33. KAPITEL
Courtney Pulanski
Es klingelte zur zweiten Stunde, und in der Highschool brach das Chaos aus, als die Schüler aus ihren Klassenräumen strömten. Courtney glaubte, ihren Weg zu kennen. Während der Orientierungsstunde hatte sie sich genau eingeprägt, wo ihre Kurse in diesem Gebäude stattfanden, aber jetzt schien sie sich hoffnungslos verlaufen zu haben.
Der einzige Lichtblick an diesem Tag würde, wie sie hoffte, der Leistungskurs Englisch sein, da Andrew Hamlin daran teilnahm. Nicht dass sie erwartete, dass er mit ihr redete oder so. Aber wenigstens würde sie ein bekanntes Gesicht sehen.
Wieder klingelte es, und die Flure waren plötzlich wie leer gefegt. Courtney drückte die Bücher an sich und sah sich völlig desorientiert um. Schließlich fand der Flurordner sie und zeigte ihr die richtige Richtung. Da sie jetzt schon zu spät kam, rannte sie den ersten und dann den nächsten Flur entlang zum Englischraum.
Der Unterricht hatte bereits begonnen, als sie die Tür öffnete und unauffällig hineinschlüpfen wollte. Aber leider hatte sie umsonst gehofft, wie sie feststellen musste, als die ganze Klasse sich zu ihr umdrehte.
„Tut mir leid“, murmelte sie, an den Lehrer gerichtet. „Ich habe mich verirrt.“
„Meinen Sie, dass Sie den Weg morgen finden werden?“, erkundigte sich Mr. Hazelton streng.
Sie nickte und suchte sich einen freien Platz so weit hinten wie möglich. Von ihrem Tisch aus blickte sie sich um und suchte nach Andrew. Er saß drei Reihen links von ihr, ziemlich weit vorn.
Fünfundvierzig Minuten später klingelte es, und Courtney überprüfte ihren Stundenplan, um sich zu vergewissern, dass sie jetzt Mittagspause hatte. Es graute ihr davor, in die Cafeteria zu gehen. In Chicago würde sie mit ihren Freundinnen zusammen essen, lachen und den neuesten Klatsch austauschen. Hier fiel sie sicher auf wie ein Suchscheinwerfer im Nebel. Die Neue. Ohne Freunde, allein.
Sie trödelte herum, bis der Klassenraum leer war, dann packte sie ihre Sachen zusammen und ging nach draußen. Zu ihrer Überraschung wartete Andrew an der Tür.
„Wie läuft’s?“, erkundigte er sich. Seine Bücher hatte er unter einen Arm geklemmt. Courtney fiel sofort auf, wie braun gebrannt er war – und wie süß.
„So wie erwartet“, erwiderte sie. Alle schienen in dieselbe Richtung zu gehen, und Courtney folgte dem Strom. Andrew ebenfalls. Sie blieb kurz an ihrem Schließfach stehen, um die Bücher dortzulassen. Es freute sie, dass Andrew wieder auf sie wartete. „Ich weiß jedenfalls, wie man einen guten Auftritt inszeniert, oder?“, sagte sie trocken.
Er grinste, was ihn noch süßer aussehen ließ, und sie musste sich zwingen, ihn nicht anzustarren. „Ich habe Annie noch nicht gesehen.“
„Sie hat vorhin nach dir gesucht.“
Das war ermutigend.
„Wie bist du zur Schule gekommen?“
Es war peinlich, zuzugeben, dass sie den Bus genommen hatte. Ihre Großmutter brauchte ihren Wagen, und außerdem war Courtney noch nie damit gefahren. Den ganzen Sommer war sie mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, und es hatte immer gut geklappt. Aber jetzt war das anders. Nur Deppen kamen mit dem Rad zur Schule. Also blieb nur Laufen oder der Bus. Sie hatte sich für den Schulbus entschieden, war aber die einzige ältere Schülerin als Fahrgast gewesen.
„Mit dem Bus“, sagte sie leise.
„Ich würde dir ja anbieten, dich zu fahren, aber ich muss wegen dem Footballtraining immer früher da sein.“
Das würde er für sie tun?
