26. KAPITEL

Elise Beaumont

Elise hatte nie Autofahren gelernt. Ein Führerschein war ganz praktisch, wenn man sich irgendwo ausweisen musste, aber ansonsten kaum notwendig. Seattle besaß ein sehr gutes öffentliches Verkehrsnetz. Mit dem Bus kam sie normalerweise überallhin, wohin sie wollte. In seltenen Fällen brachte sie Aurora mit dem Auto, oder sie nahm ein Taxi.

Das war seit Mavericks Ankunft alles anders. Er brachte sie nur zu gern zu jedem beliebigen Zielort. Dort wartete er dann auf sie mit unendlicher Geduld. Die letzten zwei Wochen hatte er vor dem Wollgeschäft gesessen, während sie bei ihrem Strickkurs gewesen war. Sie hatte so oft von Bethanne, Courtney und Lydia gesprochen, dass er ihre Freundinnen schon fast so gut zu kennen schien wie sie selbst. Sie teilte ihre Sorgen mit ihm wegen Bethannes Chancen, einen Job zu bekommen, und berichtete von ihren Hoffnungen, dass Courtney ein gutes Abschlussjahr an der Schule verbringen würde. Außerdem erzählte sie ihm von Jacqueline, mit der sie nun zu den Mittagstreffen des Geburtstagsclubs ging.

„Lass uns eine kleine Fahrt mit dem Auto machen“, schlug er Freitagnachmittag vor, als sie mit dem Lunch fertig waren.

Aurora, David und die Jungen waren in den Zoo gefahren, um einen ihrer seltenen Familienausflüge zu unternehmen. Maverick und Elise waren allein.

„Eine Fahrt wohin?“, fragte sie. Inzwischen ging sie ihm nicht mehr aus dem Weg, sondern suchte sogar seine Gesellschaft. Das ständige Misstrauen ihm gegenüber hatte sie abgelegt – auch wenn sie nie vergaß, dass er ein Spieler war. Es gefiel ihr nicht. Sie fürchtete, er würde sein Versprechen nicht halten können, war jedoch entschlossen, die Zeit, die ihr mit ihm blieb, zu genießen, bevor er seiner Sucht wieder verfiel.

Trotz aller Bedenken hörte sie gern seine Geschichten. Auch wenn sie das Wetten um Geld nicht gutheißen konnte, so musste sie doch zugeben, dass sie die Berichte über seine Heldentaten faszinierten. Er war überall auf der Welt gewesen, in Europa, Australien, in der Karibik. In den meisten Orten hatte er gespielt, aber auch richtige Abenteuer erlebt – eine Bootsfahrt den Nil hinunter, eine Tour durch das australische Outback und vor Kurzem eine – ungerechtfertigte – Verhaftung in Paris. Er war einigen Prominenten begegnet und erzählte ihr Anekdoten über sie. Elise hätte ihm stundenlang zuhören können. Sie beneidete ihn – nur ein bisschen – um sein ausschweifendes Leben. Anders als Maverick hatte Elise immer vorsichtig und sparsam gelebt, sowohl was das Finanzielle als auch das Emotionale anging.

Die ideale Art zu leben, dachte sie, wäre wahrscheinlich ein Mittelding zwischen seiner und meiner Art, die Welt zu betrachten und die Dinge anzugehen …

„Ich dachte, es wäre schön, mal in die Berge zu fahren“, sagte Maverick. „Es ist Jahre her, seit ich am Mount Rainier gewesen bin.“

Elise runzelte die Stirn. „Dazu ist es schon ein bisschen spät, meinst du nicht?“

„Ach, komm schon, Elise. Wird dir das nicht langweilig, nur im Haus herumzusitzen und zu stricken?“

„Tatsächlich macht es mir Spaß zu stricken, vielen Dank auch“, entgegnete sie verärgert.

„Nimm das Handarbeitszeug doch mit. Du kannst ja im Auto stricken, oder?“

„Ich … denke schon.“ Plötzlich wollte sie nicht nachgeben und sich seinen Plänen fügen. Es schien, als könne sie ihm überhaupt keinen Widerstand mehr entgegenbringen, und das jagte ihr einen gehörigen Schreck ein. „Ich denke, ich lasse es. Aber danke, dass du an mich gedacht hast“, sagte sie steif.

Maverick schwieg daraufhin. Seine Enttäuschung war nicht zu übersehen. Er spülte seinen Teller ab und stellte ihn in den Geschirrspüler. Dann verschwand er für ein paar Minuten und erschien wieder mit einem Spionagethriller, den er gerade las, um sich damit ins Wohnzimmer zu setzen.

