Dreiunddreißig

Jesajas VW parkte bereits vor dem Regency, als ich dort ankam. »Du bist spät dran«, begrüßte mich Jesaja.

»Es ist fünf nach halb sieben, Bruder«, sagte ich.

»Wie ich schon sagte, du bist spät dran.«

Die Sache ging ihm gegen den Strich und deshalb war er sauer, dass ich mich um fünf Minuten verspätet hatte. Er zwängte sich aus dem Käfer. Es sah aus, als kletterte ein Bär aus einem Gewehrlauf. Er trug immer noch seine UPS-Uniform. »Schlechten Tag gehabt?«, fragte ich.

»Bisher nicht, aber das wird sich wohl gleich ändern.«

»Wir machen einen netten Ausflug aufs Land. Das wird dir gut tun, bringt Abwechslung in deinen Tagesablauf.«

Er starrte mich an. »Ich soll dir wohl noch dankbar sein, ja?«

Ich klopfte ihm auf die Schulter. Es fühlte sich an, als würde ich auf eine Rinderhälfte schlagen. »Das ist die richtige Einstellung. Sei immer dankbar für die kleinen Annehmlichkeiten des Lebens.«

Er sah immer noch verstimmt aus, aber er schwieg.

Wir gingen hoch zu Moses’ Apartment. Zuerst reagierte niemand auf mein Klopfen.

»Hau ab«, piepste endlich eine Frauenstimme.

»Mach auf«, sagte ich. »Wir haben was für Mose.«

Stille. Dann wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Nicht von Rusty Odegaard, sondern von einer anderen Junkiebraut aus Haut und Knochen. Krauses, gelbes Haar, orangefarben gesträhnt und am Ansatz dunkel, vorstehende Augen, die vermutlich auf das Konto einer Schilddrüsenüberfunktion gingen und vom milchigen Blau zerkratzter Murmeln waren, am unteren Teil des Halses ein sich gut entwickelnder Kropf.

»Was habt ihr denn für ihn?«, wollte sie wissen.

Ich zeigte auf Jesaja. »UPS. Eine große Paketsendung, aber er oder jemand, der hier wohnt, muss unterschreiben.«

Sie musterte Jesaja, dann versuchte sie, an ihm vorbei nach dem Paket zu linsen, aber ihr Blickwinkel war ungünstig. Sie löste die Türkette, machte die Tür vollends auf und wollte hinaus auf den Flur, doch ich schob sie sanft beiseite und ging hinein.

»Wo steckt er?«, fragte ich.

»Wo ist das Paket?«, fragte sie und blickte rechts und links den dunklen Flur hinunter. In ihren hellen Basedow-Augen brannte nicht gerade das Feuer eines Genies. Ihr Teint wirkte alt, obwohl sie wahrscheinlich nicht mal zwanzig war. Die mit vernarbten Einstichen übersäten, welken Arme hingen aus der ärmellosen Bluse wie die schmuddeligen Arme einer Lumpenpuppe.

»Was ist mit Maria Guadalupe passiert?«, fragte ich.

»Wer?«

»Rusty Odegaard.«

»Ach die. Ab über den Jordan. Ist gestorben.«

»Dann bist du die neue Maria Guadalupe. Wo hast du denn dein Bitte-helft-meinen-hungrigen-Niños-Pappschild?«

»Ich spreche kein Spanisch«, antwortete sie. »Was sucht ihr Typen hier überhaupt?«

»Moses. Wo steckt er?«

»Wollt ihr ihn um die Ecke bringen? Na hoffentlich. Er ist so ein Wichser. Gibt mir nicht mal den klitzekleinsten Schuss, bevor ich nicht das beschissene Geschirr gespült oder das beschissene Badezimmer sauber gemacht habe.«

»Vielleicht möchte er, dass du erfährst, wie stolz man ist, wenn man sich etwas selbst erarbeitet. Vielleicht möchte er dich draußen, auf der Straße sehen, wie du die Touristen breitschlägst, so wie Rusty.«

In gespielter Verzweiflung verdrehte sie die Augen und sah dabei aus wie ein Zombie in einem Horrorstreifen. »Na klar«, sagte sie. »Ich geh raus und trag mein Schild durch den Verkehr. Nein, danke, Sir. Meine Ma hat schließlich keine Bettlerin aufgezogen. Ich hab auch meinen Stolz.« Sie zündete sich eine Zigarette an und bewegte sich mit kleinen Schritten ruckartig vor und zurück. Allerdings war nur von den Knien abwärts Bewegung in ihren Beinen, oberhalb der Knie war sie steif wie ein Stock. Sie hielt ihre dürren Arme verschränkt, presste sie gegen ihre nicht mal im Ansatz vorhandenen Brüste. Ein gespenstischer Anblick. Als beobachte man eine klapprige Leiche, die auf wundersame Weise zum Leben erweckt worden war und jetzt das Laufen wiedererlernte.

