Sechsundvierzig
Eine Woche später begannen die Gebietsstreitigkeiten. Man hatte Solís gefunden und seinen Tod offiziell der unterspülten Straße zugeschrieben. Weder Forbes noch Trebeaux noch die Plastiksäcke, in denen sie lagen, fanden Erwähnung, genauso wenig Victor oder die kriminellen Machenschaften. Der Machenschaften gab es hingegen genug, als rivalisierende Banden um die Kontrolle der plaza kämpften, des ehemaligen Territoriums des Exmatadors. Männer mit Maschinenpistolen verspritzten ihre Munition in einer Bar in Juárez und töteten sechs Menschen. Mehrere Angehörige angesehener Berufe – Anwälte, Ärzte, Führungskräfte – wurden enthauptet. Vor keiner Gesellschaftsschicht hatte die Korruption Halt gemacht, an die Solís so zuversichtlich geglaubt hatte.
Selbst Touristen waren ins Kreuzfeuer geraten. Die Leichen der amerikanischen Opfer wurden zusammen mit Kondolenzschreiben beider Regierungen nach Wisconsin oder New Jersey oder Missouri zurückgeschickt. Doch die Gebietsstreitigkeiten waren keine Sache für die Ewigkeit. Irgendwann würde eine Bande durch Verluste und Zermürben der anderen obsiegen und ein neuer Drogenkönig gekrönt. Das Leben an der Grenze verliefe wieder in normalen Bahnen, genau wie der Drogenhandel, der unter zeitweiliger Verknappung zu leiden hatte. Ich hielt mich in puncto Drogenkrieg durch die Lektüre von Tageszeitungen auf dem Laufenden, die beiderseits des Rio Grande erschienen. Nach wenigen Wochen wurden die gewaltsamen Auseinandersetzungen seltener und das Interesse der Presse ebbte ab.
Jillians Leichnam wurde vom Gärtner der Rensellers anlässlich seines wöchentlichen Rundgangs entdeckt. Er fand sie im Forellenbecken. Tod durch Ertrinken. Eine Zeitung mutmaßte, dass sie nach dem Tod ihres Mann keinen Lebenswillen mehr gehabt und Selbstmord begangen habe. Da weder ein Abschiedsbrief noch andere Anhaltspunkte vorlagen, die auf Selbstmord hindeuteten, befand das Büro des Coroners auf Unfalltod und schloss die Akte. Niemand machte sich die Mühe zu hinterfragen, weshalb sie nackt im Forellenbecken ihres verstorbenen Mannes schwamm.
Man hatte meinen Wagen zurück auf den Parkplatz des Baron Arms gebracht. Clara Howler, die sicher von meiner Exekution ausgegangen war, wollte jede Verbindung zwischen mir und den Rensellers kappen, da jeglicher Hinweis darauf eine neue Untersuchung hätte nach sich ziehen können. Clara wurde in der gesamten Berichterstattung mit keinem Wort erwähnt. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie ihren Lebenslauf unter den Kandidaten für den Posten des jefe verteilte. Einen Lebenslauf, der selbst dem zynischsten Herzen Kammerflimmern bescheren könnte.
Bei Cibola Savings and Loan lief der Geschäftsbetrieb die ganze Zeit weiter, als gäbe es keinerlei Verquickungen mit all den Vorkommnissen. Ein ehemaliges Mitglied des Stadtrats übernahm den Vorsitz der Bank. Wer hinter dieser Entscheidung stand, wurde nicht publik. Nach alldem, was ich inzwischen gelernt hatte, hätte es mich nicht überrascht, wenn es der Bürgermeister, der Gouverneur oder der Präsident der Vereinigten Staaten höchstpersönlich gewesen wäre. »Korruption ist die Regel«, hatte Solís, mein Lehrer, gesagt, aber ich gelobte mir, mich von nun an auf die Ausnahmen zu konzentrieren.
