Neunzehn
Die Tür zu meinem Apartment stand offen. Alles war verwüstet – Schubladen waren über das gesamte Zimmer verteilt, ihr Inhalt lag auf dem Boden. Das Bett war umgestürzt, das Bettzeug ein verknoteter Haufen. Selbst den Teppichboden hatte man an den Scheuerleisten hochgerissen. Die Küchenschränke waren offen, die Regale lagen am Boden; auf dem Küchentresen jede Menge Glasscherben, die Spüle voller Lebensmittel, zerbrochener Flaschen, Vitaminpillen und Küchenschaben, groß wie Mäuse.
Auf dem Boden dann mein Bild von Arnold, der Rahmen hinüber, das Foto in zwei Hälften. Die Rache der Schnüffler, schoss es mir durch den Kopf. Ich gab meinen Senf zu dem Chaos dazu und warf eine Bratpfanne gegen die Wand, stellte mir vor, wie sie gegen den Schädel eines Schnüfflers prallte. Merkwürdig nur, dass sie weder den Fernseher noch den Videorecorder angefasst hatten. Un milagro.
Ich musste hier weg. Es spielt keine Rolle, wie bescheiden ein Zuhause ist, ein Zuhause ist ein Zuhause und alles, was man hat. Ich gelobte mir, dass dieser Einbruch der letzte gewesen sein sollte. Mein Schlüsselbund hing immer noch in der Nische für den Sicherungskasten, ganz hinten, an einem Haken. Wenigstens hatten sie das nicht gefunden, sonst hätten alle Schlösser im Gebäude ausgetauscht werden müssen. Ich bemühte mich, für diese kleinen Wunder so etwas wie Dankbarkeit aufzubringen. Meine Kleidung war unangetastet, also schnappte ich mir Sweatshirt, Hose, Socken und Trainingsschuhe.
Ich ging ins Badezimmer und öffnete den Arzneischrank. Noch eine Überraschung: alles unversehrt. Nicht dass hier Dinge standen, die für einen Schnüffler von Bedeutung gewesen wären – lediglich alte Kosmetika, die Gert zurückgelassen hatte. In dem Glauben, sie komme zurück und wolle sie wieder benutzen, hatte ich die rosa- und beigefarbenen Tuben und Tiegel aufgehoben, selbst als bereits klar war, dass Gerts Abwesenheit von Dauer sein würde. Ab und an war ich versucht gewesen, alles in die Tonne zu werfen, nur der Widerwille, mich so näher damit befassen zu müssen, hatte mich davon abgehalten. Reine Sentimentalität, schätze ich. Oder vielleicht Einsamkeit. Keinesfalls Hoffnung. Hoffnung hält sich nicht lange. Wie Kaffee vom Vortag hinterlässt sie einen bitteren, metallischen Nachgeschmack. Was die innere Verfassung betrifft, kommt Hoffnung dem Genuss des eigenen Gallensaftes gleich.
Zwischen Feuchtigkeitslotionen, Rougetöpfchen, Abdeckstiften, diversen Cremes und Ölen fand ich ein Röhrchen Seconal – Gert hatte sie immer als rote Teufel bezeichnet. Entweder war das Röhrchen von den Schnüfflern übersehen worden oder sie standen nicht auf reine Arzneimittel. Bayer, Pfizer, La Roche hatten auf dem Gebiet der Gehirnerweichung nichts zu bieten, was einem Lösemittel zu fünfzehn Dollar die Gallone ernsthaft Konkurrenz machen könnte. Ich nahm ein Handtuch vom Regal, ein neues Stück Seife und machte mich aus dem Staub.
Zwei Türen weiter verschaffte ich mir Zutritt zu einem leer stehenden Apartment. Ich zog die Sachen der Toten aus, warf zwei rote Teufel ein und duschte ausgiebig, und zwar heiß genug, um den Tod aus meiner Haut zu kochen. Anschließend legte ich mich auf die nackte Matratze, den Kopf auf einem nicht bezogenen Kissen.
