16. KAPITEL
Courtney Pulanski
Nachdem der Abend so unheilvoll begonnen hatte, war der Besuch des Spiels der Mariners mit Andrew und Annie Hamlin doch noch ganz angenehm verlaufen. Courtney hatte fünf von Andrews Freunden getroffen, und sie schienen alle in Ordnung zu sein. Annie war die Einzige aus der Gruppe, die sich distanziert und abweisend verhielt, wenn man ihre Unhöflichkeit so bezeichnen konnte. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht für das Spiel interessierte und von ihrer Mutter und ihrem Bruder davon abgehalten worden war, etwas anderes zu unternehmen. Sie ignorierte sowohl Andrew als auch Courtney und redete fast den ganzen Abend über kaum ein Wort mit ihnen. Weshalb Courtney ziemlich überrascht war, als Annie am Freitagnachmittag anrief, um sie zu einem Kinoabend einzuladen.
„Ich komme mit, sicher“, sagte Courtney. Es war nicht so, dass sie schon irgendwelche Pläne hatte. Und sich einen Film ansehen war sicher besser als die andere Möglichkeit, die sie hatte – mit ihrer Großmutter Bingo zu spielen. „Was wolltest du dir denn ansehen?“
Auf diese Frage schien Annie nicht vorbereitet zu sein. „Ist mir eigentlich völlig egal, und dir? Ich will einfach nur eine Weile mal raus.“
„Ich habe auch nichts Bestimmtes im Auge.“ Aber im Grunde hatte Courtney Lust auf eine nette romantische Komödie. Sie hätte gern ein bisschen gelacht.
Nachdem sie noch ein wenig geplaudert hatten, verabredeten sie eine Zeit und einen Ort. Punkt sieben setzte ihre Großmutter sie auf dem Weg zum Bingoabend vor dem „Pacific Place“ ab, und Courtney wartete vor dem Eingang, bis Annie kam. Bethanne, die ihre Tochter zum Kino brachte, winkte Courtney zu, während Annie aus dem Wagen sprang und die Beifahrertür zuschlug.
Kaum war das Auto ihrer Mutter außer Sichtweite, verschwand das Lächeln auf Annies Gesicht. „So, du kannst jetzt abhauen, wenn du willst.“
„Wie bitte?“
„Ich brauchte die Verabredung mit dir bloß, damit meine Mutter denkt, ich geh ins Kino.“
Courtney wusste nicht, ob sie verletzt oder wütend sein sollte. Überrascht war sie allerdings nicht so richtig. „Wo willst du denn hin?“, wollte sie wissen.
„Ich treffe mich mit ein paar Freunden.“
Die Botschaft war klar: Courtney gehörte nicht in diesen Kreis. Na gut, aber sie hatte nicht die Absicht, allein in der Stadt herumzuwandern. „Kann ich mitkommen?“
Annie bedachte sie mit einem prüfenden Blick und zuckte die Schultern. „Na gut, aber nicht in diesem Aufzug.“
„Was stimmt an meinen Klamotten nicht?“, fragte Courtney beleidigt.
Wieder zuckte Annie die Schultern. „Wahrscheinlich ist dein Outfit okay, aber du brauchst noch mehr Make-up.“
„Klar, einverstanden.“ Courtney hatte ihre Schminkutensilien in der Handtasche.
„Komm mit.“ Annie drehte sich plötzlich um und marschierte ins Pacific Place Center.
Courtney blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, und sie bahnten sich einen Weg durch die Menge der Freitagabend-Einkäufer. Sie kamen an einen Verkaufsstand mit Designerkosmetik, an dem Annie stehen blieb, um die Auslage zu bewundern. „Der Lippenstift würde dir gut stehen“, behauptete sie und öffnete einen Stift in Purpurrot. Sie überprüfte den Preis, zog die Augenbrauen hoch und legte den Lippenstift wieder zurück.
Courtney hatte angefangen, sich für ein paar kleine Döschen mit Lidschatten zu interessieren, kam aber gar nicht dazu, sie genauer anzusehen. Annie war bereits weitergelaufen. Wieder musste sie sich beeilen, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Das Shopping-Center war grell ausgeleuchtet, laut und voller Menschen, die haufenweise Päckchen und Taschen mit sich schleppten.