Die Szenen häuslichen Glücks hatten meinen kleinen Zusammenbruch in Güeros Küche provoziert. Xochi und ihn zusammen zu sehen hatte mir die Augen geöffnet. Sie hatten etwas, was mir versagt bleiben würde. Vielleicht hätten Jillian und ich die Chance gehabt, aber diese vage Chance war nun dahin.
Meine Träume wurden zu Albträumen: Jillian in meinen Armen, leblos und kalt. Ich trug sie aus dem reißenden Strom der Unterspülung. In diesem Traum war ich schuld an ihrem Tod. Mein eigener Schrei ließ mich hochfahren. Nein! Ich war es nicht!, doch die Unterströmung meines Traums ertränkte meine Unschuldsbekundung.
Mit der Zeit verloren die Träume an Intensität und verwässerten. Manchmal hielt ich sie in meinen Armen und sie war am Leben. Wir waren im Pool eines Motels und liebten uns. In der Regel erwachte ich aus diesen Träumen, weil ich das leere Bett neben mir nach ihr abtastete. Das waren die grausamsten Träume.
Nach ungefähr einem Monat hörte ich auf, von ihr zu träumen, was nicht hieß, dass ich nicht an sie dachte. Nur gestand ich mir endlich ein, dass dieses Glück, das Güero und Xochi miteinander teilten, niemals an uns haften geblieben wäre. Wir beide waren aus einem anderen Holz geschnitzt. Wir beide wollten mehr, wenn auch keiner von uns jemals zu sagen vermocht hätte, was darunter zu verstehen sei.
Der Trauergottesdienst für Sam wurde in Jesajas Kirche abgehalten, einer schwarzen Baptistenkirche. Maggie, der eine oder andere Freund aus Armeetagen und ich waren die einzigen weißen Gesichter in der kleinen Trauergemeinde. Der Pfarrer hatte Sam nie kennen gelernt, doch seine Grabrede geriet zur Eloge an einen Kriegshelden, der eine bunte Familie gegründet und seine Kinder zu respektablen Bürgern erzogen hatte. Bis auf Moses, den er überhaupt nicht erwähnte, wurde jeder von uns mit begeisterten Worten gewürdigt: Zacharias, der Firmenanwalt und Kosmopolit, Zipporah, die Schuldirektorin, Jesaja, der hart arbeitende Familienvater, und ich, der Manager eines Apartmentkomplexes und ehemalige Athlet und Wettkampfchampion. Er bezeichnete mich nicht als Bodybuilder, weil die Erwähnung dieses narzisstischen Körperkults vermutlich in der Kirche nicht gut ankäme.
Moses war immer noch in La Xanadu. Um ihm dort einen weiteren Monat zu ermöglichen, hatte ich meine ganzen Reserven einsetzen müssen und war jetzt pleite. Jesaja meinte, er könne mich bei UPS als Aushilfsfahrer unterbringen. Ich versprach, darüber nachzudenken. Ich dachte auch über Güeros Angebot nach, der mich gern hinter der Bar des La Paloma sähe, seines neuen Ladens in Juárez. Ich müsste mein Spanisch ein wenig aufmöbeln, doch die Bezahlung war ordentlich, das Leben in Mexiko billiger und vermutlich weniger deprimierend als der Kontakt mit den Elendsgestalten, die durch das Baron Arms geisterten.
Mein vernachlässigter Briefkasten quoll über, das meiste davon Ausschuss. Ich schaffte die Ladung in mein Apartment und warf sie auf den Tisch. Beim Sichten flog ein Großteil direkt in den Papierkorb. Zwischen der ganzen Werbung befand sich ein Brief von Gert. Er war ziemlich schwer, als enthielte er ein amtliches Dokument. Aber es war ein mehrseitiger Brief, abgefasst in der Handschrift eines Schulmädchens.