Als ich meine Augen schloss, sah ich Rigobertos Ohren, das Messer in der Hand des pochos, mit dem er die Ohren dicht am Schädel abtrennte; durch mein Sichtfeld bewegten sich die von Fliegenschwärmen belagerten Leichen wie Lichtreflexe auf einem Fluss. Und über allem schwebte das Gesicht Jesús Malverdes, des Schutzheiligen der Drogenhändler, Augen aus dem 19. Jahrhundert mit einem traurigen Ausdruck, als könne er die Zukunft Mexikos sehen.
Dann schlugen die roten Teufel zu. Sie öffneten eine Tür, hinter der ein still ruhender, schwarzer See lag. Ich fiel hinein.
Clara Howler hatte mich bei den Ohren gepackt und drehte meinen Kopf nach links, dann nach rechts, um meine Hilflosigkeit zu unterstreichen. Vom Hals abwärts war ich gelähmt. »Du bist zu neunzig Prozent tot«, sagte sie. Dann setzte sie sich auf meine Brust und schnitt mir mit einem Jagdmesser die Ohren ab. Sie hielt sie in die Höhe, ließ sie vor meinen Augen tanzen. Sie waren blutleer, wächsern. »Siehst du«, sagte sie. »Nichts Besonderes. Es ist nur Fleisch. Wir sind alle nur Fleisch, carnal, nichts weiter.« Sie zog ihren Rock hoch und hockte sich auf mein Gesicht. Ich hatte das Gefühl, unter dem Druck ihrer feuchtwarmen Dschungelhitze tiefer und tiefer zu sinken. Ich wollte schreien, bekam aber nicht genug Luft in die Lungen. Sie erstickte mich mit ihrem Körper. Dann rannte ich, rannte durch tiefen Sand, hinter mir aufgeregte Stimmen, die Stimmen der Toten, die darum bettelten, ihre Leichen zu begraben, bevor es zu spät war. Wofür zu spät?, schrie ich. Beeil dich, riefen sie, beeil dich.
Ich saß aufrecht auf der Matratze, mit galoppierendem Herzen, die Frage Wofür zu spät? auf den Lippen. Es war Morgen – doch welcher Tag? Es kam mir so vor, als hätte ich eine Woche geschlafen, aber ich fühlte mich überhaupt nicht ausgeruht, mein Schädel war voller Sägemehl. Ich rollte mich von der Matratze und kroch ins Badezimmer, kletterte in die Dusche und drehte das kalte Wasser auf. Dort blieb ich hocken, bis mein Herz wieder langsamer schlug. Ich konnte wieder klar denken. Inzwischen war ich derart ausgekühlt, dass mir der Sinn nach etwas Warmem stand, meine Panik hatte dem Bedürfnis nach körperlichem Wohlbehagen weichen müssen.
Ich ging zurück in mein Apartment und räumte auf. Anschließend machte ich mir einen starken Kaffee, setzte mich an den Tisch und blickte hinunter auf den Parkplatz. Ich war dankbar, am Leben zu sein, gleichzeitig fragte ich mich, wie lange dieser Zustand noch andauern werde.
Was war mein Leben schon wert, allgemein betrachtet? Nicht viel, aber es war das Wichtigste, was ich besaß. Ich glaubte immer noch an meine Zukunft – eine vage, kaum greifbare Zukunft, aber immerhin eine Zukunft. Vielleicht würde ich doch noch meinen Magister machen. Vielleicht würde ich für eine dieser viel versprechenden High-Tech-Firmen arbeiten, die mit den Vorzugsaktien für ihre Mitarbeiter so generös umgingen, dass man sich als Millionär zur Ruhe setzen konnte. Vielleicht würde ich eine nette Frau kennen lernen und heiraten. Vielleicht ein rechtschaffenes MittelklasseLeben führen: trautes Heim, Glück allein in einem grünen Vorort, befriedet durch das ständige Vorbeizischen der Familienkutschen, die breite, von Bäumen gesäumte Straßen entlangfuhren.
Je mehr solcher Bilder ich mir ausmalte, desto mehr gerieten sie zu Karikaturen. Wem wollte ich hier eigentlich Sand in die Augen streuen? Ich würde nirgendwohin gehen. Ich musste alles daransetzen, meinen gegenwärtigen Standard halten zu können, nicht abzurutschen und am Ende auf der Straße zu stehen.
