanne sagte zu, obwohl er sich einen Action-Film ansehen wollte, der sie normalerweise nicht interessiert hätte. Immer wenn eine brutale Szene gezeigt wurde, musste sie wegsehen. Doch jedes Mal, wenn der Held den sicheren Tod vor Augen zu haben schien, schaffte er es in letzter Sekunde, sich zu retten. Die laute, hämmernde Musik machte sie noch unruhiger, als sie ohnehin schon war. Sie fragte sich, ob dieser Film ein gutes Ende haben würde.
In einer kurzen Action-Pause dachte sie an Grant. Sie hatte Paul – oder irgendjemand sonst – nicht erzählt, dass sie ihrem Exmann auf dem Parkplatz der Bank begegnet war. Das Treffen erschien ihr fast irreal.
Bethanne kam zu dem Schluss, dass die Affäre – und die Scheidung – ihn finanziell gesehen einiges gekostet hatten, wofür sie ihn fast bedauerte. Seine Kinder waren ihm trotz aller Vorsätze und guter Absichten fremd geworden. Annie telefonierte ab und zu mit ihrem Vater, aber ihr Verhalten war noch immer kühl. Häufig war sie richtig frech zu ihm. Andrew weigerte sich immer noch, etwas mit ihm zu tun zu haben, trotz einiger Versuche seines Vaters, die Beziehung zu kitten. Bethanne hoffte, dass Andrew eines Tages so weit wäre, ihm zu vergeben.
Sie verspürte eine vertraute Schwermut, als sie an das Scheitern ihrer Ehe denken musste. Grant hatte sich verändert, aber sie wusste nicht, wann diese Veränderung eingetreten war. Der Mann, der ihr auf dem Parkplatz begegnet war, war nicht derjenige, den sie damals geheiratet hatte, oder der Ehemann, der sie in den Kreißsaal begleitete, der mit ihr bangte, als die Kinder krank waren. Vielleicht hatte sie ebenso wie er dazu beigetragen, dass ihre Beziehung nicht funktionierte. Das war ein Aspekt, den sie bis jetzt nicht hatte sehen wollen. Gefangen in ihrer eigenen kleinen Welt, vollauf mit den Kindern beschäftigt, hatte Bethanne sich womöglich nicht genug um ihre Ehe gekümmert. Irgendwann im Laufe der Zeit waren sie und Grant Fremde füreinander geworden.
Sie blickte zu Paul hinüber und stellte fest, dass er sie beobachtete, anstatt dem Geschehen auf der Leinwand zu folgen. „Alles in Ordnung?“, flüsterte er.
Sie nickte, konnte aber sehen, dass er ihr nicht glaubte. Nach dem Film – der tatsächlich gut endete, der Held hatte überlebt – gingen sie einen Kaffee trinken.
Sie setzten sich in einer Nische bei Denny’s gegenüber, und die Kellnerin, die ihnen den Kaffee brachte, lächelte Paul schwärmerisch an. Er war auf seine Art wirklich sehr attraktiv und sein Charme war anziehend. Die Kellnerin hatte bestätigt, was Bethanne in letzter Zeit fühlte.
„Du scheinst tief in Gedanken zu sein“, sagte er.
„Na ja, ich habe ziemlich lange nachgedacht.“
„Worüber?“, wollte Paul wissen, während er nach dem Zucker griff. Er sah sie an, als er in seiner Tasse rührte.
Sie zuckte die Schultern, eine kurze Traurigkeit überkam sie. „Du triffst dich mit niemandem, oder?“
„Du meinst, außer mit dir?“
„Ja. Nein. Ich meine, nicht so wie wir, wir sehen uns ja als Freunde.“
„Warum runzelst du dabei die Stirn? Ich dachte, das wolltest du so.“
„Wir haben ein Problem, Paul.“ Sie beschloss, direkt zu sein. „Wir verlassen uns inzwischen schon aufeinander. Ich denke, du bist immer da, und sicher geht es dir genauso.“
Er sah aus, als wolle er ihr widersprechen, war aber so vernünftig, mit seiner Antwort zu warten.
„Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, besteht die Gefahr, dass wir emotional so voneinander abhängig sind, dass wir uns die Chance, uns auf andere Partner einlassen zu können, verbauen.“ Tatsächlich befürchtete sie, dass es bereits so war, vor allem bei ihm. „Das möchte ich nicht.“
„Ich auch nicht“, stellte er fest, wenn auch zögerlich.
„Es wird Zeit, dass wir uns mit anderen verabreden und uns ohne Stützräder weiterbewegen.“ Bethanne versuchte es scherzhaft auszudrücken. Sie wünschte, sie hätte sich noch intensiver darüber Gedanken gemacht.
Als die Kellnerin ihren Kaffee nachgefüllt hatte, griff Paul nach seiner Tasse und nippte nachdenklich daran. „Gibt es jemanden, mit dem du dich treffen möchtest?“
„Nein, aber es geht nicht um mich.“
„Worum geht es denn dann? Ich verstehe dich nicht, Bethanne. Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir mehr werden als Freunde, verdammt noch mal“, erklärte er frustriert. „Doch das habe ich schon befürchtet. Du machst dir Gedanken um den Altersunterschied, oder?“
„Nein. Okay, ein bisschen, aber das ist nicht der Punkt. So sehr ich dich auch mag, ich glaube nicht, dass unsere Beziehung gesund ist.“
„Was stimmt daran nicht?“
Sie wollte nicht alles wiederholen, was sie schon einmal gesagt hatte. „Wir sollten eine Weile aufhören, uns aufeinander zu verlassen. Ich tue dir damit keinen Gefallen. Du solltest mit anderen Frauen ausgehen, solltest eine finden, die alles für dich sein kann.“
„Das möchte ich aber selbst entscheiden“, entgegnete er. „Du bist die Frau, die nachvollziehen konnte, wie ich mich fühlte, nachdem Tiffany mich verlassen hatte. Wir waren diejenigen, die verletzt wurden, und es ist eben so, dass wir eine Menge gemeinsam haben. Jetzt möchtest du, dass wir das alles aufgeben?“
„Ich kann mich wohl nicht besonders gut ausdrücken.“
„Doch, das kannst du. Ich habe die Botschaft klar und deutlich verstanden. Du willst, dass wir uns nicht mehr treffen, aber ich kapiere nicht, warum, besonders jetzt. Es ist … es ist wie damals.“
„Ich bin nicht Tiffany!“
„Warum habe ich dann dieses komische Gefühl im Bauch? Warum geht es mir jetzt genauso wie an dem Tag, als sie mir eröffnet hat, dass sie einen anderen Mann liebt? Es ist wieder eine Zurückweisung.“
„Nein, ist es nicht.“ Sie hatte sich wirklich nicht richtig ausgedrückt. „Ich möchte, dass wir Freunde bleiben. Ich will aber auch, dass du dich mit jemand anders verabredest.“
„Warum?“, wollte er wissen. „Ich mag dich.“
„Ich mag dich auch. Aber ich glaube trotzdem, wir sollten uns eine Weile nicht sehen.“
Sie lächelte und griff über den Tisch, um seine Hand zu drücken. „Du bist ein wundervoller Mann, Paul, und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich es schätze, was du alles für mich getan hast. Aber es wird Zeit für uns, loszulassen und zu versuchen, eine Beziehung zu anderen aufzubauen.“
„Das ist also kein Korb?“, fragte er ironisch. „Für mich klingt es aber verdammt danach.“
„Unabhängiger voneinander zu werden heißt nicht, dass wir nicht miteinander telefonieren und uns durch Gespräche unterstützen können. Ich möchte, dass wir eine gesunde Beziehung zueinander pflegen und richtige Freunde sind.“ Bethanne blickte sich im Lokal um, weil sie fürchtete, ihr Gespräch würde den halben Laden unterhalten. Sie lehnte sich vor und sprach leise weiter. „Ich möchte, dass du dich mit einer wundervollen Frau triffst, die verrückt nach dir ist.“
„Ich dachte, das wärst du.“
Sie seufzte. „Du weißt nicht, wie leicht es ist, sich in dich zu verlieben. Mir ist es ja auch fast so ergangen.“
Offensichtlich schmeichelten ihm ihre Worte, denn er entspannte sich ein wenig. „Was hält dich davon ab?“
„Mein Gewissen“, sagte sie. „Ich bin nicht die richtige Frau für dich.“
„Lass mich das lieber beurteilen“, sagte er wieder.
