Zu ›Kaputt in El Paso‹

Man muss stattdessen einfach nur lesen, was er schreibt. Zum Beispiel eben das jüngste Werk Kaputt in El Paso, mit dem sich DeMarinis der Kriminalliteratur nicht nur – wie bisher immer mal wieder – nähert. Wie in allen großen Werken des Genres ist es hier der Gegenstand, der nach der Form verlangt. (Nebenbei gesagt: Eben deshalb erledigt sich bei den Meisterwerken der Kriminalliteratur ebendieser Genre-Begriff, wird hilf- und kraftlos und sagt im Grunde gar nichts mehr über den Text.) Kaputt in El Paso ist nicht weniger als eine große Weltkomödie des Verbrechens, aber der bitteren Art, ein ›funferal‹, um eine von James Joyce geprägte Formel zu verwenden, die hier trifft. Ein großer Spaß, ein Lesevergnügen, aber auch eine Beerdigung, ein Abgesang, eine dem Nihilismus sich nähernde Darstellung des Lebens in der schlechtesten aller möglichen Welten.

Kaputt in El Paso lautet die prosaische, von DeMarinis mit gutem Grund autorisierte Übersetzung des poetischer zumindest klingenden Titels des Originals: Sky Full of Sand. Die Wahrheit über den Autor Rick DeMarinis liegt nicht dazwischen, sondern in der Juxtaposition. Brutal nämlich steht in seinen Büchern das Schöne neben dem Hässlichen. Genauer muss man sagen: Der hässlichen, der kaputten und mehr als kaputten Welt, die er beschreibt, die er sich, seinen Figuren und seinen Lesern zumutet, begegnet er mit der Kraft seiner Sprache, der Lust an der Beschreibung jener Tiefen der Existenz, die nicht einmal mehr Abgründe sind. Als Sinnbild für das schockierende Nebeneinander ohne wirkliche Vermittlung kann eine Figur des Romans stehen, die einen kurzen, aber unvergesslichen Auftritt hat. Ein Mann mit zwei Gesichtern, oder, wie man es nimmt, nur einem halben: »Über dieses Thema vergaß er alles andere und wandte mir sein Gesicht zu. Die rechte Seite seines Kopfes war völlig entstellt. Die Augenhöhle war vernäht und dort, wo ein Wangenknochen hätte sein sollen, befand sich eine konkave Wölbung. Seine rechte Schädelhälfte war kahl und flach wie ein Brett. Eine wulstige, rote Naht verlief in Form eines Hufeisens von der leeren Augenhöhle bis hin zu dem Knochen hinter seinem Ohr.«

DeMarinis macht es sich nicht so einfach, die zerstörte Hälfte des Gesichts zur Wahrheit des Ganzen zu erklären. Die andere Hälfte des Gesichts, die Uriah zunächst zu sehen kommt, ist unversehrt, ja schön. Die Wahrheit ist vielmehr, dass beides existiert, in unerklärlichem Nebeneinander, das Verkommene und Zerstörte neben dem Normalen und dem Schönen. Oder auch: Beides hängt zusammen wie die Satzteile in den Beispielen falscher Grammatik, an denen Güero so großen Spaß hat. Und wenngleich DeMarinis’ primäres literarisches Interesse fraglos der schockierenden Hälfte gilt, leugnet er die andere Seite keineswegs. Nur wirklicher Trost ist aus der Existenz der Normalität nicht zu beziehen. In der Genauigkeit der Beschreibung, in der Gnadenlosigkeit und Komik zugleich, enthält DeMarinis dem Leser vielmehr die Gemütlichkeit dessen gerade vor, der mit bequemem Abstand auf Zustände blickt, über deren Abgründigkeit er sich erhebt. Die Genauigkeit von DeMarinis’ Prosa mutet dem Leser etwas ganz anderes zu: Sie stößt ihn mitten hinein in den Schmutz, die Brutalität und die Kleinlichkeit der Existenzen, die kaputt sind, an Orten an der Grenze der zivilisierten Welt; in der texanisch-mexikanischen Grenzstadt, in der DeMarinis lange Jahre lebte und lehrte, nur zum Beispiel.

Kaputt in El Paso beginnt ganz unten und arbeitet sich dann nach oben. Die erste Szene beschreibt die Begegnung mit Klebstoff-Schnüfflern, über die es nur heißt: »In deinem Fall ist der Begriff Menschenrechte ein Oxymoron.« Auf dem Weg in die Beletage der Gesellschaft wird der Gestank freilich immer ärger. Was nicht wenig heißen will, wenn zu Beginn erst einmal ein Held als Ich-Erzähler installiert wird, der im wesentlichen damit beschäftigt ist, als Hausmeister und Klempner die verstopften Toiletten in einer heruntergekommenen Apartmentanlage von der Scheiße zu befreien. Was natürlich eine Angelegenheit von permanenter Vorläufigkeit bleibt. Dieser Held ist der akademisch gescheiterte Bodybuilder namens Uriah Walkinghorse, dessen Frau ihn gerade für einen Autorennfahrer mit Namen Trey Stovekiss verlassen hat, und der es als Karrieresprung begreift, im Rahmen einer sado-masochistischen Veranstaltung drohend die Axt schwingen zu dürfen. Naturgemäß bringt ihn dieser gesellschaftliche Aufstieg erst recht in Teufels Küche. Plötzlich liegt eine Leiche im Keller, es handelt sich um eine Stütze der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, versteht sich, die korrupter nicht sein könnte.