Während Elise den Tisch abwischte, blickte sie wütend zu ihm hinüber. Sie wehrte sich dagegen, von ihm manipuliert zu werden.

„Du kannst doch auch ohne mich fahren“, sagte sie.

Maverick ließ das Buch sinken und blickte sie über den Rand seiner Lesebrille hin an. „Ich weiß.“ Dann las er weiter, offensichtlich von dem Roman gefesselt.

Elise ging über den Flur in ihr Zimmer und holte ihr Strickzeug. Den ersten Socken hatte sie bereits fertig und arbeitete jetzt an dem zweiten. Am vergangenen Dienstag hatte sie Wolle für ein neues Paar gekauft, das sie für ihre Tochter stricken würde.

Sie hatte zwei Reihen fertiggestellt, als sie schließlich mit einem gequälten Seufzer das Strickzeug beiseitelegte und ins Wohnzimmer marschierte. „Okay, ich komme mit.“

Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. „Ich habe gehofft, dass du’s dir noch anders überlegst.“

Anscheinend setzte er seinen Willen durch, indem er anderen Schuldgefühle machte – und sie war darauf eingegangen. Er war ein Meister der Manipulation. Ohne viele Worte hatte er sie dazu gebracht, genau das zu tun, was er wollte.

Innerhalb von zehn Minuten saßen sie im Auto und waren auf dem Weg aus der Stadt hinaus in Richtung Mount Rainier Nationalpark. Entgegen Mavericks Vorschlag hatte Elise ihre Stricksachen nicht mitgenommen. Es gab schon genug, auf das sie sich konzentrieren musste.

Er war ein erstaunlicher Unterhalter, konnte über alles reden und von einem Moment auf den anderen das Thema wechseln. Diese Gabe, mit der ihr Exmann oft seine Gegner am Spieltisch ablenkte, besaß sie nicht. Zumindest hatte er das seinen Erzählungen zufolge getan …

„Ich möchte gern von dir hören, was vorgefallen ist“, sagte er, während sie die Landstraße entlangfuhren, die zum Nationalpark führte.

„Wenn du diese Katastrophe mit dem Haus meinst, dann muss ich dir sagen, dass dieses Thema für mich abgeschlossen ist.“ Sie hätte es nicht noch einmal ertragen, unter seinem forschenden Blick von ihrer Dummheit zu berichten.

„Wirst du denn finanziell klarkommen?“

„Natürlich, sobald die Verhandlung abgeschlossen ist.“ Sie ärgerte sich darüber, dass er ihr diese peinlichen Fragen stellte, jetzt, da sie ihm nicht ausweichen konnte. Ihr blieb nur noch, das Thema zu wechseln. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal oben im ‚Paradise‘ gewesen bin“, murmelte sie und starrte aus dem Fenster. Maverick war ein sicherer Fahrer, und die Umgebung war atemberaubend.

„Ich schon“, erwiderte Maverick und warf ihr kurz einen Blick zu. „Dabei könnte ich wetten, du erinnerst dich auch. Wir waren in den Flitterwochen dort.“

Sie schluckte. Zeit, das Gesprächsthema erneut zu wechseln. „Du warst am Mittwoch mehrere Stunden weg.“

„Ich hatte etwas zu erledigen. Und bevor du fragst, nein, ich habe nicht gespielt. Du hast diesbezüglich mein Wort.“

Sie hätte es nicht ansprechen sollen und bereute es schon.

„Paradise war wirklich die falsche Bezeichnung“, bemerkte sie nach einer angespannten Pause. „Unsere Flitterwochen waren durch diese fürchterlichen Mäuse verdorben.“

Er lachte.

„Das war überhaupt nicht komisch“, sagte sie mit Schaudern. Maverick hatte diese schöne, romantische Jagdhütte im Nationalpark für sie reserviert. Mitten in der Nacht war Elise von einem leisen, kratzenden Geräusch aufgewacht. Sie beging den Fehler und schaltete das Licht an. Zu ihrem Entsetzen sah sie, wie fünf oder sechs Mäuse in Mavericks Reisetasche krochen. Sie schrie so laut, dass sie ihren Mann damit aufweckte – und wahrscheinlich alle anderen, die dort übernachteten. Maverick hatte Erdnüsse in seiner Tasche, und hinter denen waren die Mäuse her.

Am folgenden Morgen hatte sich Elise beim Empfang über die unhygienischen Zustände und die Mäuseplage beschwert. Der Angestellte hatte sie darüber informiert, dass es gesetzlich verboten sei, irgendein wild lebendes Tier in diesem Umkreis zu töten – inklusive Mäuse. Der einzige Ort, an dem sie Fallen aufstellen durften, war die Küche.

