Vierundvierzig
Blitze durchzogen den blauschwarzen Himmel wie Adern. Es war später Nachmittag, doch nirgendwo ein Anzeichen von Tageslicht. Victor war als Fahrer nicht zu beneiden. Er fuhr bereits mit Licht, doch die Scheinwerfer illuminierten lediglich die Striche des Regens. Er beugte sich über das Lenkrad, als garantiere die Nähe zur Windschutzscheibe eine bessere Sicht.
»Ich werde in Samalayuca übernachten«, meinte Solís. »Eigentlich wollte ich weiter, nach Mexico City, aber bei diesem Wetter wäre das unklug.«
Für mich der rettende Strohhalm, nach dem ich griff. Solís unterhielt sich gern mit mir. Vielleicht ließen wir uns in Samalayuca voll laufen. Vielleicht entschied er sich dagegen, mich mit Victor dort zurückzulassen, Victors Bedürfnis nach Rache hin oder her.
»Wenn Sie würdig sterben, werde ich dafür sorgen, dass ein Priester ihr Grab segnet«, sagte er und setzte den Schlusspunkt hinter meine Wunschträume.
Victor wandte den Blick lange genug von der Straße, um mich im Rückspiegel anzusehen. Sein Lächeln verriet mir, dass ich keinerlei Chance auf einen würdevollen Abgang hatte. Ganz offensichtlich wollte er mir etwas sagen, doch die Gegenwart seines jefe hinderte ihn daran. Er lief an der kurzen Leine, wie alle, die für Solís arbeiteten. Solís’ Manieren waren stets tadellos und dasselbe erwartete er von seinen Leuten. Clara Howlers Leine schien etwas länger zu sein als die der anderen. Und Jillian hatte sich als frei umherfliegendes Geschoss entpuppt.
»Sterben ist keine Strafe«, sagte Solís, als könne er meine Gedanken lesen. »Das Leben ist Strafe. Tod ist die Erlösung.«
»Für Sie ist das Leben nicht wirklich eine Strafe«, bemerkte ich.
Er zuckte die Achseln. Das schicksalergebene Achselzucken der Mexikaner. »Sí. Das ist wahr. Aber ich habe schwierige Zeiten durchlitten und, quíen sabre, muss es vielleicht wieder.«
Ich sagte: »Sie haben Leid verursacht«, und dachte dabei an Maggie, nicht an Moses.
»Bitte, Mr. Walkinghorse, predigen Sie keine Moral. Das passt nicht zu Ihnen.« Er drehte sich zu mir um und sah mir direkt ins Gesicht.
»Die Gringos haben uns viel von unserem Land weggenommen. Meinen Sie, dass hätte kein Leid verursacht? Tejás, Nuevo Méjico, Arizona, California wurden uns von Ihrer Regierung gestohlen. Und nun versorgt Mexiko los locos in den besetzten Territorien mit la cocaina und la heroina. Sie sind ein Volk mit einem Appetit, der nicht zu stillen ist. Sie nehmen dem Rest der Welt einfach alles. Es ist allein dieser Appetit, der Leid verursacht, nicht unsere Bereitschaft, ihn zu stillen.«
Dieser Mann würde mich töten. Im Grunde hätte mein Denken nur darum kreisen müssen, aber es war noch etwas anderes mit im Spiel. »Wenn es Ihnen das Leben erleichtert, señor, machen Sie so weiter und glauben Sie, was Sie glauben müssen. Um ihr Leben rechtfertigen zu können, glauben Leute das, was sie glauben müssen.«
»Es gibt keine Notwendigkeit, mich zu rechtfertigen«, erwiderte Solís. »Das Drogenproblem ist Ihr Problem, nicht meins. Mein einziges Problem ist die … logísticsas … der Transport der Produkte und die Umverteilung – das Waschen des Profits, wie die Gringos sagen. Das Produkt ist ein Produkt wie jedes andere auch und in den meisten Fällen nicht zerstörerischer. Por ejemplo, die vulgären, dummen Filme, die die Gringos weltweit exportieren, verderben Geschmack und Benehmen dort, wo sie gezeigt werden. Vermutlich sind diese Filme die gefährlichste Droge überhaupt. Und wenn wir hier moralische Fragen erörtern, dann sollten Sie auch über Folgendes nachdenken: Die Gringo-Kapitalisten bedienen sich billiger Arbeitskräfte in Mexiko, Guatemala, Bangladesch, China – ich nenne nur einige arme Länder –, um eure Hi-Fi-Anlagen, eure Fernseher und eure Kleidung zu produzieren. Ohne diese barata Arbeitskräfte würde sich die Inflationsrate im zweistelligen Bereich bewegen und eure Wirtschaftspolitik scheitern.
