41. KAPITEL

Courtney Pulanski

Ihre Großmutter meinte, Courtney würde nicht mehr viel länger mit ihrem Rad fahren können. Zwei oder drei Wochen höchstens. Die Herbstregen begannen Mitte Oktober, und es wäre gefährlich, auf den glatten Straßen unterwegs zu sein. Bald würde es schon am späten Nachmittag dunkel werden.

Courtney würde das Radfahren als körperliche Betätigung fehlen. Es half ihr, Frust loszuwerden und sich aus der Küche fernzuhalten. Bislang hatte sie es geschafft, nach dem Abnehmen der fünfzehn Kilo ihr Gewicht zu halten, was schon eine ziemliche Leistung war. Inzwischen fiel es ihr leichter, vernünftig zu essen, aber oft dachte sie noch sehnsüchtig an Schokolade und Kuchen. Aber sie wusste, dass das Zeug pures Gift für sie war.

Doch es gab etwas, das sie von ihrer Diät ablenkte: Sie hatte inzwischen ein paar neue Freunde gefunden, zu denen auch Mike, ihr Chauffeur, gehörte – so bezeichnete er sich selbst. Er war zwar noch immer sehr schüchtern, doch sie hatte entdeckt, dass er einen sehr trockenen Humor besaß. Ab und zu, meist völlig unerwartet, machte er einen wirklich verrückten Witz. Bis vor Kurzem hatte sie gehofft, Mike würde sie zum Ball einladen, doch ihr war klar, dass er jemand anders im Auge hatte.

Erst jetzt lernte sie ihre Mitschüler nach und nach kennen. Den größten Teil der Woche hing sie mit Monica und Jocelyn herum, zwei Mädchen aus dem Mathe-Kurs. Jocelyn und Mike mochten sich und passten gut zusammen, also spielte Courtney die Rolle der Kupplerin.

Annie war nach wie vor ihre beste Freundin. Sie telefonierten oft und trafen sich in der Schule, aber sie hatten keinen Unterricht zusammen. Courtney mochte auch Andrew noch immer sehr gern. Ein wenig mehr, als ihr lieb war.

Sie nahm eine scharfe Kurve mit ihrem Rad, fuhr die Straße zum Haus ihrer Großmutter hoch und hielt an. Sie stieg ab und brachte das Rad in die Garage. Den Fahrradhelm unter dem Arm ging sie zur Küchentür.

„Bist du es, Courtney?“, rief Grams aus dem Wohnzimmer.

„Ja, ich bin’s!“, rief Courtney zurück, als sie sich vors Waschbecken stellte, um etwas Wasser zu trinken.

„Du hast Besuch, meine Liebe.“

Courtney stellte das Glas ab und überlegte, ob sie irgendeinen Wagen vor der Tür gesehen hatte. Sie konnte sich nicht denken, wer ihr Gast sein sollte.

Als sie ins Wohnzimmer ging und Andrew auf dem Sofa entdeckte, wäre ihr fast der Helm aus der Hand gefallen. „Hallo“, brachte sie mit einiger Mühe raus.

„Hallo.“ Andrew grinste sie an.

„Sieh doch, meine Liebe, er trägt die Socken, die du ihm gestrickt hast.“ Grams schien darüber hoch erfreut zu sein. „Na gut, ich werde euch junge Leute mal allein lassen, damit ihr besprechen könnt, was immer ihr wollt.“

„Danke, Mrs. Pulanski.“

Vera blieb auf dem Weg zur Küche stehen. „Ich habe ein paar Haferkekse im Gefrierfach, die kann ich auftauen, wenn Sie möchten, Andrew.“

Er wechselte einen Blick mit Courtney. „Vielen Dank, Mrs. Pulanski, vielleicht ein andermal.“

„Du möchtest auch nichts, oder?“, erkundigte sie sich, an ihre Enkeltochter gewandt.

„Nichts, danke.“

Grandma nickte und verließ wie versprochen das Zimmer.

„Weshalb bist du denn hier?“, fragte Courtney. Es bestand kein Anlass, lange Small Talk zu halten. Sie war abgehetzt und verschwitzt, und wenn er sich vorher angekündigt hätte, wäre sie nicht mit dem Rad herumgefahren, sondern zu Hause geblieben.

„Ich wollte mit dir reden.“

„Seit wann bist du denn hier?“

Er sah auf die Uhr. „Seit ungefähr zehn Minuten. Es war lustig, mit deiner Großmutter zu quatschen. Du warst ein süßes Baby.“

Courtney verdrehte die Augen. „Sie hat dir Babyfotos von mir gezeigt?“

„Ja, auf einigen warst du nackt.“

„Nein!“ Das würde Courtney ihr nie vergeben.

Andrew lachte. „War nur ein Scherz.“

„Das ist nicht komisch.“ Sie setzte sich mit so viel Abstand wie möglich zu ihm auf das Sofa und hoffte, dass ihre Gesichtsfarbe sich bald normalisieren würde.

