Siebenundzwanzig
Sie wollte etwas essen. Wir zogen uns an und fuhren durch Deming auf der Suche nach einem Restaurant, das noch geöffnet hatte. Unweit der Bahngleise fanden wir einen kleinen mexikanischen Laden. Wir bestellten beide salpicón.
»Du wirst fett«, bemerkte sie.
Ich hatte hundert Kilo überschritten und spürte es. Meine Hosen saßen eng, mein Hemd ließ sich kaum zuknöpfen. »Danke, dass du mich daran erinnerst.«
»Sei nicht so eitel. Du siehst immer noch sehr gut aus, Schatz.«
Unser Essen wurde serviert. Sie fiel über ihren Teller her, als hätte sie eine Woche lang nichts gegessen. Keine Spur von Etikette, ihre Tischmanieren waren ungehobelt. Die Gabel mit der Faust gepackt, spießte sie Fleischbrocken gierig auf wie ein ausgehungerter Schwerstarbeiter. Sie klappte eine Tortilla zusammen, wischte damit die Salsa vom Teller, kaute heftigst, zum Teil mit offenem Mund. Es kam mir so vor, als sähe ich zum ersten Mal die wahre Jillian Renseller, und mir gefiel, was ich sah.
»Weshalb grinst du so?«, fragte sie.
»Deinetwegen. Die Art, wie du isst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du in einem Herrenhaus von Kindermädchen erzogen wurdest.«
Sie lachte. »Du hast Recht. Mein Vater war Fischer. Ich bin in einer Hütte in Coos Bay, Oregon aufgewachsen. Zu fünft haben wir in einer Bretterbude mit vier Räumen gehaust.«
Bei dem Gedanken an ihre Kindheit verfinsterte sich ihr Blick. »Du stammst aus armen Verhältnissen«, sagte ich.
»Arm? Kann sein. Essen stand immer auf dem Tisch. Zumindest Lachs. Ja, schon, Annehmlichkeiten gab es keine. Wie war’s bei dir? Du bist doch auch nicht mit einem silbernen Löffel im Mund zur Welt gekommen.«
Ich erzählte ihr von meiner Geburt, dass ich ausgesetzt worden war, berichtete von Sam und Maggie und ihren Adoptivkindern unterschiedlichster Herkunft, von Sams religiöser Besessenheit und Maggies lammfrommer Passivität. Ich gab mit Zipporah, Jesaja und Zack an und ich unterschlug Moses.
»Ganz schön verzwickt«, sagte sie. »Aber du hast alles ganz gut überstanden, nicht wahr? Oder ist mir da etwas entgangen?«
»Ich denke, ich kann ganz zufrieden sein.«
Sie machte sich über den Rest des Bruststückes auf ihrem Teller her und aß anschließend noch meine Hälfte. Wir blieben sitzen, tranken ein paar Bier, bis der Besitzer des Ladens an unseren Tisch kam; er war Kellner und Koch in einer Person und tippte jetzt auf seine Armbanduhr. Es war spät geworden und er wollte dichtmachen. Wir nahmen unsere angefangenen Biere und gingen hinaus zum Mercedes. Kaum sechs Meter entfernt ratterte ein Güterzug durch die Stadt. Als der letzte Waggon vorbeigescheppert war, empfand ich die Stille in meinen Ohren beinahe als schmerzhaft. Ich legte den Arm um Jillian und zog sie an mich, doch sie schüttelte mich augenblicklich ab. Ihr stand nicht der Sinn nach Zärtlichkeiten, sie wollte reden.
»Als ich zwölf war, wurde ich vergewaltigt«, sagte sie.
Ich wollte etwas dazu sagen, doch sie legte mir einen Finger auf die Lippen.
»Er war auch Fischer – Caleb Brisbane, ein Freund unserer Familie. Er hat mich auf dem Nachhauseweg von der Schule gesehen und angehalten, um mich mitzunehmen. Aber er hat mich nicht nach Hause gefahren, sondern in eine kleine Hütte in den Bergen. Er hat gemeint, es sei ein Spiel. Ich hatte keine Angst, schließlich kannte ich ihn und wusste, dass er ein Freund meines Vaters war.«
»Oh Gott«, sagte ich.
