34. KAPITEL
Elise Beaumont
Die Enttäuschung kam für Elise, kurz nachdem ihre Enkelsöhne wieder zur Schule gingen. Sie hatte die ganze Zeit erwartet, gewusst, dass Maverick das Spielen nicht allzu lange lassen konnte. Seit er in Seattle war, bangte sie, beobachtete ihn genau und befürchtete das Schlimmste. Wenn sie überhaupt etwas überraschte, dann die Tatsache, dass Maverick die Enthaltsamkeit so lange durchgehalten hatte. Die Wahrheit erfuhr sie, als das Treffen ihres Buchclubs stattfand.
„Dein Vater hatte mir eigentlich versprochen, mich heute Nachmittag zur Bibliothek zu fahren“, sagte Elise zu Aurora, nachdem sie so lange wie möglich gewartet hatte. Bisher war Maverick immer pünktlich gewesen. Sie wusste, dass es ein Fehler war, sich auf ihn zu verlassen, aber konnte einfach nicht anders – sie wünschte es sich so sehr. Nun musste sie sich beeilen, um noch rechtzeitig zu ihrem Treffen zu kommen.
„Bestimmt hat er eine plausible Erklärung“, sagte Aurora, immer sofort bereit, ihren Vater zu verteidigen.
Doch die nagenden Zweifel wurden immer größer. Maverick war, als er bei Aurora gewohnt hatte, einmal in der Woche für einige Stunden verschwunden gewesen, und niemand wusste, was er in dieser Zeit tat. Er hatte geschworen, nicht zu spielen, sich jedoch nicht bemüßigt gefühlt, sie darüber aufzuklären, wo er seine Zeit verbrachte. Sie wollte ihn nicht bedrängen. Es war ihr klar, dass sie Angst vor der Wahrheit hatte.
Und da war noch etwas anderes, das ihr Sorgen bereitete. Aurora verhielt sich Maverick gegenüber anders. Sie hätte nicht genau sagen können, inwiefern sich die Vater-Tochter-Beziehung verändert hatte, aber das war der Fall. Sie hatte es vor einigen Wochen bemerkt – Flüstern, verstohlene Blicke, so als teilten sie ein Geheimnis miteinander.
Aurora bot ihr an, sie zu fahren, doch Elise lehnte ab. „Ich nehme den Bus. Das ist kein Problem“, murmelte sie. Ihre Tochter hatte recht, was Maverick betraf. Er würde sicher eine glaubwürdige Entschuldigung haben, nur würde es eben genau das sein. Eine Entschuldigung. Eine Lüge …
„Dad kommt dich bestimmt nachher abholen“, sagte Aurora, als Elise das Haus verließ.
Sie nickte, vermutete aber etwas anderes. Während der Busfahrt versuchte sie – leider erfolglos – gegen ihre Befürchtungen anzukämpfen. Automatisch stieg sie in den nächsten Bus um. Nach all den Jahren, in denen sie die öffentlichen Verkehrsmittel benutzt hatte, kannte sie die Abfahrtzeiten im Schlaf.
Sie kam zu spät, und von dem Treffen selbst bekam sie nicht viel mit. Als die Versammlung sich wieder auflöste, wusste sie, dass sie sich den Weg hätte sparen können. Sie war nicht dazu in der Lage gewesen, sich zu konzentrieren, und hatte kaum etwas zur Diskussion beigetragen.
Ihre Zweifel und Vermutungen Maverick betreffend, konnte sie einfach nicht unterdrücken. Sie kannte seine Geschichte, hatte ihm aber so schrecklich gern glauben wollen, dass sie sich leichtsinnigerweise selbst etwas vorgemacht hatte. Ihn wieder zu lieben war so einfach gewesen – zu einfach.
