Achtunddreißig

Kaum waren wir zurück auf der Interstate, hatte ich Jillian auch schon aus den Augen verloren. Ich versuchte gar nicht erst, mit ihrem Tempo mitzuhalten. Vielmehr nahm ich Rücksicht auf den alten Ford, indem ich zehn Meilen pro Stunde unter der Geschwindigkeitsbegrenzung blieb. Vielleicht hätte ich doch Zacks Vorschlag ernsthaft in Erwägung ziehen sollen, mir ein neues Auto zuzulegen und Moses seinem Schicksal zu überlassen. Jetzt musste ich tief in die Tasche greifen, damit der Scheck gedeckt war, den ich in La Xanadu ausgestellt hatte. Wenn ich nicht genug auftreiben konnte, um Moses zwei Monate in der Klinik zu bescheren, war es vergeudetes Geld.

Geld. Wie hatte es Zack noch mal genannt? Der Welt Lebenssaft. »Es liegt da draußen«, hatte er gesagt, »und ist ganz leicht einzusammeln.« Er hatte leicht reden. Schließlich wusste er, wie der Hase läuft. Er kannte sich aus mit Geld – wo es steckte, was man anstellen musste, um es zu bekommen, wie man damit umging, wenn man es erst einmal hatte. Er war der grünen Dollarsprache mächtig, ich hingegen nur der roten Sprache des Verlangens.

Jillian. Ich hatte das Verlangen nach ihr zugelassen. Und das machte mir Angst. War eine gemeinsame Zukunft möglich? Ich wollte daran glauben. Vielleicht war ihre Abfindung ja der Schlüssel dazu. Eine halbe Million und noch mal ganz von vorn anfangen. Geld ist der Geist aus der Flasche, der all deine Wunschträume in Erfüllung gehen lässt. Vielleicht konnten wir tatsächlich nach Oregon gehen, in eine kleine Stadt in der dünn besiedelten Mitte des Bundesstaates. Ich könnte meinen Magister machen und als Lehrer arbeiten; sie könnte einen kleinen Laden für Lebensmittel oder Delikatessen betreiben, von mir aus auch für etwas Exotisches. Das Leben bot so viele Möglichkeiten. Such dir etwas aus, womit du leben kannst, bleib am Ball und warte ab, was passiert.

Für diese Denkweise hatte Güero nur Spott übrig; für mich waren diese Vorstellungen reizvoll – der Gringo, der sich seine Zukunft in den schillerndsten Farben ausmalt und auch noch daran glaubt. Ich wollte es und das Wollen ist der Motor, der die Dinge zum Laufen bringt.

Ich hielt am Kräuterladen, um Proteinpulver, Vitamine und ein paar Kräuter zu kaufen. Im Laden fiel mein Blick sofort auf den Zeitschriftenständer mit der neusten Ausgabe von Know It All!.

Ein weiteres Foto von Clive Renseller in Mona Farnsworth’ Folterkeller schmückte die Titelseite. Diesmal wurde in der Bildüberschrift sogar sein Name erwähnt:

Clive Renseller, das beste Pferd im Stall

Mit dabei Mona Farnsworth als June Cleaver, die auf Clives Rücken reitet. Ihr Slip in seinem Mund. Eine Hand in sein Haar gekrallt, die andere hielt die Leine straff, die an dem Hundehalsband um seinen Hals befestigt war. Ihr Miene theatralisch: der mörderische Spaß einer exaltierten Hausfrau. Ihr irrer Blick … glaubwürdig. Clives verzerrtes Gesicht … glaubwürdig. Das Ganze an sich … schier unglaublich. Mir wurde fast übel bei dem Gedanken, welche Opfer man bringt, nur um an Geld zu kommen.

Der Autor des Artikels hatte seinen Spaß gehabt und das Pferdethema ausgereizt. (Clive Renseller, der stadtbekannte Banker, war ein Pferd von ganz besonderer Art, Leute … der alte Clive wurde regelmäßig hart zugeritten, bis er im Schweiß stand … Da fragt man sich doch, wer mit euren Spareinlagen die Dreierwette spielt … Ach was soll’s, es bringt doch nichts, auf ein totes Pferd einzuprügeln, nicht wahr?

Mona und Mind Me! wurden mit keiner Silbe erwähnt, also konnte ich davon ausgehen, dass Monas Geschäft unter der Affäre nicht zu leiden hatte.