Ihr Stockcar-Rennfahrer Trey Stovekiss war tödlich verunglückt. »Sie waren zu viert in der Nordkurve«, schrieb sie, »und als Trey die Wand berührte und wieder herunterkam, stieg ihm ein Thunderbird aufs Dach, und dann ist ihnen ein blutiger Anfänger mit seinem Trans Am voll in die Breitseite gefahren. Treys Camaro wurde in alle Einzelteile zerlegt. Trey hatte keine Chance.«
Allein, schwanger und völlig blank, hockte Gert jetzt irgendwo in Georgia. Finanziell in der Klemme, konnte sie nicht mal mehr die Anwälte bezahlen, die mir hatten Dampf machen sollen. Sie wollte wieder nach Hause. »Ich kenne jetzt dein Problem«, schrieb sie, »und wahrscheinlich ist es das gleiche Problem, das ich habe. In Atlanta habe ich eine Therapeutin aufgesucht und die meint, dass Menschen wie du, verstehst du, Menschen, die viel über sich nachdenken, sich Gedanken über ihr Äußeres und so machen, und ich schätze, da gehöre ich auch dazu, diese Sache haben, die man Bindungsstörung nennt. Es fällt ihnen, ich meine, es fällt dir und wahrscheinlich auch mir schwer, sich auf andere einzulassen. Das fängt schon in der Kindheit an. Du wurdest von dem Menschen im Stich gelassen, der dich zur Welt gebracht hat, von daher ist es kein Wunder, dass du so bist. Meine Kindheit verlief ganz okay, glaube ich, trotzdem hat die Therapeutin, Doktor Loftus, bei mir eine marginale Bindungsstörung diagnostiziert. Mildred. Sie möchte, dass ich sie Mildred nenne. Wenn man in der Lage ist, in Worte zu fassen, was mit einem nicht stimmt, sagt sie, ist das schon ein Riesenschritt. Ich habe mir gedacht, dass wir vielleicht, wirklich nur vielleicht, die Dinge zwischen uns wieder geraderücken können. Was meinst du, Uri? Ich habe dich schlecht behandelt, aber ich habe dich nie vergessen. Liebst du mich denn noch ein kleines bisschen? Ich könnte verstehen, wenn du jetzt nein sagst, ich und schwanger, und dann auch noch mit Treys Kind, aber das Baby muss doch nun wirklich nicht die Fehler der Erwachsenen ausbaden, es hat doch ein Recht auf eine Familie, die es liebt, wo es wohlbehütet aufwächst. Mildred meint, dass Trey wahrscheinlich auch eine Bindungsstörung hatte. Das ist ein weit verbreitetes Problem. Es wäre doch eine Tragödie, wenn das Baby jetzt auch noch mit so einer Bindungsstörung aufwachsen würde. Ich weiß, das würde nicht einfach werden, aber meinst du nicht auch, dass Menschen manchmal über sich hinauswachsen sollten? In Erwartung eines Kindes, sieht die Welt ganz anders aus.«
Diesen Brief warf ich nicht weg.
Unter den Briefen waren einige mit Angeboten für Kreditkarten. Einer war von Cibola Savings and Loan. »Sehr geehrter Mr. Walkinghorse, sollten Sie noch nicht über eine Platinum Card der Cibola verfügen«, begann das Anschreiben, »möchten wir Ihnen dieses ungewöhnliche Angebot … « Ich fing an zu lachen, doch lachen schien mir nicht angemessen. Ich ging hinaus auf den Flur und heulte wie ein verlassener Hund. Einige Mieter öffneten die Türen, um die Quelle des Lärms zu lokalisieren. Sie wussten, was die Glocke geschlagen hatte, und drängten auf keine Erklärung.
Die Luft war dank des Sturms noch immer wie reingewaschen. Sie roch nach Leben. Ich ging über die Straße, ins ehemalige DMZ, und bestellte eine Margarita. Die Eigentümerin des Piccadilly on the Rio, Mrs. Neue Geschäftspolitik, weilte noch in Belize, also feierte ich ihre Abwesenheit mit zwei laschen Drinks.
Ich bat den Barkeeper um Papier und Stift. Er suchte und kramte und gab mir schließlich eine herausgerissene Seite eines alten Quittungsblocks. Ich schrieb:
In Erwartung eines Kindes,
sieht die Welt ganz anders aus.