43. KAPITEL
Courtney Pulanski
Grams, das verstehe ich nicht.“ Courtney starrte auf den Umschlag des Expressbriefes. Er war an sie adressiert, jedoch war nirgends ein Hinweis auf den Absender zu finden.
„Was denn?“ Vera Pulanski kam zu ihr in die Diele. Der Brief hatte für Courtney auf dem Treppengeländer gelegen.
Courtney reichte ihrer Großmutter den Brief, zog den Rucksack von den Schultern und ließ ihn auf den Boden fallen.
„Das ist ein Barscheck“, murmelte Vera Pulanski, die genauso verblüfft und verwirrt reagierte wie ihre Enkelin.
„Von dir ist er nicht, oder?“ Courtney konnte sich nicht vorstellen, wer so etwas getan haben könnte.
„Ich?“, rief ihre Großmutter. „Mein Gott, Kindchen, wenn ich so viel Geld hätte, würde ich es bestimmt nicht für ein Kleid ausgeben. Zeig doch die Karte noch mal.“
Courtney griff nach dem Umschlag und zog die Karte heraus, auf der mit Maschine geschrieben stand: KAUF DIR EIN SCHÖNES KLEID, DAS ZU DIR PASST, UND VIEL SPASS BEIM HOMECOMING. Unterschrieben war es mit DEIN WOHLWOLLENDER PATE.
Vera schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht die leiseste Idee. Auf jeden Fall muss es jemand sein, der dich kennt … Von deinem Dad könnte er nicht kommen?“
„Nein, er ist von hier abgeschickt worden. Und auf dem Stempel steht das Datum von gestern. Außerdem, warum sollte Dad so was anonym machen?“
Vera zuckte nur die Schultern.
„Das muss ich Andrew erzählen.“ Courtney ließ sich auf die Treppenstufe fallen und griff nach dem Telefonhörer. Sie war so aufgeregt, dass sie die Nummer gar nicht schnell genug wählen konnte. Grams hatte natürlich so einen altmodischen, klobigen Apparat mit Wählscheibe. Annie nahm ab.
„Annie!“, rief sie. „Du wirst nicht glauben, was gerade passiert ist!“
„Was denn?“
„Jemand hat mir Geld für den Homecoming-Ball geschickt. Eine riesige Summe. Echt riesig!“
„Wie riesig?“
„Fünfhundert Dollar.“
Annie pfiff leise durch die Zähne. „Du machst Witze.“
„Nein, es stimmt. Ist Andrew zu Hause?“ Sie wusste nicht, warum ihr so viel daran lag, ihm die Geschichte zu erzählen. Wahrscheinlich sollte er erfahren, dass er sich mit ihr nicht zu schämen brauchte. Seit er sie zum Ball eingeladen hatte, telefonierten sie mehrmals am Tag. Gestern Abend erst hatten sie fast zwei Stunden miteinander am Telefon verbracht.
Seit sich die Nachricht verbreitet hatte, dass sie mit Andrew Hamlin für den Ball verabredet war, wurde sie auf einmal von vielen Schülern beachtet. Einige der beliebtesten Kids redeten plötzlich mit ihr – die gleichen, die sie noch vor ein paar Wochen nicht eines Blickes gewürdigt hatten. Sie ließ sich durch deren Interesse nicht beeindrucken, es kam ihr unecht und anbiedernd vor. Sie war zwar freundlich und höflich zu ihnen, wusste aber, dass sie diese Typen nicht als Freunde haben wollte.
„Tut mir leid“, sagte Annie, die deshalb offensichtlich genauso enttäuscht war wie Courtney. „Andrew ist noch nicht vom Footballtraining zurück, aber ich werde ihm sagen, dass du angerufen hast, sobald er nach Hause kommt.“
Courtney hätte sich denken können, dass Andrew noch in der Schule war. „Ich bin so aufgeregt!“ Sie besaß bereits ein Kleid, doch es war ein abgelegtes von ihrer Schwester, die es ihr sofort geschickt hatte, nachdem Courtney ihr von ihrem Date berichtet hatte. Mit ziemlich vielen Rüschen und in einem blassen Blau passte es aber viel besser zu Julianna als zu ihr.