Euer Wohlstand basiert auf Sklavenarbeit. Nun ja, aber hat Ihre Nation nicht genau so angefangen? War das nicht die Grundlage des ganz frühen Wohlstandes? Einerseits stellen Sie moralische Betrachtungen über die Freiheit an, andererseits versklaven Sie andere. Also bitte, Mr. Walkinghorse, maßen Sie sich nicht an, mir Belehrungen in Sachen Moral zu erteilen.«
Victor hielt an. »Boss, schauen Sie mal raus!«, sagte er auf Spanisch. »Die Straße ist verschwunden. Sie hat sich in einen Fluss verwandelt.« Er stieg aus dem Wagen und verschwand in der Dunkelheit. Als er zurückkam, wirkte er verstört.
Jetzt stieg Solís aus und inspizierte gemeinsam mit Victor die Überschwemmung. Ich nutzte die Gelegenheit und setzte meine Zähne ein, um das Klebeband an meinen Handgelenken einzureißen. Als sie zum Auto zurückkehrten, hatte ich ein paar Lagen durchgenagt.
Die rechte Spur der Straße stand etwa dreißig Zentimeter unter Wasser, die linke Fahrbahnhälfte war komplett fortgespült worden. Dort, wo sich die durchgezogene Linie befinden sollte, stürzte weißes Wasser in einen Abgrund. Es sah aus wie eine Miniaturausgabe der Niagarafälle. An dieser Stelle kreuzte die Straße ein ausgetrocknetes Flussbett, nichts Außergewöhnliches für Wüstenstraßen, nur war hier der Fluss mit aller Macht zurückgekehrt. Links der Mittellinie hatte das Wasser eine Tiefe von ungefähr eineinhalb Metern, noch weiter links floss es mit der langsamen, gelassenen Strömung eines richtigen Flusses dahin. Solís dachte angestrengt nach.
»Hol die Taschenlampe«, wies er Victor an. Er sprach castellano, die kastilische Sprache, allerdings ohne das typische Lispeln. »Ich werde den Wagen durch das flache Wasser steuern. Du weist mir den Weg mit der Taschenlampe. Stell dich etwa dorthin, wo die Straße weggespült wurde, ich orientiere mich daran und fahre rechts vorbei.«
»Sie müssen aber sehr zügig durchfahren, Boss«, sagte Victor. »Und vorsichtig lenken. Das, was von der Straße übrig ist, ist so breit wie der Wagen, vielleicht ’nen halben Meter breiter, und die Strömung hier auf der rechten Seite wird den Wagen nach links drücken, da müssen Sie ordentlich gegensteuern.«
»Ich weiß, wie man ein Auto fährt«, erwiderte Solís auf Englisch.
Victor war mit einem Male die Verlegenheit in Person. »Seguro«, sagte er, »das weiß ich doch, jefe.«
Solís glitt hinter das Steuer und Victor machte sich auf in die tosende Flut. Das Wasser reichte ihm nicht einmal bis zu den Knien und trotzdem hatte er Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Er gab seinem Boss ein Zeichen mit der Taschenlampe.
Solís setzte den Wagen etwa hundert Meter zurück, drehte sich um zu mir und lächelte. Es war das Lächeln eines Matadors, das sorglose Lächeln eines Mannes, der regelmäßig sein Leben aufs Spiel setzte und Spaß daran hatte.
Er ließ den Motor aufheulen und schob den Automatikhebel in den Vorwärtsgang. Zuerst schlingerte der Wagen auf dem nassen Untergrund, dann fuhr er abrupt los.
Nach Samalayuca waren es nur noch ein paar Meilen. Das hier war meine einzige Chance. Entweder jetzt sterben oder später durch Victors Hand. Das Jetzt, als Solís im Begriff stand, einen der seltenen Fehler in seinem Leben zu begehen, schien mir die bessere Alternative zu sein.