„Aber anders herum ist es genauso.“
Er sah sie düster an. „Mit anderen Worten, ich bin auch nicht der richtige Mann für dich.“
Sie nickte. „Ich hätte früher etwas sagen sollen, aber ich hatte nicht den Mut, dich gehen zu lassen. Deine Freundschaft war so wichtig für mich.“ Sie holte tief Luft. „Ich hoffe, du findest eine Frau, mit der du Kinder haben kannst. Du bist sicher ein wundervoller Vater.“ Sowohl Andrew als auch Annie, die ihn einige Male getroffen hatten, mochten ihn sehr gern.
„Na gut. Aber ich habe immer noch vor, dich zu sehen. Und dich anzurufen.“ Das würde er sicher auch tun, vor allem in der ersten Zeit. Doch wenn er erst für eine andere Beziehung bereit war, würden die Anrufe seltener werden. Das würde bestimmt hart für sie werden.
„Du hast mir so sehr geholfen, mein Selbstbewusstsein zu stärken“, sagte sie, fast den Tränen nahe. „Nachdem Grant mich verlassen hatte, war ich überzeugt, dass mich kein Mann jemals wieder attraktiv finden könnte.“
„Für mich warst und bist du attraktiv“, sagte er zärtlich.
„Danke.“
„Wirst du dich mit anderen Männern treffen?“, fragte er. „Es würde mich beruhigen, wenn ich wüsste, dass ich mich nicht ganz allein da draußen dem großen Abenteuer stelle.“
Bethanne bemühte sich zu lächeln.
„Ich denke, nach einer Weile werde ich das auch tun. Aber ich glaube nicht, dass ich schon bereit dafür bin.“ Sie würde es langsam angehen lassen, erst Mal dafür sorgen, dass sie finanziell auf eigenen Beinen stehen konnte, ihr Geschäft aufbauen. Das war ihr wichtigstes Anliegen, abgesehen davon, dass sie sich um ihre Kinder kümmern musste. Eins hatte sie in den letzten Monaten gelernt: dass sie keinen Mann in ihrem Leben brauchte. Nach zwanzig Jahren als Grants Frau hatte sie ihre eigene Identität gefunden, und dieses neu entdeckte Selbstwertgefühl genoss sie sehr.
Ein Teil dieser Identität war, dass sie sich selbst als Geschäftsfrau sah. Vor zwei Tagen hatte sie einen Anruf von dem Freund eines Freundes erhalten, der wissen wollte, ob sie auch Catering machte. Das tat sie nicht, aber sie konnte jemanden empfehlen. Dieses Gespräch brachte sie auf eine Idee. Sie hatte Talent für das Organisieren von Partys und gesellschaftlichen Anlässen. Bisher veranstaltete sie hauptsächlich Kinderfeste, aber sie wollte das Geschäft ausweiten, das Angebot verbreitern und sich mit anderen zusammentun. Es gab unendlich viele Möglichkeiten, die für alle Beteiligten von Vorteil wären. Vielleicht könnte sie sogar Hochzeitsplanerin werden, überlegte Bethanne. Was war eine Hochzeit denn anderes als eine einzige riesige Party?