Ich spulte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter zurück, bis ich bei Monas angelangt war. Ihr Angebot schien mir die Chance zu sein, die ich jetzt brauchte. Nicht unbedingt eine Tätigkeit, um die ich mich riss, andererseits konnte ich mir vorstellen, dass auch Zack einiges hatte tun müssen, was ein flaues Gefühl bei ihm hinterlassen hatte – Opfer für Mammon, den Allmächtigen. Mammon, der Allmächtige, diese missgünstige Dollar-Gottheit regiert die Welt auf ihre zutiefst boshafte Art und Weise. Ich duschte, zog eine hellbraune Hose und ein Hemd aus hellblauem Chambray an, warf eine Hand voll Vitamine und Kräuter ein und machte mich auf den Weg zu den Heaven’s Gates Estates. Das Geld ließ mir keine Ruhe. Sollte Moses neunzig Tage in La Xanadu verbringen, musste ich auf die Schnelle eine Menge davon ranschaffen. Ich hätte Jillian darum bitten können, aber die Abfindung, so es die überhaupt gäbe, war für unser Fortgehen gedacht, sollte Grundlage unseres Neuanfangs sein.

Der Lexus der Farnsworth parkte in der Auffahrt. Am Rand stand ein Chevy Malibu. Ich hielt hinter dem Chevy und stieg aus. Zur gleichen Zeit wurde die Tür des Malibus geöffnet. Ein Mann in Bermudas, Laufschuhen, Netzhemd und mit einer Maui-Jim-Sonnenbrille sprang heraus. Er baute sich vor mir auf, joggte auf der Stelle und sah aus, als wolle er augenblicklich seine nachmittägliche Trainingseinheit absolvieren.

»Hi«, sagte er lächelnd, nahm die Sonnenbrille ab und streckte mir die Hand entgegen. »Corey Butterfield. Ich bin Reporter der lokalen, unabhängigen Wochenzeitschrift Know It All! Sind Sie Kunde hier, Herkules?« Der Blick seiner Augen war voller Überdruss und Zynismus, es waren die Augen eines Mannes, der die Verderbtheit liebte. Er hatte lange genug und vor allem erfolgreich nach dem dunklen Moment Ausschau gehalten, das die Menschheit umtrieb, um überzeugt davon zu sein, dass es die Oberhand hatte.

Er rückte mir auf die Pelle, trat von einem Bein aufs andere und signalisierte mir, dass ich nicht an ihm vorbeikäme, bevor ich seine Frage beantwortet hatte.

»Nein«, lautete meine Antwort auf seine Frage, ob ich Monas Kunde sei. Doch er blieb, wo er war.

»Kommen Sie schon, Sportsfreund, mir können Sie’s doch verraten. Ich nenne keine Namen. Mich interessiert nur die Stellungnahme eines Insiders. Sie wissen schon – was machen Sie da drin, oder besser, was macht sie mit Ihnen? Das sind News, Mann. Die Leute haben ein Recht darauf, das zu erfahren. Also, schießen Sie los. Worin besteht der Reiz, von einer großen, bösen Mama ausgepeitscht zu werden? Wie fühlt es sich an? Auf emotionaler Ebene, meine ich.« Ich versuchte, mich an ihm vorbeizuschieben, doch er stellte sich mir erneut in den Weg.

»Welche speziellen Vorlieben haben Sie denn, Mann?«, fragte er. »Delektieren Sie sich an la mierda? Macht es Sie an, wenn sie Ihnen das Maul mit einem dicken Haufen stopft? Oder hängt sie Sie wie eine Rinderhälfte auf?«

Mit einer Hand packte ich den Bund seiner Bermudas, mit der anderen sein Netzhemd, hob ihn hoch und brachte ihn zu seinem Wagen. Dann schob ich ihn durch die offene Scheibe der Fahrertür. Auf halbem Wege blieb er stecken. Ich half ihm, indem ich ihm ein paarmal in den Hintern trat, damit er endlich auf den Sitz krabbeln konnte. Dort verharrte er in embryonaler Haltung, keine Spur mehr von Zynismus in seinen weit aufgerissenen Augen.

»So fühlt es sich an«, sagte ich.

»Das war großartig«, kommentierte Jerry Farnsworth.

Er ließ mich herein. »Seit neun Uhr morgens lungert dieser durchgeknallte Hurensohn hier schon rum.« Jerry trug seinen Bankeranzug. Sein Iro hätte eine Ladung Haarspray vertragen können. Er war zu lang, um von selbst zu stehen, und lag platt auf seinem Kopf wie eine winzige Perücke. Der Pferdeschwanz war zu einem roten Strick geflochten.

Mona saß auf dem Sofa, weiß wie ihr Teppich und streng wie ihre dänischen Möbel. »Ich bin ruiniert«, murmelte sie.