Courtney sah, dass Annie auf die Toilette zulief. Gleich nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, verschwand Annie in einer der Kabinen, während Courtney vor dem Waschbecken stehen blieb. Sie stellte ihre Tasche ab und zog die Kosmetiktasche heraus. Als sie gerade etwas Lidschatten auflegte, kam Annie in einem völlig neuen Outfit aus der Kabine.
Statt der Bluse trug sie jetzt ein knallenges Haltertop und darunter einen Push-up-BH. Die Hose hatte sie durch einen superkurzen Jeansrock eingetauscht, der kaum ihre Oberschenkel bedeckte.
„Schockiert?“, fragte Annie und lachte. „Wäre meine Mutter auch, wenn sie mich so sehen könnte.“ Sie kniff die Augen zusammen und musterte Courtney. „Aber das wirst du ihr ja nicht sagen, oder?“
Die Frage unterstrich sie mit einem Blick, der Ärger versprach, sollte Courtney es doch tun. „Ich sage nichts.“
„Versprochen?“
Courtney nickte.
Annie entspannte sich und grinste. „Gut. Hier, ein Geschenk für dich.“ Sie warf Courtney den roten Lippenstift zu, den sie ein paar Minuten vorher angeschaut hatte.
Courtney fing ihn gerade rechtzeitig auf, bevor er auf dem Boden landete. Sie hätte schwören können, Annie hatte ihn wieder zurückgelegt.
„Eine meiner besonderen Begabungen“, erklärte Annie.
Courtney hoffte nur, dass sie nicht in der Nähe sein würde, wenn diese Kleptomanin verhaftet wurde. Sie konnte und wollte den Lippenstift nicht behalten. Nachdem ihre Mutter gestorben war, hatte sie eine Klautour durch einen teuren Klamottenladen unternommen. Die Sicherheitsleute hatten die Polizei verständigt und, noch schlimmer, ihren Vater. Nichts war es wert, noch einmal eine solche Demütigung zu erleben. Oder dieses Schuldgefühl … Nie würde sie den Ausdruck von Kummer und Enttäuschung im Gesicht ihres Vaters vergessen.
Als Annie gerade nicht hinsah, warf Courtney den Lippenstift in den Mülleimer.
Annie betrachtete sich im Spiegel, richtete ihr Haar, legte noch einmal mit geübter Hand Make-up nach und strebte zur Tür. Sie seufzte, als Courtney nicht sofort folgte. „Kommst du mit oder nicht?“
Courtney packte eilig ihre Kosmetiktasche wieder ein und ging hinterher, während sie sich fragte, wohin Annie nun wollte. Es war egal. Courtney beschloss, dass sie mitgehen würde. Sie wusste nicht, was dieses Mädchen vorhatte, fühlte sich aber irgendwie verantwortlich. Vielleicht wegen Bethanne, sie war sich nicht sicher. Oder vielleicht einfach nur, weil sie die Zeichen erkannt hatte – Annie war ein unglückliches, selbstzerstörerisches Mädchen, bereit, sich in Schwierigkeiten zu bringen.
Sie verließen das Pacific Place Center und liefen ein paar Häuserblocks weiter Richtung Norden. Annie plapperte die ganze Zeit etwas über Musik und Schule. Sie schien sich fast über die Begleitung zu freuen. Als das Wahrzeichen von Seattle, die Space Needle, in Sicht kam, wusste Courtney, dass sie sich in der Nähe des Seattle Centers befanden.
Ein paar Kids hatten sich bereits auf dem Parkplatz nicht weit vom Center versammelt. Ein großer dünner Junge mit langen fettigen Haaren kletterte aus seinem Auto, einem abgewrackten alten Kasten, als Annie ankam.
„Wer ist die?“, wollte er wissen, während er auf Courtney zeigte und sie misstrauisch beäugte.
„Das ist Courtney“, erwiderte Annie. „Sie ist cool.“
„Hallo.“ Courtney hob lässig die Hand.
„Chris“, sagte er, legte Annie die Hände um die Hüften und zog sie an sich.
Der Typ verursachte Courtney eine Gänsehaut, aber Annie und er hatten offensichtlich irgendetwas miteinander zu tun.
„Hast du den Stoff?“, wollte Annie wissen.
Er nickte.
„Worauf warten wir dann?“, fragte sie mit einem künstlichen Lachen.