Einer geschlossenen Gesellschaft der Geldkreisläufe, in der es zum Beispiel nur logisch erscheint, wenn der Drogenboss, der sich an den Junkies eine goldene Nase verdient, dann auch noch mit dem Bau eines privat finanzierten Gefängnisses Kohle macht, in die die Drogenhändler dann gesteckt werden. Wofür ihm die Gesellschaft, versteht sich, einst Denkmäler bauen wird. Einer Gesellschaft, die auf Sucht gebaut ist und Süchten, zwischen denen, wer den Erfolg sucht, freilich zu wählen hat. Die Sucht, die Erfolg bringt, ist in makelloser Logik eben die Sucht nach Erfolg. Hier erklärt der aus dem akademischen Betrieb expedierte Barbetreiber Güero seiner Zuhörerschaft aus Trinkern diesen Sachverhalt: »Was den Menschen betrifft, ist Abhängigkeit ein natürlicher Zustand«, erklärte er. »Jeder ist von irgendetwas abhängig. Ihr habt den Alkohol gewählt, hombres, weil es euch nicht gelungen ist, ein Suchtverhalten anzunehmen, das von der Gesellschaft belohnt wird.« Die Säufer stimmen freudig zu, worauf Güero sein Weltbild in bündigem Nihilsmus zusammenfasst: »Es ist bedeutungslos. Wie Demokrit vor gut zweitausendfünfhundert Jahren sagte, existiert nichts, nur Atome und das Leere, alles andere ist eine Frage der Auffassung.«

Die letzte Wahrheit des Romans ist das nicht. Nur eine Meinung wie andere auch – daneben steht, nicht ohne Respekt gezeichnet, etwa auch Uriahs frommer Bruder Jesaja. Und dagegen steht, wenn auch alles andere als triumphal, der Entwurf der seltsamen Familie Walkinghorse. Denn Kaputt in El Paso ist auch ein Gesellschaftsporträt als Familienroman – und zwar einer, der im Vergleich mit Jonathan Franzens ambitioniert verlogenen Korrekturen eine hervorragende, wenngleich entschieden ungepflegte Figur macht. Die Familie Walkinghorse ist eine Patchwork-Familie, wenn es je eine gab. Uriah – benannt übrigens sowohl nach dem Uria aus der Bibel, den König David in den Tod schickte, um dessen Frau vögeln zu können, und nach Charles Dickens’ Widerling Uriah Heep – selbst beschreibt sie so: »Zipporah ist schwarz, genau wie Jesaja. Zacharias ist Koreaner. Bei Moses und mir ist das weniger eindeutig. Wenn ich in den Spiegel schaue, denke ich: Italiener? Sephardim? ein dunkler Ire? Slawe? Ich kann mich da nie festlegen. Moses denkt, er sei Ire, meiner Meinung nach sieht er aus wie eine Mischung aus einem französischem Trapper und einem Indianer, wären da nicht seine hellen Augen, die auf deutschen Einfluss hindeuten. Natürlich spielt das alles keine Rolle. Wir sind samt und sonders Walkinghorses, Sams und Maggies Kinder, und diese unauslöschliche Tatsache macht die Fragen nach Ethnien irrelevant.«

Keine Frage: In dieser Familie verkörpert sich die Vision von einer (eventuell) lebbaren postbabylonischen Gemeinschaft der Rassen und Klassen. Reichlich dysfunktional ist die ethnisch und zivilisatorisch diverse, wahllos zusammenadoptierte Familie dennoch. Von blauäugiger Multi-Kulti-Trunkenheit keine Spur. Der reiche und skrupellos kapitalistische Bruder Zack hat nichts als Verachtung für den loser Uriah. Bruder Moses ist ein Junkie, den Uriah und der arg fromme Jesaja mit Gewalt und ohne viel Hoffnung in die Entziehungsanstalt zwingen. Und Vater Sam, der von Moses nichts wissen will und für Uriah nichts übrig hat, hält am Küchentisch Zwiesprache mit Jesus, während ein Tumor zerstörerisch sein Hirn durchwuchert.

Eine Idylle sieht anders aus. Aber mit der Wirklichkeit unserer Gegenwart hat das alles dann doch eine gewisse, auch in der satirischen Verzerrung noch erkennbare Ähnlichkeit. Rick DeMarinis schließt die Möglichkeit nicht aus, dass diese Familie, ein bizarres Abbild der Menschheit, doch etwas zusammenhält. Und sei es ein Existenz-Minimum von Menschlichkeit und Verständnis. Liebe ist ein anderes Thema, ein wichtiges übrigens in Kaputt in El Paso. Wie es der Roman damit hält, das zu entscheiden bleibt der Leserin und dem Leser überlassen.