»Sie ist deprimiert«, sagte Jerry. »Doch das gibt sich wieder. Von ruiniert kann überhaupt keine Rede sein.«

»Ich bin erledigt«, sagte sie. »Alle haben sie die Hosen voll. Niemand hat sich mehr hier blicken lassen, nachdem das erste Foto veröffentlich wurde.«

»Auch das gibt sich«, meinte Jerry. »Es ist nur vorübergehend. Was soll’s! Dann haben wir endlich mal Zeit und Muße, richtig Urlaub zu machen. Wir fliegen an die Amalfiküste oder nach Korfu, bleiben sechs Monate, und wenn wir zurückkommen, ist das Ganze Geschichte, glaub mir. Alles geht dann wieder seinen gewohnten Gang.«

Sie musterte ihren Mann, als entdecke sie gerade einen neuen Mangel an ihm. Dieser Blick hätte Wasser in Eis verwandeln können. Sie zündete sich eine Zigarette an, hielt das brennende Streichholz zwischen den Fingern, um es dann auf den Glastisch fallen zu lassen. »Nichts wird wieder seinen gewohnten Gang gehen. Erinnerst du dich an das Restaurant im Norden, wo Eingemachtes aus eigener Produktion angeboten wurde und sich die Gäste eine Lebensmittelvergiftung eingehandelt haben? Die sind auf keinen grünen Zweig mehr gekommen. Dir ist offensichtlich nicht klar, wie hasenfüßig diese Masochisten sind. Ja, sicher, der eine oder andere wird wieder kommen, in ein, zwei Jahren. Der Rest holt sich seinen Wonneschauer außerhalb der Stadt.«

Ihr Blick fiel auf mich. »Und was willst du hier?«

»Du hast mir einen festen Job angeboten, doch wie es scheint, ist das Angebot jetzt vom Tisch.«

»Alles ist jetzt vom Tisch«, sagte sie.

»Wir haben immer noch die Website und 0190er Nummer«, warf Jerry ein.

»Was gerade mal für die Strom- und Wasserrechnung reicht«, gab Mona zurück.

»Wie sind sie auf dich gekommen?«, fragte ich.

»Na wie wohl?«, erwiderte sie. »Ich inseriere in diesem Käseblatt. Vermutlich haben die ihre Wegelagerer zu allen Domina-Studios der Stadt ausschwärmen lassen. Insgesamt gibt es nur sechs oder sieben von uns. Diese Mistkerle haben über das gesamte Stadtgebiet verteilt ihre Lager vor den Häusern meiner Kolleginnen aufgeschlagen, in der Hoffnung, auf Öl zu stoßen. Und meine armen verschreckten Kunden hocken zu Hause, leiden und liegen vor ihren Frauen auf den Knien wegen einer Tracht Prügel, nur wollen diese Frauen da nicht mitmachen, und wenn sie es dennoch tun, dann ohne Enthusiasmus, ohne eine Spur von Erfindungsgabe.«

»Wenn guten Menschen Böses widerfährt«, sagte ich.

Jetzt konzentrierte sich ihr eiskalter Blick auf mich. Doch sie schwieg, zündete sich stattdessen eine neue Zigarette an, obwohl die erste immer noch im Aschenbecher vor sich hin qualmte. »Vielleicht mache ich eine Boutique auf«, sagte Mona schließlich. »Nette Seidenteilchen für Hausfrauen in den Wechseljahren, die es immer noch wissen wollen.« Sie stand auf und verließ den Raum. Jerry ging ihr hinterher.

Ich stand ebenfalls auf, um zu gehen. Auf dem Flur kam mir Babs entgegen. Sie trug einen Stringtanga-Bikini. »Oh, hallo«, begrüßte sie mich. »Kommst du mit schwimmen, äh … Strobe, nicht wahr? Daddy hat heute den Pool abgedeckt. Du kannst einen von seinen alten Badeanzügen anziehen, von früher, als er noch nicht so viel Speck auf den Rippen hatte. Von mir aus brauchst du auch gar nichts anziehen, wenn du genug Chuzpe hast. Mich stört das nicht. Daddy geht immer nackt schwimmen. Wir haben eine fortschrittliche Einstellung zum Körper.«

»Nein, danke«, sagte ich und fragte mich, ob es etwas gebe, womit ihre fortschrittliche Einstellung nicht klarkomme. »Ich muss los.«

Sie ließ sich aufs Sofa fallen. »Warum die Eile?«, fragte sie.