So wie die beiden sich verhielten, miteinander flüsterten und kicherten, glaubte Courtney, sie würden ohne sie losziehen. Beide saßen bereits in der Klapperkiste von Chris, da lehnte er sich nach hinten und öffnete eine der Türen.
„Steig ein. Wenn Annie meint, du wärst cool, dann bist du cool.“
Courtney kletterte zögernd auf den Rücksitz. Kaum war sie drinnen, raste Chris bereits vom Parkplatz herunter. „Wohin fahren wir?“, erkundigte sich Courtney, während sie nach dem Sicherheitsgurt suchte. Es schien keinen zu geben.
„Besser, du weißt es nicht“, erwiderte Annie.
Sie fuhren eine Weile kreuz und quer durch die Innenstadt von Seattle. Obwohl Courtney versuchte, sich zu orientieren, verlor sie bald den Überblick. Sie vermutete, dass sie sich in der Nähe des Wassers befanden, denn sie sah Lagerhäuser und hörte das Tuten einer einfahrenden Fähre. Es war jetzt nach acht.
Chris parkte, und Annie schlüpfte vom Beifahrersitz. „Komm mit!“, rief sie Courtney zu.
„Was ist das hier?“, fragte sie.
„Eine Rave-Party.“
„Was?“
„Keine Ahnung, was ein Rave-Party ist?“, fragte Annie sie entgeistert.
„Sicher doch“, erwiderte Courtney, sie war nur noch nie auf einer gewesen. In Chicago waren sie illegal, in Seattle sicher auch.
„Schon mal Ecstasy probiert?“, fragte Chris und legte Annie den Arm um die Schultern.
Courtney lief langsamer und schüttelte den Kopf.
„Mach dir keine Gedanken darum“, versicherte Annie ihr, „ich besorg dir was.“
„Nein, danke, ich … äh, ich glaube, ich schau erst mal zu.“
Annie sah Chris an, der zuckte die Schultern. „Kein Problem.“
Im Lagerhaus war es fast völlig dunkel, und die Musik dröhnte so laut, dass es schon wehtat. Nach einigen Minuten hatten sich Courtneys Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt, und sie versuchte angestrengt, zu erkennen, was um sie herum passierte. Paare tanzten, einige ziemlich ausgelassen. Andere standen am Rand und tranken, wie es aussah, aus Wasser- oder Bierflaschen. Sie schienen sich nicht dafür zu interessieren, was in ihrer Umgebung vor sich ging. Der ganze Raum war in eine Rauchwolke gehüllt, und Courtney erkannte den süßlichen Geruch von Marihuana.
Annie und Chris waren sofort auf der Tanzfläche. Courtney ließ Annie nicht aus den Augen. Sie wusste, dass die Tochter von Bethanne wütend und wahrscheinlich deprimiert war; das war ihr schon an dem Abend des Baseballspiels aufgefallen. Sie hatte selbst auch eine harte Zeit durchgemacht, nachdem ihre Mutter gestorben war. Ihre Zensuren waren schlecht geworden, sie hatte die falschen Leute kennengelernt und war in einige Schwierigkeiten geraten. Allerdings war sie damals jünger gewesen, sodass Jungs dabei keine größere Rolle gespielt hatten. Und sie war zur Besinnung gekommen, bevor die Situation eskalieren konnte – zum Beispiel in Form von Rave-Partys und Drogen. Trotzdem hatte sie schon ein paar ziemlich dumme Sachen angestellt, die sie jetzt bereute. Und sie wollte nicht, dass Annie das Gleiche durchmachen musste.
Courtney zog sich so weit wie möglich von der Tanzfläche zurück, während sie Annie weiterhin beobachtete. Fast wäre sie über einen Typen gestolpert, der in der Ecke hinter ihr kauerte. Sie riss die Augen auf, als sie sah, dass er sich eine Spritze in den Arm setzte. Nachdem er die Droge injiziert hatte – war es Heroin?, sie hatte keine Ahnung –, lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück und rutschte dann ganz auf den Boden.