Er seufzte tief und sah sie dann an. „Hast du es schon gehört?“

Sie dachte an den neuesten Klatsch, der in der Schule umherging. Leider bekam sie nicht allzu viele Gerüchte zu Ohren, und selbst wenn, dann kannte sie meist die Typen gar nicht, um die es ging.

„Was gehört?“

„Melanie und ich gehen nicht mehr miteinander. Schon eine ganze Weile nicht, aber es wurde im Sommer ein bisschen kompliziert und … Na ja, sagen wir einfach, es ist aus.“

Andrew schien auf einen Kommentar von ihr zu warten. Courtney war sich nicht sicher, was sie dazu sagen sollte. „Das tut mir leid“, war das Beste, was ihr einfiel.

„Tatsächlich?“

Nicht direkt, aber … „Schluss machen ist immer hart.“

„Für mich in diesem Fall nicht. Melanie und ich haben nicht viel gemeinsam.“

„Was bedeutet das für den Ball?“

Andrew zuckte die Schultern. „Gar nichts. Wenn ich zum König gewählt werde, habe ich eine Begleiterin dabei, und wenn Melanie Königin wird, hat sie ihren. Keine große Sache.“

Da sie neu auf der Schule war, konnte sich Courtney nicht vorstellen, wie das funktionierte.

„Gehst du denn auch hin?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Er sah sie überrascht an. „Ich dachte, Mike würde dich einladen.“

Courtney beschönigte die Wahrheit ein wenig. „Ich glaube, er sammelt noch Mut, aber bisher hat er mich nicht gefragt.“ Sie fühlte sich augenblicklich unwohl dabei, es so darzustellen, als würde Mike mit ihr dorthin gehen wollen. Aber Andrew sollte nicht denken, dass niemand an ihr interessiert war – was leider zutraf –, und sie womöglich auf eine Einladung von ihm hoffte.

„Es wird langsam knapp, meinst du nicht?“

Bis zum Ball blieb ihnen noch eine Woche, und fast jeder hatte bereits eine Verabredung. Courtney war sicher, dass Mike Jocelyn fragen würde.

„Warum fragst du?“, wollte Courtney wissen. „Und warum bist du überhaupt hier?“

„Kann ein Freund nicht mal einfach so ohne einen Grund vorbeikommen?“

Plötzlich fühlte Courtney einen Knoten in ihrem Bauch. „Deine Mutter hat dich geschickt, oder?“ Sie stand auf und begann, hin und her zu laufen. Kein Wunder, dass er so zurückhaltend war! Courtney fiel wieder ein, dass Bethanne es war, die ihm vorgeschlagen hatte, jemanden für sie zu suchen, der sie zur Schule mitnahm. Sie hatte ihn auch damals gedrängt, Courtney zum Mariners-Spiel einzuladen.

„Meine Mutter hat damit nichts zu tun.“

„Gut. Wie auch immer.“

„Jetzt raste nicht aus“, murmelte er, sprang auf und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Hör zu, wahrscheinlich hätte ich meine Frage, ob du mit mir zum Homecoming-Ball kommst, auch irgendwie origineller einleiten können, aber …“

Courtneys Kopf schnellte hoch. „Du lädst mich zum Ball ein?“ Sie hatte es nicht einmal zu träumen gewagt. Meinte er das ernst? Oder erlaubte er sich wieder einen Scherz? Das wäre echt gemein.

Er nickte. „Aber hör zu, es könnte vielleicht etwas problematisch mit Melanie werden.“

„Was soll das heißen?“

Er seufzte. „Sie ist der eifersüchtige Typ.“

„Sie wollte also gar nicht Schluss machen?“

Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Nein, nicht direkt. Sie ist ziemlich sauer und … Na ja, ich dachte, ich warne dich besser.“

Sie runzelte die Stirn. „Warum hast das nicht früher gesagt?“

Er lächelte entschuldigend. „Ich hab befürchtet, dass du dann meine Einladung ablehnst.“ Er musterte sie erwartungsvoll.

Es war kein Scherz. Er meinte es ernst. Andrew wollte mit ihr zum Homecoming-Ball gehen. „Ach, Andrew“, sagte sie leise und riss sich zusammen, damit ihre Stimme nicht zitterte. „Ich komme gerne mit.“ Sie hatte überhaupt nichts zum Anziehen – wenn sie jemals ihre große Schwester brauchte, dann jetzt.

Andrews Gesicht hellte sich auf. „Annie war überzeugt davon, dass du zusagst.“

„Es war ihre Idee?“

„Keineswegs, aber sie hat mir ein paar Tipps gegeben.“ Er grinste und hob den einen Fuß. „Sie hat vorgeschlagen, ich solle deine Socken tragen. Hat es gewirkt?“

Courtney lachte. „Sag ihr, ja, hat es“, erwiderte sie.