Meine Faust landete auf dem Tisch, ließ den Becher erzittern und den Inhalt überschwappen. »Leck mich am Arsch!«, schrie ich, als stünde der Schuldige vor mir, der, der für meine missliche Lage verantwortlich war. Vielleicht war es Gert, die mich wegen eines Rennfahrers verlassen hatte. Vielleicht war es Jillian – Jillian, die in mir wieder den Gedanken an eine Beziehung zu einer Frau wachgerufen hatte. Oder el jefe und seine maskuline Leibwächterin Clara Howler. Vielleicht waren es die Farnsworths, die mich überhaupt erst in diesen Schlamassel hineingezogen hatten. Es waren viele, auf die ich mit dem Finger zeigen konnte, doch am Ende fiel alles auf mich selbst zurück: Ich hatte mir mein Leben ohne ersichtlichen Grund versaut.
Vielleicht war es auch eine Frage der Genetik – meine leiblichen Eltern waren Träger des Verlierergens, das die Genforschung schon bald entdecken würde. Vielleicht waren es Sam und Maggie, war es ihre Art, uns zu selbstkritischen Menschen zu erziehen, die sich ihrer Fehler bewusst waren. Vielleicht war ich mir meiner Fehler zu bewusst. Aber was war dann mit Jesaja, Zipporah oder Zacharias? Angeboren oder anerzogen? Es war eine Art Lotterie, bei der die Hauptgewinne Jesaja, Zack und Zip die Nieten Moses und Uriah ausglichen.
Ich zog mir ein Sweatshirt über und brachte die Klamotten der Toten zusammen mit dem anderen Müll hinunter zum Müllcontainer. Auf dem Parkplatz wartete abermals eine Überraschung auf mich: mein Auto. Es stand nicht auf meinem Platz, aber es war zumindest da. Jemand hatte es sogar waschen lassen. Es war nicht abgeschlossen, die Schlüssel steckten im Zündschloss. Jillian oder einer ihrer Freunde hatte nicht gewollt, dass auf ihrem Grundstück das Auto eines Toten stand. Durchaus vernünftig. Sie waren vorsichtig, obwohl die Chance, als Leiche auf dem Friedhof der narcotraficantes entdeckt zu werden, eher gering war.
Es gab zwei weitere Überraschungen. Jillians Schecks waren verschwunden, Forbes’ billige .32er war ebenfalls weg. In diese Apartments einzubrechen ist nicht schwer. Ich hatte mir also was einfallen lassen müssen, um diese wichtigen Dinge vor den Fingern gewöhnlicher Diebe zu schützen. Die Schecks hatte ich ins Gefrierfach meines Kühlschranks gelegt, unter die Eiswürfelschalen. Sie waren nicht mehr dort. Auch Forbes’ Taschenrevolver, der in dem lichtundurchlässigen Gefrierbeutel wie ein kleines Steak ausgesehen hatte, war verschwunden.
Die Schnüffler hätten mit den Schecks nichts anzufangen gewusst, außer sie vielleicht als Klopapier zu benutzen. Aus ihrer Sicht hätte es eine Art grandios ausgetüftelter Vergeltungsmaßnahme sein können, sich mit Schecks den Arsch zu wischen, die sie nicht zu Bargeld machen konnten. Und normalerweise benutzen Schnüffler auch keine Waffen. Ihre Drogen sind zu billig, kann man sie zu locker aus den Regalen der Supermärkte holen, dafür lohnt kein bewaffneter Raubüberfall. Schnüffler leben auf der Straße und versorgen sich bei der Heilsarmee mit Essen, sofern die Lösemittel ihren Appetit nicht völlig abgetötet haben. Eine Waffe ist für einen Schnüffler eher eine Bürde. Die Cops lassen sie meist gewähren, aber der Besitz einer Waffe könnte sie für ein paar Monate in den Bau bringen. Kein Klebstoff, kein Verdünner, kein Fleckentferner. All das und die Tatsache, dass Schnüffler nicht mehr über genügend Hirnzellen verfügen, um Dinge in ausgeklügelten Verstecken – in einem Kühlschrank, zum Beispiel – zu finden, ließ mich den Einbruch noch mal überdenken.