Ich saß direkt hinter ihm. Vermutlich dachte er, ich hätte mich – besänftigt durch unseren philosophischen Diskurs – inzwischen damit abgefunden, zu sterben como un hombre. Doch weit gefehlt. Ich hob die zusammengebundenen Arme, warf mich nach vorn, gegen den Sitz, und legte sie ihm wie eine Schlinge um den Hals. Ein kurzer, scharfer Ruck und Solís ließ das Lenkrad los. Er versuchte sich zu befreien, krallte sich in meine Hände. Um mehr Druck ausüben zu können, stemmte er sich mit den Füßen gegen das Bodenblech. Dabei setzte er einen Fuß auf das Gaspedal. Der mächtige V8-Motor röhrte los.
Als wir auf das Wasser zufuhren, hatte der Wagen ungefähr achtzig Sachen drauf, doch niemand lenkte ihn. Ich sah noch einen verzweifelt mit der Taschenlampe winkenden Victor, danach lag er auf der Motorhaube, das Gesicht gegen die gesprungene Windschutzscheibe gepresst, die Augen angesichts des eigenen Todes weit aufgerissen, dann war er verschwunden. Unsere Fahrt endete im Tiefen, dort, wo die Straße weggespült worden war, in einem Winkel, der den Wagen zwang, sich auf die Seite zu legen. Irgendwie kam ich von Solís frei und versuchte, mein Seitenfenster zu öffnen. Doch der Motor war abgesoffen und die Elektronik für die Fensterheber außer Funktion.
Es war stockfinster. Das Auto drehte sich träge im Strom, schabte über den Grund des neu entstandenen Flusses und allmählich füllte sich der Innenraum mit Wasser. Noch lag ich mit dem Rücken an die Tür gepresst, doch dann kippte der Wagen ein zweites Mal zur Seite und ich fand mich auf der Decke des Innenraumes wieder, unter Wasser.
Hustend kam ich an die Oberfläche. Es waren vielleicht noch dreißig Zentimeter freier Raum vorhanden, Tendenz stark fallend. Ich atmete mehrere Male tief ein, tauchte unter und legte mich auf den Rücken.
»Sei explosiv, Mann«, hatte Ray Fuentes mal zu mir gesagt. Er hatte mich unterstützen wollen, als ich mir vorgenommen hatte, aus der Kniebeuge zweihundertsiebzig zu stemmen. »Beweg dich, als ob du die beschissene Hantel durchs Dach katapultieren willst.« Diesen Ratschlag im Ohr, rammte ich mit aller Kraft meine Füße gegen das Seitenfenster.
Es reichte nicht, um das Fenster genügend zu beschädigen. Also musste ich ein weiteres Mal hoch, um Luft zu holen – jetzt erwarteten mich noch um die zehn Zentimeter freier Raum. Wieder atmete ich mehrere Male tief ein und aus, dann machte ich mich an die Arbeit. Zwei weitere Tritte und das Fenster war vollständig zertrümmert.
Ich tauchte ein letztes Mal zum Atmen auf, doch der Innenraum war vollständig geflutet. In Bauchlage schlängelte ich mich durch das Fenster, die Zähne zusammengebissen, um dem selbstmörderischen Verlangen meiner Lungen zu trotzen. Schließlich ertasteten meine Füße den matschigen Boden des Flussbettes und ich konnte auftauchen in die Dunkelheit.
Mit dem Gesicht nach oben ließ ich mich in seichtes Wasser treiben. Als sich meine Absätze in den Schlamm bohrten, lag ich wie ein gestrandeter Wal auf einem sumpfigen Feld. Es kostete mich ungefähr eine Stunde, das Klebeband an meinen Handgelenken durchzubeißen, aber lediglich eine Minute, meine Knöchel zu befreien.
Keine Spur von Victor. Solís war im Wagen, davon war ich felsenfest überzeugt. Wahrscheinlich hatte ich ihm die Luftröhre zerquetscht, bevor er überhaupt die Chance gehabt hatte, zu ertrinken. Es gab keinen Hinweis auf den Lincoln, ich sah nur den Fluss, die Wüste und den Regen.
Ich gönnte mir ein paar Minuten Pause, bevor ich mich auf den Weg Richtung Norden machte.