„Meine Mutter hat Annie hergebracht“, erklärte er.
„Ich kann meine Großmutter schlecht darum bitten.“
Er nickte zustimmend. „Ich denke drüber nach. Ein Freund von mir wohnt nicht allzu weit von dir entfernt. Wenn du Mike Benzingeld anbietest, wird er dich bestimmt abholen.“
Courtney lächelte erfreut. Sie war erleichtert und ein bisschen erstaunt über ihr Glück. Das war eine perfekte Lösung, und sie würde diesem Jungen zahlen, was er verlangte. Sie sparte sich auf diese Weise nicht nur die Demütigung, den Bus nehmen zu müssen, sondern hatte auch gleichzeitig die Gelegenheit, jemanden kennenzulernen.
Als sie die Cafeteria betraten, erwartete sie, dass Andrew zu seinen Freunden gehen würde. Stattdessen stellte er sich mit ihr in die Warteschlange vor der Essensausgabe.
„Du siehst übrigens sehr gut aus“, bemerkte er.
Sie hatte in diesem Sommer hart an ihrer Figur gearbeitet, und es freute sie, dass ausgerechnet er bemerkte, wie schlank sie geworden war. „Danke. Du aber auch.“
„Das ist das Footballspielen“, erklärte er. „Ich werde jedes Jahr breiter.“ Er stellte sein Tablett hinter ihrem ab. „Ich werde mit Mike reden und sage dir heute Abend Bescheid.“
„Cool.“
Sie wählte einen Chefsalat mit fettarmem Dressing und verzichtete auf Limonade. Stattdessen nahm sie eine Flasche Wasser. Wenn es einen Preis für Charakterstärke gäbe, müsste sie den erhalten, fand sie in dem Moment.
„Court!“, rief Annie und kam zu ihr gerannt, nachdem Courtney ihren Salat bezahlt hatte. „Komm mit, ich stelle dir meine Freundinnen vor.“
„Ist gut.“ Sie folgte Annie, dann fiel ihr ein, dass sie Andrew zurückgelassen hatte. Sie drehte sich um, hielt ihr Tablett mit beiden Händen hoch und sagte: „Wir reden später, ja?“
„Später, ja.“ Er nickte und lief quer durch den Raum, um sich zu einer Gruppe aus der Abschlussklasse zu setzen.
„Er sucht jemanden, der mich zur Schule mitnehmen kann“, berichtete Courtney ihrer Freundin sofort, weil sie die Neuigkeit nicht länger für sich behalten konnte.
„Mom hat ihn gebeten, sich darum zu kümmern“, erwiderte Annie. So viel dazu, dachte Courtney und versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Bethanne war dafür verantwortlich. Na ja, es konnte ihr ja eigentlich auch egal sein. Statt sich darüber aufzuregen, dass Andrew die Idee nicht selbst gehabt hatte, sollte Courtney dankbar sein – das war sie auch. Nur eben nicht ganz so glücklich wie vorher.
„Annie!“, rief ein Mädchen. „Hier!“
Annie zögerte. Als sie auf das Mädchen zuging, hatte Courtney den Eindruck, als passte ihrer Freundin irgendwas nicht. Courtney folgte ihr zu dem Tisch, an dem zwei stark geschminkte Schülerinnen saßen. Sie hatten zahlreiche Piercings an den unterschiedlichsten Stellen und trugen hauptsächlich Schwarz. Courtney fühlte sich völlig fehl am Platz. Annies Freundinnen wiederum beäugten sie, als wäre sie ein Alien.
„Das ist Courtney“, stellte sie Annie vor. „Wir haben uns im Sommer kennengelernt. Tina und Shyla.“ Sie zeigte erst auf die eine, dann auf die andere.
„Hallo“, sagte Courtney.
„Hallo.“ Shyla lächelte, Tina nicht.
„Wirst du dich als Cheerleader bewerben?“, erkundigte sich Tina, die schwarze Lederklamotten trug. Ihre Nase war an fünf verschiedenen Stellen gepierct.
Dass die Freundinnen von Annie fanden, sie wäre schlank genug, um in diese Gruppe zu passen, war ein Kompliment. Aber sie wusste, dass es nicht so gemeint war.