Wer auch immer hier eingedrungen war, er wollte die Waffe und die Schecks. Zuerst hatte er die nahe liegenden Verstecke durchforstet, dann seine wütende Suche fortgesetzt, wie der Wachhund eines Schrottplatzes, den man auf den Abfallcontainer eines Steakhauses losgelassen hatte.
Forbes.
Forbes hatte die Schecks und seine Waffe mitgenommen. Das erklärte auch die Attacke auf Arnold und die Blonde um seinen Hals: Forbes war ein Fettsack, der den Gedanken an körperliche Perfektion und sexuellen Erfolg nicht ertragen konnte. Das Bild hatte ihm gestunken und die damit verbundene Erinnerung stank ihm vermutlich noch immer.
Die Schecks waren das Einzige, was mich mit den Rensellers in Verbindung bringen konnte. Die Waffe, die auf Forbes’ Namen registriert war, stellte die Verbindung zwischen mir und Forbes her und somit auch zu Fernando Solís Davila.
Aber es gab noch ein loses Ende. Ich rief die Farnsworths an. Jerry hob ab.
»Walkinghorse hier. Ich muss mit euch reden«, sagte ich.
»Uri? Im Moment geht’s nicht. Wir haben gerade eine Sitzung. Mona hat dich schon angerufen. Hörst du deine Nachrichten nicht ab?«
»Ich war nicht in der Stadt.«
»Hör zu, Mona ist gleich mit einem wichtigen Kunden zugange und ich assistiere ihr. Es ist das erste Mal für mich und ich bin etwas nervös. Ich soll die Grandma geben. Dieser Typ will von Oma mit einem Bratenwender versohlt werden, während er Mama aus der Hand frisst. Mona spielt die Mama. Hier ist das Zentrum des Wahnsinns. Ist Amerika nicht wunderbar? Was wolltest du eigentlich?«
»Ist vor kurzem bei euch eingebrochen worden?«
»Woher weißt du das?«
»Sie haben nur die Renseller-Videos mitgenommen, stimmt’s?«
Ich hörte, wie er tief Luft holte. »Du Mistkerl«, sagte er, »du bist es gewesen, richtig? Oder jemand in deinem Auftrag. Wir haben dir doch gesagt, dass du dir keine Gedanken machen musst. Die ganze Sache ist sowieso längst Geschichte.«
»Ich war es nicht. Es war einer von Jillians Freunden. Sie wollen sicher sein, dass Clive Rensellers stilloser Abgang nirgendwo dokumentiert ist.«
Er erwiderte nichts darauf. Ich sah es direkt vor mir, wie hektisch die kleinen Rädchen unter seinem Iro rotierten.
»Ich bin Teil dieser Dokumentation«, sagte ich. »Mit euch aber haben sie überhaupt nichts am Hut. Mona wird wohl kaum jemandem erzählen, wie Renseller gestorben ist. Sie verdient viel zu viel Geld mit dem Ganzen, um Interesse an einer Enthüllung zu haben. Denn was Mind me! absolut nicht gebrauchen kann, ist eine Veröffentlichung der Liste eurer Kunden. Der Einzige, der Grund hätte, sich an die Presse zu wenden, bin ich.«
»Um Gottes Willen, Uri, mach das bloß nicht!« Jerry war alles andere als gelassen, seine Emotionen spielten verrückt. Das machte ihn glaubwürdig und dafür mochte ich ihn.
»Keine Sorge. Zwar würden mir die Boulevardblätter sicherlich einen Riesen zahlen, aber der zweite Versuch von el jefe, mich in Samalayuca zu begraben, würde nicht fehlschlagen.«
»El wer? Will dich wo begraben?«
»Das willst du gar nicht wissen. Warum hat Mona mich angerufen?«
Er seufzte. »Ein Jobangebot. Mona will dich im Team, und zwar ganztags. Sie zahlt dir einen Tausender pro Woche.«
»Diese Arbeit liegt mir nicht, Jerry.«
»Nicht so voreilig. Denk erst mal drüber nach.«
Ich legte auf.
Erst jetzt registrierte ich das rote Lämpchen an meinem Anrufbeantworter. Es blinkte hastig, was bedeutete, dass ich mehr als eine halbe Stunde an Nachrichten hatte. Ich spielte sie ab, während ich in meinen besten – und einzigen – Anzug stieg.