„Ich finde es echt cool, dass du mit meinem Bruder gehst.“
„Wir gehen ja nicht miteinander“, erinnerte Courtney ihre Freundin. „Wir hatten bis jetzt nicht ein einziges Date, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass wir uns nach dem Ball noch mal verabreden werden.“
„Das werdet ihr“, beharrte Annie. „Andrew und ich reden miteinander, musst du wissen.“
Courtney biss sich auf die Zunge, um Annie nicht zu löchern, was Andrew ihr wohl erzählt haben mochte. Doch obwohl sie so neugierig war, erschien es ihr auch nicht richtig, Annie in so eine Zwickmühle zu bringen. Vielleicht würde sie selbst nach dem Ball etwas klarer sehen.
Annie hatte auch vor hinzugehen, sie war mit einem guten Freund von Andrew aus dem Footballteam verabredet. Alles klappte so wunderbar. Courtney konnte es kaum glauben. Monica war von einem Freund Mikes eingeladen worden, und die vier Paare wollten nach dem Ball gemeinsam noch irgendwo anders hingehen.
„Wie deine Großmutter es ausdrücken würde“, fuhr Annie fort, „Andrew ist hingerissen.“
Hingerissen. Was für ein herrliches Wort. „Ach, Annie, er ist einfach … fantastisch.“ Es gab kein passendes Adjektiv, mit dem sie das beschreiben könnte, was sie von Andrew Hamlin hielt. Mit ihm zusammen zu sein, machte es fast wett, dass sie ihr Abschlussjahr nicht in Chicago verbringen konnte.
„Wer hat dir denn das Geld geschickt?“, wollte Annie wissen.
„Da weißt du genauso viel wie ich.“
„Dein Dad?“, riet Annie. „Oder dein Bruder?“
Courtney schüttelte automatisch den Kopf. „Nein, keiner von beiden“, sagte sie überzeugt.
„Wer denn?“
„Keine Ahnung, aber es ist das beste Geschenk, was ich je bekommen habe.“ In diesem Moment klingelte es. „Da steht jemand vor der Tür“, sagte sie. „Grams sitzt in der Küche, ich gehe mal besser aufmachen.“
„Okay. Ich sage Andrew, dass du angerufen hast.“
„Danke.“ Sie konnte es kaum erwarten, mit ihm zu reden.
Sie rannte zur Tür, riss sie auf und kreischte laut, als sie ihre Schwester mit einem Koffer in der Hand vor sich sah. „Julianna!“
„Willst du mich nicht reinlassen?“, fragte ihre Schwester. „Courtney, meine Güte, wie du aussiehst, super! Wer hätte vermutet, dass die paar Kilos so einen Unterschied machen.“
Courtney hatte vor Freude Tränen in den Augen, als sie ihre Schwester hineinließ. „Wie kommt das denn, dass du hier bist?“, fragte sie und umarmte ihre Schwester überschwänglich.
Beide mussten gleichzeitig lachen und weinen. Sie veranstalteten ein solches Spektakel, dass sogar ihre Großmutter es hörte und einen Blick aus der Küche warf. Sofort schrie auch sie erfreut auf und kam zu den beiden in die Diele.
„Ach herrje, ist das schön!“, rief Grams und zog Julianna ins Wohnzimmer. „Aber … wie bist du denn hergekommen?“
„Mit dem Flugzeug. Etwas ganz Merkwürdiges ist passiert. Ich habe einen Expressbrief erhalten, in dem stand, dass meine jüngere Schwester von dem Star-Footballer der Schule zum Homecoming-Ball eingeladen wurde. Was ich natürlich schon wusste. Dann hieß es, dass Courtney vielleicht ein bisschen Unterstützung bräuchte, um sich auf den großen Ball vorzubereiten.“
Vera Pulanski riss die Arme hoch. „Ich sage dir gleich, ich hab damit nichts zu tun.“
„Im Brief steckte ein Flugticket“, erklärte Julianna weiter. „Dazu gab’s noch eine lange Liste mit Anweisungen. Zuerst mal brachte mich ein Taxi nach O’Hare, dann holte mich ein anderer Wagen vom Sea-Tac ab, um hierher zu Grams’ Haus zu fahren. Ich durfte aber zu euch beiden vorher kein Sterbenswörtchen sagen.“
„Also, ich bin jedenfalls ganz schön überrascht“, sagte Courtney leise, ihre Wangen immer noch nass von Tränen.