»Komm schon«, sagte Jesaja und klopfte mir auf die Schulter. »Vergiss das Geschwätz. Wollen wir es nun machen oder nicht?«

»Für zehn Mäuse kann ich euch beiden einen blasen«, sagte sie. »Vielleicht steht einer von euch auf Zusehen. Ich könnte dem großen Schwarzen einen blasen, während der große Weiße zuschaut, okay? Ich mach alles, was ihr wollt, aber zuerst will ich die zehn Mäuse sehen. Ich kann euch auch ficken – klassisch oder von hinten, für den Fall, dass einer von euch auf Nutella abfährt.«

»Wo ist Moses?«, fragte Jesaja.

»Mir doch egal, wo der steckt«, sagte sie. Sie ging zu Jesaja und verhakte ihre Finger hinter seinem Gürtel. Er packte ihren Arm und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, er wollte ihn ihr abreißen. Doch stattdessen schob er sie sanft zu einem Stuhl und setzte sie hin.

»Mein Bruder gibt dir fünf Dollar, wenn du uns verrätst, wo wir ihn finden können«, sagte Jesaja.

Ihr Blick wanderte von Jesaja zu mir, man sah förmlich, wie ihre Hirnzellen anfingen zu arbeiteten. »Aha«, sagte sie schließlich und der Ausdruck angestrengten Nachdenkens wich aus ihrem Gesicht. »Hey, hört mal. Das mit dem Umbringen war nur ein Scherz, ja? Sicher, er ist ’n Arsch, aber außer ihm habe ich niemanden. Versteht ihr?«

»Wir werden ihn nicht umbringen«, sagte Jesaja. »Er ist unser Bruder.«

Wieder schlich sich Irritation in ihren Gesichtsausdruck, um sogleich zu verschwinden. Irgendwo musste sie mal gelernt haben, dass Neugierde dich nicht weiterbringt, schlimmer noch, dass sie dich dorthin bringt, wohin du ganz und gar nicht willst. »Er ist auf der Brücke und macht vermutlich etwas China White klar, Fentanyl«, sagte sie. »Aber das seh ich noch nicht. Hier kriegt man ja nur das normale H. Mensch, ich wünschte, ich würde in einer klasse Gegend wie Los Angeles wohnen. Ich wette, da bekommt man alles, was man will.«

»Welche Brücke?«, fragte ich.

»Keine Ahnung, wie die heißt. Die in downtown.«

»Die Santa Fe«, sagte Jesaja. »Komm, wir bringen es hinter uns.«

Ich gab ihr den Fünfer und wir gingen zur Tür.

»Ihr seid sicher, dass ich euch keinen blasen soll?«, fragte sie. »Für ’n weiteren Fünfer besorg ich’s euch beiden. Oder wollt ihr mir etwa auftischen, ihr kriegt’s woanders billiger? Dass ich nicht lache!« Sie grinste spöttisch und sah aus wie ein amüsierter Totenkopf.

»Danke trotzdem«, sagte ich.

»Hey«, sagte sie, unwirsch über die ihr erteilte Abfuhr, »nächstes Jahr geh ich aufs College und werde Schönheitsberaterin. Moses und ich werden uns ein Haus kaufen, jetzt sparen wir nämlich für ein Auto. Also verpisst euch. Okay? Verpisst euch einfach.«

Unten, auf der Straße, sagte Jesaja: »Ich werde für dieses Mädchen beten, aber ich befürchte, es ist bereits zu spät.«

Es war zum ersten Mal, dass ich ihn derart verzagt reden hörte. »Aber hallo, erkenne ich da so etwas wie Verständnis in deinen Worten, mein Großer?«

Er bedachte mich mit einem Blick, dass ich mich am liebsten weggeduckt hätte.

»Halt den Mund, Uriah«, sagte er. »Manche Dinge sind nicht komisch. Manche Dinge werden nie komisch sein.«