»Ich bin wegen eines Jobs gekommen. Es gibt keinen, also gehe ich wieder.«

Sie spitzte die Lippen, vermutlich Ausdruck eines plötzlichen Einfalls. »Wart mal«, sagte sie. »Ich brauche einen Rat – von einem Mann. Und du bist ein Mann.«

»Davon gehe ich aus.«

Sie sah mich einen Augenblick verwirrt an, dann lächelte sie. »Sogar einer mit Humor. Das gefällt mir. Sinn für Humor ist ein Zeichen für Intelligenz. Ich bewundere nichts so sehr wie Intelligenz. Mit den Kids in meiner Schule kann ich nichts anfangen, mich nerven ihre pubertären Themen.«

»Du bist ein echter Snob.«

Sie sah darin keine Beleidigung. »Stimmt«, sagte sie. »Ich denke, man könnte mich als Snob bezeichnen. Ich glaube, ein Snob zu sein ist an sich nichts Schlimmes, wenn man sich darauf konzentriert, idiotisches Verhalten als das zu erkennen, was es ist. Nämlich idiotisches Verhalten.« Seit unserer letzten Begegnung hatte sie sich richtiggehend entwickelt. Ihre teetassengroßen Brüste waren runder geworden, die Nippel zeichneten sich dunkel hinter dem hellen Stoff des Bikinioberteils ab. Ihre dünnen Beine waren viel muskulöser, die Lippen voller, die Wangenknochen markanter.

»Sag mal«, begann sie, »so als Mann, und möglicherweise als einer, der weiß, wovon er spricht … «

»Komm zur Sache.«

»Ich denke an eine Epilation meiner Schamhaare. Ist das eine gute Idee oder eine schlechte?«

Meine fortschrittliche Einstellung hatte damit ein Problem. Babs’ schmaler Mund verzog sich zu einem spitzbübischen Lächeln. Sie mochte es, Erwachsene zu schocken. Das beherrschte sie glänzend.

»Wozu soll das gut sein?«, fragte ich.

»Wozu? Um den Anspruch auf meine Unschuld zu bekräftigen, natürlich. Um an ihr festzuhalten. Unschuldig wie ein Baby. Ich habe nicht die Absicht, jemals zu heiraten oder Sex zu haben, musst du wissen.«

»Aber du bist doch unschuldig. Ich will sagen, du bist doch noch Jungfrau.«

»Ach du Dummerchen! Ich spreche von Unschuld im wahrsten Sinne des Wortes. Verstehst du, ich meine – rein. Wie Jeanne d’Arc. Na klar, auf dem Spielplatz der Übergangsschule hab ich’s einigen Jungen besorgt, aber das war so ein Statusding. Mein Gott, ich war zwölf und so was von unbedarft. Ich wollte die Blowjob-Queen der Cabeza-de-Vaca-Übergangsschule sein und hab dafür gesorgt, dass sich ganz schnell herumspricht, dass ich auch schlucke. Die meisten Mädels können ganz manierlich blasen, doch kaum eine schluckt. Aber ich habe geschluckt. Ich war so ehrgeizig. Man wird nicht Blowjob-Queen der Cabeza de Vaca, wenn man nur bläst und nicht schluckt. Ich hab wie eine Wilde geblasen, verstehst du, um zu beweisen, dass ich Spaß an der Sache hatte – und hab’s auch noch geschluckt. Schon die Vorstellung bringt mich zum Lachen.«

»Ich glaube nicht, dass das Entfernen der Schamhaare Unschuld symbolisiert«, sagte ich etwas niedergeschlagen.

Sie dachte darüber nach. »Vielleicht hast du Recht«, meinte sie. »Vielleicht sollte ich nur etwas Form reinbringen, in Anlehnung an das Topiari. Ein Herz oder ein Diamant, vielleicht die Flügel einer Taube. Das machen viele Kids.«

»Du bist auf dem falschen Dampfer, Babs«, sagte ich. Fast jeder, den ich kannte, war auf dem falschen Dampfer. Das Land war auf dem falschen Dampfer. Die Welt.

Ihre Augen funkelten in gespielter Verärgerung. »Also Wildwuchs? Du meinst, Wildwuchs wäre vorzuziehen? Der widerlich ungepflegte Busch einer Matrone übt Anziehungskraft auf dich aus? Du meinst, wenn man das Tier in sich akzeptiert, spiegelt das Unschuld wider? Ich für meinen Teil finde das einfach nur degoutant.«

Sie spreizte die Beine und betrachtete ihren spärlich bekleideten Schoß. Ich gestattete meinen Augen nicht, Babs’ Blick zu folgen. Sie sah schnell hoch, wollte wissen, ob ich eventuell doch linste.

»Möglicherweise gibt es keine Lösung«, sagte ich.

Sie lächelte süffisant. »Tausend Dank für deine Hilfe.«

»Tut mir leid«, sagte ich.

Sie sprang von der Couch hoch. »Na gut, Strobe. Was ist jetzt mit Schwimmen? Wir laufen bis zum Pool um die Wette.«

»Da muss ich passen«, sagte ich.

»Zimperlicher alter Mann«, meinte sie und rollte mit den Augen.

»So bin ich nun mal.«