„Weißt du auch noch, wie ich dich abgelenkt habe?“, erkundigte sich Maverick anzüglich.

Typisch Mann, jede Gelegenheit zu nutzen, um das Thema Sex anzuschneiden. Oder auch nur anzudeuten. Sie weigerte sich, ihm die Genugtuung zu geben und darauf etwas zu erwidern.

„Ja, du erinnerst dich“, sagte er offenbar amüsiert.

„Das tue ich keinesfalls.“ Sie schlang die Arme um den Körper,

Er lachte, weil sie sich so vehement weigerte, zuzugeben, welche Leidenschaft sie beide verbunden hatte. „Wie lange ist das her, Elise?“

Sie rückte unruhig auf dem Sitz umher. „Für mich zweifellos länger als für dich.“

„Sei dir nur nicht so sicher.“

Sie drehte sich zu ihm um. „Mich kannst du nicht für dumm verkaufen, Maverick. Ich war nämlich mal mit dir verheiratet, schon vergessen? Ich kenne dich. Du hattest einen außerordentlich gesunden Appetit auf Sex.“

„Nachdem wir uns getrennt hatten, durfte ich ja noch in dein Bett.“

Sie errötete. „Das war ein Fehler.“ In dem Jahr nach ihrer Trennung und Scheidung war er oft abends in ihrem Apartment erschienen und hatte sie überredet, ihn in ihr Schlafzimmer mitzunehmen. Dann hörten die Besuche plötzlich auf, und Elise wusste, warum. Er war irgendeiner anderen Frau begegnet, die gern seine Fehler übersehen und sich nicht darüber beschwert hatte.

„Was mich betrifft, war es kein Fehler.“

„Macht es dir was aus, wenn wir über ein anderes Thema reden?“, sagte sie betont gelangweilt.

„Du warst immer so prüde – bis ich dich ins Bett bekam.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, das bist du immer noch.“

„Sei jetzt auf der Stelle ruhig! Oder ich schwöre, ich werde … ich werde die Tür öffnen und aus dem Auto springen!“

„Na, das hat ja ganz schön was ausgelöst, oder?“ Er lachte leise.

„Ich bin fünfundsechzig Jahre alt und finde dieses Gespräch peinlich.“

„Ich bin noch nicht tot, und ich bezweifle, dass du es bist“, sagte Maverick sanft.

Elise war entschlossen, nicht darauf zu antworten.

Sie fuhren eine Weile schweigend weiter, und dann plötzlich, ohne erkennbaren Grund, begann Maverick zu lachen. Ohne dass sie es wollte, grinste Elise. Er nahm kurz ihre Hand und drückte sie.

Der Rest des Nachmittags war herrlich. Sie durchquerten den Rainier Nationalpark und aßen zum Dinner in einer Jagdhütte Steak mit Backkartoffeln.

Das Haus war dunkel und still, als sie schließlich zurückkehrten. Völlig ermattet von einem ganzen Tag im Zoo, schliefen Luke und John tief. Aurora und David mussten auch müde gewesen sein, denn aus ihrem Schlafzimmer kam ebenfalls kein Ton.

Maverick brachte Elise zu ihrer Zimmertür. „Danke für den wundervollen Nachmittag und Abend“, flüsterte er.

Elise wich seinem Blick aus. „Das Dinner war sehr schön.“ Alles an dem Tag war schön. „Vielen … Dank.“ Sie hatte nicht erwartet, dass er sie küsste, und wollte sich gerade umdrehen. Doch dann tat er es. Er beugte sich zu ihr vor und drückte seinen Mund auf ihren. Seine Lippen waren warm und feucht. Er legte ihr den Arm um die Taille und zog sie an sich. Als er den Kuss beendete und sie losließ, wurden ihre Knie weich.

„Gute Nacht, Elise“, sagte er leise und strich ihr leicht über das Gesicht, als wollte er in Erinnerung behalten, wie sich ihre Haut anfühlte.

Sie murmelte irgendeine vollkommen unverständliche Antwort und stolperte fast in ihr Zimmer. Beim Ausziehen und während sie die Kleidung ordentlich aufhängte, zitterten ihre Finger.

Es klopfte an ihrer Zimmertür, gerade als sie ihre Zähne geputzt hatte.

Sie schloss die Augen, schwankte, nicht sicher, wie sie reagieren sollte. Sie konnte einfach so tun, als hätte sie nichts gehört, und ins Bett gehen – oder öffnen. Kurz entschlossen ging sie zur Tür.

Wie erwartet stand Maverick auf dem Flur. In dem Licht, das aus ihrem Zimmer fiel, sah er ihr in die Augen. „Lässt du mich rein“, fragte er, „oder wirst du mich abweisen?“