„Ich werde mich mit jemandem verabreden, wenn du das auch tust“, sagte Paul nach langem Schweigen.
Mehr als diese Ankündigung brauchte Bethanne nicht. „Ich denke, es wäre für uns beide das Beste.“
Wie ein kleiner Schuljunge, der etwas Aufregendes vorhatte, stützte er die Ellenbogen auf den Tisch. „Irgendwelche Vorschläge, wo ich anfangen soll?“
Bethanne unterdrückte ein Kichern. „Wie sieht es in deinem Büro aus?“
Er schüttelte den Kopf. „Alle sind bereits verheiratet.“
„Ich könnte wetten, dass schon mal jemand aus deinem Bekanntenkreis angeboten hat, ein Blind Date für dich zu organisieren.“
Paul schüttelte wieder den Kopf. „Nein danke.“
Sie konnte ihn gut verstehen. „Ich habe neulich so ein Deko-Kissen gesehen, auf dem der Spruch aufgedruckt war: „Ich hatte so viele Blind Dates, dass ich jetzt eine Brille brauche.“
Sie lachten beide, doch Paul wurde schnell wieder ernst. „Ich glaube nicht, dass ich jemanden finde, der mich genauso zum Lachen bringt wie du.“
„Du musst es einfach versuchen“, machte sie ihm Mut und versuchte, nicht über das Kompliment nachzudenken.
„Wie sieht es bei dir aus?“, fragte er. „Wenn du feststellst, dass du so weit bist, wo willst du dann einen Mann treffen? In einem Club?“
„Oh, wohl kaum“, sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dafür habe ich nicht die richtigen Schuhe.“ Er lachte, so wie sie es beabsichtigt hatte. „Ich werde meine Augen und Ohren offen halten. Irgendwann treffe ich jemanden, durch Freunde oder mein Geschäft oder eben durch Zufall.“
„Aber du siehst dich jetzt nicht um?“
„Nein! Noch nicht.“
„Vielleicht solltest du aber.“ Sein Lächeln wirkte ansteckend. Er wandte sich um, verdrehte den Hals und musterte die anderen männlichen Gäste des Lokals.
„Paul! Jetzt werde nicht albern.“
„Bin ich das?“, fragte er grinsend. „Wie wäre es mit dem Typ da drüben – der mit der Baseballkappe?“
„Paul, hör auf“, zischte sie leise. „Und zwar sofort. Es sei denn, du willst, dass ich dich ein paar Frauen vorstelle.“ Es war nur fair, wenn sie sich revanchierte. Deshalb blickte sie zu der Kellnerin hinüber. Die junge Frau nahm sofort eine Kaffeekanne und kam damit an ihren Tisch. Auf ihrem Namensschild stand „Cindy“.
„Hallo, Cindy“, sagte Bethanne freundlich. „Das hier ist Paul. Er ist alleinstehend und noch zu haben.“
Cindy lächelte Paul schüchtern zu und goss ihnen beiden Kaffee nach.
„Wären Sie daran interessiert, sich mit einem Mann wie Paul zu verabreden?“, fragte Bethanne.
„Oh, sicher.“
Cindy hatte Bethannes Meinung bestätigt. „Was habe ich dir gesagt?“, rief sie triumphierend.
„Cindy, was machen Sie morgen gegen fünf?“, wollte Paul wissen.
Sie sah ihn enttäuscht an. „Arbeiten. Ich habe erst um neun Schluss, aber dann hätte ich Zeit.“
Schon besprachen Cindy und Paul, wohin sie gehen wollten.
Cindy entfernte sich lächelnd, und Paul lehnte sich zu Bethanne vor. „Ich möchte mich absichern, okay? Ich tue, was du vorschlägst, aber wenn es nicht funktioniert, komme ich zu dir zurück.“
„Paul“, schimpfte sie, aber dann gab sie nach. „In Ordnung.“
„Gut.“ Er grinste und hob seinen Kaffeebecher, um ihr damit zuzuprosten.