Auf dem kurzen Weg zur Bushaltestelle kam sie an einigen Spielsalons vorbei. Jedes Mal, wenn sie diese Strecke ging, sah sie die Kasinos, hatte aber nie nur im Entferntesten den Wunsch verspürt, dort einen Blick hineinzuwerfen. Doch jetzt war der Drang, Maverick zu finden, überwältigend. Eisern widerstand sie dem Impuls. Das war eine entwürdigende Situation, in die sie sich während ihrer Ehe öfter gebracht hatte. Ihre Tochter hinter sich her ziehen, um auf Bowlingbahnen und in Gasthäusern nach ihm zu suchen. Zu hoffen, dass sie ihn fand, bevor er das Geld für die Miete verspielt hatte.
Die Erinnerungen stürzten auf sie ein, und als sie am späten Nachmittag aus dem Bus stieg, war sie mit den Nerven fertig. Es überraschte sie nicht, Mavericks Wagen vor dem Haus geparkt zu sehen. Da fasste sie einen Entschluss: Sie konnte das nicht länger mitmachen.
Er mied ihren Blick, als sie hereinkam, was ein weiteres Anzeichen dafür war, dass er etwas im Schilde führte.
„Hallo“, sagte sie steif.
„Elise.“ Er warf ihrer Tochter einen Blick zu, die sofort das Zimmer verließ. „Ich glaube, wir sollten miteinander reden. Ich entschuldige mich dafür, dass ich nicht hier war, um dich zum Buchclub zu fahren.“ Er schwieg kurz. „Es tut mir leid.“
„Ja, ich weiß, natürlich“, erwiderte sie und stellte ihre Tasche auf den kleinen Tisch in der Diele. Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, als sie in die Küche ging und den Krug mit Eistee aus dem Kühlschrank holte. Mit zitternden Fingern nahm sie sich ein Glas.
„Ich hoffe, wir können darüber reden“, sagte er dicht hinter ihr. Als sie sich umwandte, bemerkte sie, dass er die Hände gefaltet hielt wie ein reuiges Kind.
Sie zuckte die Schultern, als wäre alles nicht so wichtig. Verglichen mit der Tatsache, dass er die gesamte Kindheit ihrer Tochter versäumt hatte – eigentlich ihre ganze Ehe –, war das von heute wirklich nebensächlich.
„Du hast auf mich gezählt.“
„Es war kein Problem, mit dem Bus zu fahren.“
„Komm schon, Elise.“ Er streckte die Hände aus. „Ich kann es nicht ertragen, wenn du sauer auf mich bist. Ich bin kein kleines Schulkind, das die Leihfrist für ein Buch überzogen hat. Ich bin dein Mann.“
„Du warst mein Mann.“
„Okay, wir sind geschieden, aber …“
„Du hast heute Nachmittag gespielt.“ Das war keine Frage. Sie wusste es, und sie nahm an, damit hatte er in den letzten Wochen die Zeit seiner Abwesenheit verbracht, obwohl er es abstritt.
„Würdest du mir einmal zuhören?“
„Nein. Es gibt nichts mehr zu sagen. Du hast schon vor vielen Jahren deine Entscheidung getroffen, und du hast es wieder getan. Wettspiele sind dir wichtiger als ich, als unsere Ehe, als alles andere überhaupt. Es überrascht mich nicht. Warum sollte es? Die Geschichte wiederholt sich lediglich.“ Sie stellte das Glas nach einem einzigen Schluck wieder weg und wandte sich ab, um in ihr Zimmer zu gehen.
Maverick folgte ihr, er sprang schnell zurück, als sie die Tür zu ihrem Zimmer ein wenig zu heftig schloss. Obwohl sie wütend war, hatte Elise nicht beabsichtigt, ihm die Tür an den Kopf zu werfen. Sie lehnte sich mit der Schulter dagegen, fühlte sich zu schwach, um ohne eine Stütze zu stehen.
Er lief draußen im Flur auf und ab, sie hörte seine Schritte. „Ich bitte dich nur, mir zuzuhören. Bitte, Liebling, hör einfach nur zu.“
Sie schloss die Augen. Seit kurz vor der Scheidung hatte er sie nicht mehr Liebling genannt.