„Eigentlich nicht.“
Annie sah die beiden mit gerunzelter Stirn an. „Courtney ist meine Freundin. Kommt schon, Mädels, sie ist neu hier.“
Tina wandte sich von Courtney ab und starrte Annie an. „Wir haben in letzter Zeit nicht viel von dir gesehen.“
„Ich war ziemlich beschäftigt“, entgegnete Annie.
„Mit Courtney?“, wollte Shyla wissen.
Annie kniff die Augen zusammen. „Ja, was dagegen?“
„Vielleicht wird es Zeit, dass du entscheidest, wer deine Freundinnen sind“, schlug Tina vor, „entweder solche wie die oder wir. Wenn du der Cheerleadertyp sein willst, brauchst du nur Bescheid zu sagen.“
„Vielleicht will ich das ja gar nicht“, murmelte Annie. „Komm, Courtney, lass uns hier abhauen.“
Annie wandte sich um, um zu gehen, und wieder folgte ihr Courtney. Sie spürte förmlich, wie sie von Blicken durchbohrt wurde. Diesen beiden wollte sie in nächster Zeit besser nicht allein in der Mädchentoilette begegnen.
„Du hast ja sowieso noch nie richtig zu uns gehört“, rief Tina Annie boshaft nach.
Annie achtete nicht darauf. Sie führte Courtney durch die Cafeteria.
Irgendwo fanden sie einen freien Tisch, auf dem Courtney ihr Tablett abstellte. „Annie, tut mir leid.“
„Mach dir keine Gedanken deshalb. Ich bin denen sowieso über den Kopf gewachsen.“ Trotzdem sah sie deprimiert aus.
„Ich will nicht, dass du meinetwegen …“
„Nimm es nicht persönlich, hörst du?“, unterbrach Annie sie schroff. „Das hat nichts mit dir zu tun.“
Courtney zuckte die Schultern und wusste nicht, was sie sagen sollte.
Annie zog die Stirn kraus, während sie beide allein an dem Tisch saßen. Nachdem sie ihren Salat gegessen hatten, holte Annie einen Apfel aus ihrer Tasche, biss ab und begann zu kauen. Sie wechselten kaum ein Wort.
„Sehen wir uns später?“, fragte Courtney, als es klingelte.
„Wahrscheinlich.“ Annie klang nicht gerade begeistert.
Nachdem Annie gegangen war, brachte Courtney ihr Tablett zur Essensausgabe zurück, wo sie zwei Mädchen sah, die die Köpfe zusammensteckten, tuschelten und zu ihr herübersahen. Sie erkannte Shelly und Melanie, Andrews angebliche Freundin und ihre Kumpanin. Sie wollte ihnen zuwinken, beschloss dann aber, dass es besser und vor allem einfacher wäre, sie zu ignorieren.
Der Rest des Nachmittags verlief ohne besondere Vorkommnisse. Sie kam zu den restlichen Unterrichtsstunden nicht zu spät, und das war immerhin ein Fortschritt. Trotzdem war ihr Magen wie zugeschnürt, als die Schule zu Ende war und sie sich auf den Weg zum Bus machte. Sie hoffte inständig, dass die Mitfahrgelegenheit mit Andrews Freund klappen würde.
Beim Einsteigen in den Bus sah Courtney Annie mit den beiden mürrischen Mädchen aus der Cafeteria. Sie standen in einem dichten Kreis zusammen und redeten. Keine von ihnen lächelte.
„Steigst du nun ein oder nicht?“, beschwerte sich der Junge hinter Courtney, als sie auf der Treppe stehen blieb.
„Entschuldigung“, murmelte sie und beeilte sich, in den Bus zu kommen. Als sie sich hingesetzt hatte, bemerkte sie durch das Fenster Andrew, der sich mit Melanie unterhielt. Er hatte den Arm um ihre Taille gelegt, und sie blickte mit großen runden Kulleraugen zu ihm auf. Courtney wurde fast übel. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie würde ihr Bestes geben, um dieses Jahr zu überstehen, eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Sie hatte keine großen Erwartungen mehr und offensichtlich auch keine Freunde.