Annie kam von der Tanzfläche getaumelt. „Jetzt tanz endlich!“, forderte sie Courtney auf. „Sei nicht so abturnend!“
„Okay.“ Courtney gesellte sich zu den Tanzenden und wedelte wie ein Affe mit den Armen. Sie kam sich albern vor, unbeholfen und fehl am Platz. Julianna würde sie ordentlich zusammenstauchen, wenn sie von dem hier erführe. Dads Reaktion wäre wahrscheinlich gar nichts dagegen. Ihre ältere Schwester würde garantiert fuchsteufelswild werden. Aber Courtney saß jetzt hier fest. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und wie sie nach Hause kommen sollte.
Annie verhielt sich sehr seltsam, noch merkwürdiger als vorher. Sie und Chris waren vollkommen miteinander beschäftigt. Die ganze Halle schien von der lautstarken Musik zu vibrieren. Trotz der Dunkelheit konnte Courtney sehen, dass Annie die Tasche von der Schulter und auf den Boden rutschte, und sie rannte sofort hinüber, um sie aufzuheben. Weder Annie noch Chris schienen es bemerkt zu haben.
Je länger sie das Mädchen beobachtete, desto mehr Sorgen machte sie sich. Annie war high, hatte vollkommen die Kontrolle verloren. Sie warf sich auf der Tanzfläche hin und her, klammerte sich an Chris und schwitzte unnatürlich stark. Hektisch wühlte sich Courtney durch Annies große Tasche, in der sich auch deren Kleidung von vorhin befand, bis sie das Handy fand. Annie benötigte Hilfe. Diese Einmischung würde ihr sicher nicht gefallen, aber Courtney hatte das Gefühl, dass sie etwas unternehmen musste, und zwar schnell. Sie ging die Adressenliste durch und stoppte beim zweiten Namen. Entweder musste sie Bethanne anrufen oder Andrew. Annie würde ihr wohl eher vergeben, wenn sie ihrem Bruder Bescheid sagte. Sie rief Andrew an und hielt sich das Handy ganz dicht ans Ohr, um bei dem Lärm etwas hören zu können.
Es klingelte viermal, bevor Andrew sich meldete. „Was ist los?“, wollte er gereizt wissen.
„Andrew, hier ist Courtney.“
„Ist etwas passiert? Warum rufst du mich vom Handy meiner Schwester an?“
„Annie ist in Schwierigkeiten, und ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Sie wollte die Situation nicht zu übertrieben darstellen, andererseits war ihr klar, dass sie besser nichts verharmloste.
„Wo bist du?“
„Ich weiß es nicht!“, rief sie, damit er sie bei dem Krach verstehen konnte. „Wir sind hier irgendwo in der Nähe vom Wasser, in einem Lagerhaus. Eine Rave-Party. Oh, nein!“
„Was ist?“
Courtney rannte zur Tanzfläche zurück. „Annie hat kein Top mehr an“, erklärte sie entsetzt. „Sie macht mit Drogen rum. Ecstasy, glaube ich.“ Sie lief in Richtung der Türen, wo es ein bisschen leiser war.
„Ist sie mit Chris zusammen?“
„Ja.“ Courtney hatte inzwischen das Gebäude verlassen und stellte überrascht fest, dass es draußen bereits vollkommen dunkel war.
Andrew fluchte. „Ich glaube, ich weiß, wo ihr seid. Ich bin da, so schnell ich kann.“
Sie war erleichtert.
„Bleib bei Annie“, befahl er ihr.
„Mache ich.“
„Und Courtney, hör zu.“ Er zögerte. „Danke.“ Dann legte er auf.
Courtney rannte wieder ins Gebäude und durchsuchte die Halle fast panisch, bis sie Annie entdeckte. Sie hatte die Beine um einen Mann geschlungen, den Kopf nach hinten geworfen und fuchtelte wild mit den Armen. Chris beschäftigte sich mit einem anderen Mädchen, einer Brünetten mit Stachelfrisur. Courtney war sich nicht sicher, aber es sah so aus, als hätten die beiden Sex. Sie wandte sich schnell ab, weil sie nicht weiter zusehen wollte. Abwechselnd rannte sie nach draußen, um nach Andrew Ausschau zu halten, und wieder zurück in die Halle, wo sie Annie weiter beobachtete. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor Andrew endlich Bethannes Wagen vor dem Lagerhaus parkte.
„Wo ist sie?“, rief er, als er ihr entgegenrannte. Er hatte eine Decke mitgebracht, die er unter dem Arm trug.