„Ich liebe dich, Elise. Ich weiß, du glaubst mir nicht, das kann ich dir nicht mal verübeln, aber es ist wahr.“
Diese Erklärung kam ihr nur allzu bekannt vor. Unfähig, sich zurückzuhalten, riss sie die Tür auf. „Ich glaube dir, dass du mich liebst“, sagte sie ganz ruhig. „Aber die Karten liebst du mehr.“ Er verzog schmerzhaft das Gesicht, und sie fürchtete, seine Mimik war ein Spiegel ihrer eigenen Empfindungen. Sie musste wegsehen und schloss die Tür wieder.
„Nein, nein, du musst mir glauben“, flehte er. „Ich tu es für dich.“
Elise starrte die Tür an. Auch das war eine bekannte Entschuldigung für sie. Niemals spielte er für sich. Es war nie das, was er wollte. Das bisschen Zeit, das ihnen geblieben war, hatte er immer mit Versprechungen vergeudet. Es waren immer leere Versprechungen gewesen.
Bestimmt hatte er über die Jahre eine ausreichende Menge an Geld gemacht – um den Pflichten seiner Tochter gegenüber nachzukommen, um zu reisen –, doch sie war sicher, dass er weit mehr verloren als gewonnen hatte. Das war bei Spielern allgemein so üblich.
„Heute Nachmittag war ich tatsächlich beim Pokern“, gab er zu. „Ich wollte erst mit dir darüber reden, aber ich wusste, dass du wütend werden würdest. Du hast dann diesen … Blick, der mich vollkommen fertigmacht. Bei dem ich das Gefühl bekomme, ich hätte dich wieder enttäuscht. Das hätte ich nicht ertragen.“
Aber es hatte ihn auch nicht davon abgehalten.
„Ich habe die Socken getragen, die du mir gestrickt hast, und habe mich dir während des ganzen Spiels so nahe gefühlt. Sie haben mir Glück gebracht.“
Elise wünschte, sie hätte doch lieber David die Strümpfe geschenkt, so wie es ursprünglich geplant gewesen war.
„Ich habe das Turnier gewonnen“, sagte er triumphierend.
Sie weigerte sich, darauf zu reagieren. Gewinnen war sicher das Schlimmste, was hatte passieren können. Es machte die Lage nur noch aussichtsloser. Maverick fühlte sich dadurch bestimmt nur ermutigt. Er würde mehr und mehr einsetzen, bis er wieder alles verlor, seinen Stolz eingeschlossen. In all diesen Jahren hatte sie ihn zu oft erlebt, wenn er verloren hatte, deprimiert und vollkommen am Boden.
„Willst du wissen, wie viel ich gewonnen habe?“
„Nein!“
„Das waren meine Glückssocken“, rief er durch die geschlossene Tür.
Sie wollte nichts mehr hören und schaltete den Fernseher ein, übertönte damit seine Stimme. Sie bekam nicht mit, wann er sich zurückzog, stellte aber zehn Minuten später fest, dass er gegangen war.
Aurora beobachtete sie genau, als Elise in die Küche kam. Sie legte eine gute Vorstellung hin, wie sie selbst fand. Glücklicherweise hatte Maverick das Haus verlassen, doch sie nahm an, dass er zum Dinner wiederkommen würde.
„Dad hat mich gebeten, mit dir zu reden“, sagte Aurora. Elise deckte den Tisch für das Abendessen. Sie stellte auch für Maverick einen Teller hin. Ihre Tochter hätte zu viele Fragen gestellt, wenn sie das nicht getan hätte. David saß im Wohnzimmer und las die Zeitung, die Jungs spielten hinten im Garten.
„Er spielt wieder“, sagte Elise für den Fall, dass Aurora nicht Bescheid wusste.
„Ich weiß.“
„Wie lange geht das schon?“ Plötzlich befürchtete sie, dass ihre Tochter an dem Betrug teilgehabt hatte.