»Und weißt du was? Im Grunde war es gar keine richtige Vergewaltigung, zumindest war es nicht das, was man gemeinhin darunter versteht. Er sah gut aus und war sehr behutsam. Er hat ein Spiel daraus gemacht und ich hab mitgespielt, freiwillig. Vermutlich wurde mir das Sinnliche in die Wiege gelegt. Er musste mich zu nichts zwingen, im Gegenteil, unter seiner Regie wurde ich richtiggehend erfinderisch.«
»Aber du warst zwölf.«
»Es hat mein Leben verändert, in diesem Alter eine Frau zu werden, aber es hat mir gefallen, damals. Doch meine Familie hat was gemerkt. Ich bin an diesem Abend sehr spät nach Hause gekommen und hatte Blut an den Beinen. Meine Mutter bekam einen hysterischen Anfall und mein Vater lud seine Schrotflinte. Er und meine Brüder sind zu Calebs Hütte und haben ihn fast totgeschlagen. Sämtliche Zähne haben sie ihm ausgetreten, haben ihm das Rückgrat gebrochen und ein Auge so schwer verletzt, dass er erblindete. Ich glaube, es hat mich mehr traumatisiert, was sie mit ihm angestellt haben, als das, was er mit mir gemacht hat. Ich meine, ein Freund der Familie wurde einer Sache wegen zum Krüppel geschlagen, an der ich bereitwillig teilgenommen hatte. Nachdem bekannt wurde, was Caleb getan hatte, wurden weder mein Vater noch meine Brüder bestraft.«
Mir fielen dazu nur die meiststrapazierten Worte überhaupt ein: »Tut mir leid.«
»Das ist aber noch nicht alles«, fuhr sie fort. »Nach dieser Geschichte veränderte sich das Verhalten meiner Brüder mir gegenüber. Der eine war sechzehn, der andere achtzehn. Ich gab ihnen Rätsel auf. Für sie war ich Ausschussware – eine Frau, während sie immer noch Jungs waren. Ich schlief in einem Anbau unserer Hütte. Er war winzig, aber der einzige Raum im Haus, wo Privatsphäre möglich war. Mein älterer Bruder begann, mich spät nachts zu besuchen, wenn alle anderen eingeschlafen waren. Ich ließ ihn gewähren. Mir war’s egal. Ich empfand kein Vergnügen dabei, nicht so wie bei Caleb, aber ich wehrte mich auch nicht dagegen. Und dann kam mein jüngerer Bruder mit ins Spiel und sie wechselten sich bei ihren nächtlichen Besuchen ab.« Sie nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche. »Nette Familie, nicht wahr?«
»Schon erstaunlich, dass du nicht schwanger wurdest«, sagte ich.
»Und ob ich schwanger geworden bin! Ich bin in eine von der Kirche geförderte Einrichtung für schwangere Teenager gegangen. Das Baby, ein gesunder Junge, wurde zur Adoption freigegeben. Ich habe ihn nie gesehen, wollte es auch nicht. Jedenfalls hat das alles die Familie zerstört. Meine Brüder wurden aus dem Haus gejagt, kurz danach hatte mein Vater einen schweren Schlaganfall. Die wenigen Jahre bis zu seinem Tod war er vollständig gelähmt. Meine Mutter starb ein paar Jahre später an Krebs. Meine Brüder sind zur Armee gegangen, ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört.«
»Aber du hast alles ganz gut überstanden«, sagte ich, »oder ist mir da etwas entgangen?«
Sie warf mir einen ernsten Blick zu, dann lachte sie. »Uns allen ist was entgangen, meinst du nicht? Erst Jahre später habe ich begriffen, was man mir angetan hatte.«
»Du hattest einen Nervenzusammenbruch?«
»Nein, dafür hänge ich zu sehr am Leben. Ich habe Männer übel behandelt. Meine ersten beiden Ehen dauerten nur Wochen. Ich habe es mit psychologischer Beratung versucht, aber diese Psychologen gingen mir auf den Zeiger. Reine Theoretiker ohne jegliche Erfahrung, was das wahre Leben betrifft. Sie taten so, als wüssten sie genau, was ich durchgemacht hatte, als könnten sie sich in mich hineinversetzen. Was immer sie auch sagten, wie vernünftig es sich auch anhörte, es klang falsch. Was mir als Einziges geholfen hat, das war die Dinge im Nachhinein als Katastrophen zu betrachten, die einen fürs ganze Leben prägen, die einen zu dem machen, was man letztendlich ist. Entweder man akzeptiert es, so wie man das Wetter akzeptiert, oder man kämpft eine aussichtslose Schlacht, bis man daran zugrunde geht. Ich bin promiskuitiv, ich bin eine Schlampe, vielleicht sind meine Erlebnisse schuld daran, aber genauso gut hätte aus mir eine promiskuitive Schlampe werden können, wenn ich wohl behütet vor dem Irrsinn anderer aufgewachsen wäre. Wie auch immer, es ist und bleibt ein Mysterium, meinst du nicht? Oder hast du eine zündende Theorie, was die kleinen Katastrophen des Lebens betrifft?«
»So pinkelt das Leben.«
»Kurz und bündig formuliert«, meinte sie.
Ich trank einen Schluck Bier. Sie ließ den Wagen an und wir fuhren zum Oasis.