„Drinnen. Sie ist mit einem Typ zusammen, den ich nicht kenne.“ Courtney wollte es nicht aussprechen. Aber sie hatte schreckliche Angst vor dem, was Andrew zu Gesicht bekäme, wenn er seine Schwester fand. Höchstwahrscheinlich würde Annie ihr niemals vergeben. Trotzdem, Courtney war davon überzeugt, dass Annie gar nicht wusste, was sie da tat, und mit wem.
„Warte hier“, sagte er ernst.
Obwohl es ihr schwerfiel, tat sie, was er sagte. Sie fürchtete, dass Andrew Hilfe brauchen könnte, dass Annie sich gegen ihn wehrte und andere sich einmischten. Sie malte sich ein solches Horror-Szenario aus, dass sie kurz davor war, die Polizei anzurufen, als Andrew mit seiner Schwester auf dem Arm erschien.
„Geht es ihr gut?“, erkundigte sich Courtney ängstlich. Annie schien halb bewusstlos zu sein, ihr Kopf fiel ständig nach hinten. Sie war in die Decke eingewickelt, und Courtney bewunderte Andrews Weitsicht, dass er etwas Wärmendes mitgebracht hatte.
Die Lippen fest aufeinandergepresst, nickte er. „Hilf mir, Annie ins Auto zu schaffen.“
Zusammen bugsierten sie Annie auf den Rücksitz. Courtney zog aus Annies Tasche die Bluse heraus, die sie vorher getragen hatte, und brachte es fertig, ihr die Ärmel über die Arme zu ziehen. Das Mädchen starrte die beiden vollkommen abwesend an, ohne eine große Hilfe zu sein. Als Courtney ihr die Bluse endlich angezogen und sie zugeknöpft hatte, fiel Annie nach hinten quer über den Sitz. Andrew hob ihre Beine an, sodass sie ausgestreckt und mit der Decke zugedeckt auf dem Rücksitz lag.
Dann hob sie den Kopf leicht an. „Hast du dich amüsiert?“, erkundigte sie sich mit träger Zunge bei Courtney.
„Ja, sehr“, murmelte Courtney und kletterte auf den Beifahrersitz neben Andrew.
„Leg dich hin und sei ruhig“, sagte der zu seiner Schwester.
Sie stöhnte auf, als sie losfuhren. Courtney glaubte in der Ferne Sirenen zu hören. Ob die etwas mit der Rave-Party zu tun hatten, wusste sie nicht.
„Was ist los?“, wollte Courtney wissen. Sie brauchte die Frage nicht näher auszuführen. Andrew wusste sofort, was sie meinte.
„Annie und mein Vater standen sich ziemlich nahe“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Meine Schwester kann sich nicht mit der Scheidung abfinden, wie du wohl sicher schon am Montagabend bemerkt hast. Es ist, als wollte sie meine Eltern dazu bringen, ihre Trennung zu bereuen. Aber sie kapiert einfach nicht, dass sie sich dabei nur selbst schadet.“
„Ich will nicht, dass sie sauer auf mich ist.“
„Das wird sie schon nicht“, versprach Andrew.
„Wie kannst du da so sicher sein?“ Courtney glaubte, seine Schwester weit besser zu verstehen als er selbst. Annie hatte das Gefühl, ihren Vater verloren zu haben. Und Courtney wusste, wie es war, ein Elternteil zu verlieren. In dem Moment, in dem ihre Mutter gestorben war, hatte sich ihr Leben unwiederbringlich verändert. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Sie würde nicht mehr nach der Schule nach Hause kommen und die Stimme ihrer Mutter hören. Es würde nie wieder eines dieser besonderen Rituale stattfinden, die Courtney so geliebt hatte. Die Welt war kleiner geworden, grausamer, ohne ihre Mutter. Sie verurteilte Annie nicht dafür, dass sie Drogen genommen hatte. Courtney hatte ihren Schmerz mit einer anderen Sucht bekämpft – mit Essen. Es hatte vier Jahre gedauert, bis sie es endlich geschafft hatte, sich von dieser Abhängigkeit zu befreien.
Courtney wandte sich zu ihm um. „Ich will später mit Annie reden, in Ordnung?“
Andrew blickte kurz zu ihr hinüber. „Sie benötigt professionelle Hilfe.“
„Ich weiß.“ Courtney hoffte nur, dass Annie diese Hilfe bekam, bevor es zu spät war.