Aurora sah sie an. „Soweit ich weiß, war es heute das erste Mal, seit er hier ist.“
„Hör zu, Aurora“, sagte Elise außer sich und packte ihre Tochter bei den Schultern. „Dein Vater ist spielsüchtig.“
„Er ist ein professioneller Spieler“, sagte Aurora tonlos. „Ja, ich gebe zu, er kann sich davon mitreißen lassen, aber er liebt es.“
Elise ertrug es kaum, dass ihre eigene Tochter das Problem nicht verstand oder verstehen wollte. „Spielen ist eine Suchtkrankheit – ähnlich wie Alkoholismus oder Drogenkonsum –, und es wirkt sich genauso zerstörerisch auf eine Beziehung und die Familie aus.“ Sie wollte sie daran erinnern, dass Mavericks Liebe zum Kartenspiel ihre eigene Familie auseinandergerissen hatte, doch sie verkniff sich die Bemerkung. Sie hatte gesagt, was gesagt werden musste.
„Er ist nicht so schlecht, wie du sagst“, beharrte Aurora.
Elise ließ die Hände sinken, sie wollte sich nicht darüber streiten. „Er ist dein Vater, und du liebst ihn. Ich werde nichts Negatives über ihn sagen – dich nur dringend bitten, nicht die Augen zu verschließen und die Realität zu verdrängen.“
Aurora betrachtete sie. „Er liebt dich, Mom, wirklich.“
Sie schluckte, um den Knoten in ihrem Hals zu lösen. „Ich weiß.“ Maverick liebte sie so, wie er lieben konnte – doch das war nicht ausreichend. Das war es vor siebenunddreißig Jahren nicht gewesen und auch jetzt nicht.
„Er hat mir versprochen, sofort aufzuhören, wenn das Turnier vorbei ist“, sagte Aurora.
Elise hatte auch das schon vorher gehört. „Und du glaubst ihm das?“ Wenn es nicht so tragisch gewesen wäre, hätte sie darüber gelacht.
„Ja, das tue ich. Er macht …“ Aurora biss sich auf die Lippe.
„Er macht was?“
„Er macht es aus Liebe zu dir. Um dir zu helfen. Das hat er gesagt.“
Elise begann so hysterisch zu lachen, dass David, der gerade die Abendnachrichten eingeschaltet hatte, über die Schulter zu ihnen herüberblickte.
„Dann sage ihm bitte, er soll mich nicht mehr so sehr lieben“, flüsterte sie. „Außerdem, ich will und brauche seine Hilfe nicht. Merkst du nicht, dass das alles nur Ausreden sind?“
„Ach, Mom.“
„Ich denke, es ist am besten, wenn wir nicht mehr über deinen Vater sprechen“, sagte sie in einem Tonfall, als ginge es um eine ganz alltägliche nette Unterhaltung.
„Du wirst nicht mit ihm reden?“
„Nein. Ich wüsste es sehr zu schätzen, wenn du mir sagen könntest, wann er hier sein wird. Denn ich werde dann in meinem Zimmer bleiben oder außer Haus sein.“
„Mom, tu das nicht.“
Es machte Elise traurig, ihre Tochter so verletzt zu sehen. Aurora war zwar verheiratet und selbst Mutter, doch dieses kleine Mädchen in ihr hoffte immer noch auf ein Happy End. Wie jedes Kind brauchte sie ihren Vater und sehnte sich nach der Sicherheit, zu wissen, dass sich ihre Eltern liebten.
„Grandma, Grandma“, rief Luke, als er von draußen hereingestürmt kam.
„Was ist denn?“ Elise hockte sich vor ihn.
„Hast du schon gehört?“, rief er aufgeregt. „Hast du schon gehört?“
„Luke …“, sagte Aurora warnend.
„Das ist in Ordnung. Grandpa meint, ich kann es sagen, wenn ich will.“
Elise sah stirnrunzelnd zu ihrer Tochter hoch. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie ihr etwas verheimlichte, konnte sich aber nicht vorstellen, was es war.
„Grandpa geht nach Karri Pik zu einem Pokerturnier!“
Elise blinzelte. „In die Karibik?“, fragte sie, an Aurora gewandt und richtete sich wieder auf. Maverick hatte bereits sein Versprechen gebrochen. In einer Sekunde schwor er, mit der Spielerei fertig zu sein, in der anderen buchte er eine Überfahrt, um an einem anderen Turnier teilzunehmen.