„Ich habe auch einen Barscheck für meine Ausgaben bekommen, aber es ist viel mehr, als ich brauche. Ich denke, wir sollten so schnell wie möglich einen Termin für dich beim Friseur und im Nagelstudio machen.“
„Friseur und Nagelstudio?“, flüsterte Courtney. Sie war so überwältigt, dass sie kaum sprechen konnte.
Grams sah vollkommen perplex aus. „Daran hätte ich auch denken sollen, andererseits hätte ich ja gar nicht das Geld dafür gehabt.“
„Unsere Limousine wartet“, kündigte ihre Schwester mit großer Geste an. „Na ja, es ist ein normales Auto, aber der Fahrer trägt Livree.“ Sie kicherte. „Also eine Uniform – aber klingt das alles nicht wie die Geschichte von Aschenputtel?“
„Warum wartet der Wagen?“ Courtney hatte tatsächlich das Gefühl, als würde sie sich plötzlich mitten in ihrem Lieblingsmärchen befinden. Und zwar an der glücklichen Stelle, wo die gute Fee auftaucht und ihren Zauberstab schwenkt. Oder besser, der gute Zauberer, und es war ein Scheck, kein Zauberstab, den er in den Händen hielt.
„Der Wagen bringt uns alle zum Dinner“, sagte Julianna. „Wir haben eine Reservierung im Morton’s in der 4th Avenue. Danach wird der Fahrer mich und Courtney am Einkaufscenter absetzen und dich nach Hause bringen, Grams. Wir sollen mit ihm einen Ort und Zeitpunkt ausmachen, wo er uns abholt, wenn wir fertig sind.“
„Ich kann es nicht glauben!“, rief Courtney völlig aufgelöst. „Ich kann es einfach nicht glauben!“
„Ich muss schon zugeben, das ist wirklich ein guter Zauberer, den du da an der Hand hast“, scherzte Julianna.
„Lasst mich nur meinen Pullover holen“, sagte Vera. „Ich hatte heute Abend sowieso keine Lust zum Kochen.“
Courtney führte ihre Schwester nach oben, damit sie ihren Koffer in einem der Gästezimmer abstellen konnte. „Wie lange kannst du bleiben?“
„Nur bis Samstagnachmittag. Ich muss ja zurück, und wer immer das arrangiert hat, scheint das auch zu wissen.“
„Hast du mit Jason telefoniert?“
Sie schüttelte den Kopf. „Der war’s nicht“, sagte sie lachend. „Er hat nicht einen einzigen Cent. Im Gegenteil, er wollte sich sogar schon was von mir leihen – als hätte ich was übrig.“
Das Telefon klingelte in dem Moment, als sie das Haus verlassen wollten. Courtney kämpfte mit sich, ob sie rangehen sollte, doch dann vermutete sie, es könnte Andrew sein. Bei dem vorsintflutlichen Apparat ihrer Großmutter gab es kein Nummerndisplay. Sie wusste also nie, wer dran war.
„Hallo“, meldete sie sich, in der Hoffnung, es wäre Andrew.
„Du hast angerufen?“
„Ja! Andrew, stell dir vor, es ist was ganz Wundervolles passiert! Ich habe aber jetzt leider keine Zeit, dir alles zu erzählen.“
„Warum nicht?“
„Weil …“ Sie lachte albern und übermütig, „… meine Schwester hier ist und draußen ein Wagen auf uns wartet, mit dem wir zum Einkaufen fahren, um ein Kleid für den Ball zu besorgen, und Andrew … ach, Annie kann dir das auch erzählen.“
„Das muss heute der Tag der guten Neuigkeiten sein.“
„Wieso?“ Die anderen warteten auf der Veranda, aber das musste sie noch wissen.
„Es wird zwar morgen erst offiziell bekannt gegeben, aber ich bin zum Homecoming-König gewählt worden.“
„Oh, Andrew! Gratuliere!“
„Aber am meisten bin ich darauf stolz, dass du mich Freitagabend begleitest.“
Courtney konnte nicht aufhören zu grinsen, als sie zum Auto lief. Sie hatte keine Ahnung, womit sie eine solche Großzügigkeit verdient hatte, aber sie würde demjenigen ewig dankbar sein, der – aus welchen Gründen auch immer – beschlossen hatte, ihr Wohltäter zu werden.
Sie glaubte, in ihrem Leben noch nie glücklicher gewesen zu sein.