Zweiundzwanzig

Ich fuhr zurück zum Baron Arms. Zuallererst schaffte ich mein Zeug in ein anderes Apartment. Sollte es jemand auf mich abgesehen haben, musste er so den gesamten Apartmentkomplex durchforsten. Außerdem hatte ich Trebeaux’ Pistole und beabsichtigte, sie mit ins Bett zu nehmen. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, eine Schrotflinte zu kaufen, um die Baller-Kapazität zu erhöhen.

Bevor ich die Kabel für Telefon und Anrufbeantworter aus der Dose zog, hörte ich die eingegangenen Nachrichten ab. Die erste war von Zipporah. »Sam ist im Providence. Wenn du’s schaffst, komm heute Abend um sechs dorthin. Zack fliegt aus Brüssel ein. Sie wollen morgen operieren. Die Chancen stehen fifty-fifty, sagt der Doc.«

Der zweite Anruf stammte von Dale Rooney von Rooney & Vesco: »Sind Sie sich eigentlich bewusst, Mr. Walkinghorse, dass die Verweigerung der Zahlungen, so wie sie in einem Unterhaltsverfahren festgesetzt wurden, zu einer Gefängnisstrafe führen kann? Das Gericht hat das Urteil für rechtskräftig erklärt und dem Antrag stattgegeben, Ihnen wegen Missachtung eine Strafe aufzuerlegen. Sie können dieses Verfahren umgehen, indem Sie Mrs. Walkinghorse ganz einfach das zahlen, was der Richter, der ehrenwerte Kenneth G. Skinner, in seinem Urteilsspruch festgesetzt hat. Die Summe beläuft sich bis zum heutigen Tage auf elftausendeinhundertsiebenundsechzig Dollar und neun Cent. Wenn Sie Ihren Verpflichtungen aus dem Urteil nicht nachkommen, werden wir die Einweisung in eine Vollzugsanstalt beantragen. Ich hoffe aufrichtig, dass Sie sich über den Ernst Ihrer Lage im Klaren sind. Tun Sie das Richtige, Mr. Walkinghorse.«

Ich tat das Richtige. Ich fuhr zum Providence Memorial und traf mich mit Zipporah im Raucherzimmer, das sich direkt neben der Eingangshalle befand. »Er ist schon oben, im Vorraum zum OP«, sagte sie und drückte ihre Zigarette aus. »Maggie und Jesaja sind bei ihm. Er sieht beschissen aus. Ich glaube nicht, dass er die Operation überstehen wird.«

Wir fuhren mit dem Fahrstuhl hoch in den OP-Bereich im vierten Stock und gingen in den Trakt der Neurochirurgie.

Sam lag in einem Raum mit gut einem Dutzend Betten. Die Betten waren alle durch Vorhänge voneinander abgeschirmt. Maggie saß neben dem Bett und hielt Sams Hand. Jesaja stand hinter Maggie, seine Pranken auf ihren Schultern.

Sam war nicht bei sich; sie hatten ihm Morphium gegeben. Über eine Kanüle im Unterarm war er an einen Tropf angeschlossen. Mit Tränen in den Augen sah Maggie zu mir herüber. »Er hat so schreckliche Schmerzen gehabt, Uriah«, sagte sie. »Von einem Moment auf den anderen. Er hat gedacht, sein Kopf würde platzen, als wollte irgendwas heraus.«

»Er wollte kein Morphium«, sagte Jesaja. »Er hat gemeint, alles wirkt dadurch so verschwommen. Dabei will er doch immer alles klar im Auge behalten.«

Sam öffnete die Augen und sah in meine Richtung. »Wo bist du gewesen?«, fragte er. Er konnte nicht mich gemeint haben, dafür stand zu viel Erwartung in seinen Augen. Für gewöhnlich erntete ich einen schnellen Blick samt Belehrung und keine interessierte Begutachtung.

Ich schwieg.

»Er hält Ausschau nach Jesus«, sagte Jesaja. »Scheint, als hätten die Medikamente sein spirituelles Sehen beeinträchtigt.«

»Sein spirituelles Sehen«, wiederholte ich.

»So nennt er es jedenfalls. Wenn er Jesus sieht, meine ich.«

Ich zog ihn beiseite. »Lass uns mal ’ne Minute vor die Tür gehen«, sagte ich.

Wir verließen das Zimmer und setzten uns in die weich gepolsterten Sessel des Wartebereiches. Ich wusste nicht genau, wie ich anfangen sollte.

»Was?«, fragte Jesaja nach einer Weile.

»Ich weiß, du hältst Mose für einen hoffnungslosen Fall«, sagte ich.

»Das habe ich nie gesagt.«

»Aber du hast es gedacht, so wie wir alle. Insbesondere ich, denn ich habe ihn gesehen.«

»Und jetzt denkst du anders darüber?«

»Ich denke anders darüber«, erwiderte ich. Ich hatte es im weiteren Sinne gemeint und Jesaja schien mich zu verstehen.

»Klär mich auf, Uriah.«

»Oben in den Black Mountains gibt es eine Institution, La Xanadu. Es ist eine private Reha-Klinik, wo man es mit den Vorschriften nicht so genau nimmt. Da will ich Mose hinbringen. Eigentlich will ich es mehr für Maggie als für Mose.«

»Und du glaubst, die schaffen es, dass er von dem Zeug loskommt?«

»Es wär einen Versuch wert.«

Jesaja seufzte. »Man kann eine Katze nicht davon abhalten, das Sofa zu zerkratzen, es sei denn, man zieht ihr die Krallen. Die sollen Mose die Krallen ziehen können? Das glaube ich nicht. Abgesehen davon, wo willst du das Geld hernehmen? Privatkliniken nehmen keine Gammler auf, Uriah, und genau das ist Moses, ein Gammler.«

»Ich denke, das Geld kann ich auftreiben«, sagte ich. »Aber ich brauche deine Hilfe.« Mir war zu diesem Zeitpunkt nicht klar, wie ich das mit dem Geld bewerkstelligen sollte, doch ich hatte es spontan ausgesprochen und hinter diesem Impuls schien eine gewisse Überzeugung zu stecken.

»Sollen wir eine Bank überfallen?«

»Nein. Ich wollte sagen, ich brauche deine Hilfe, um ihn dorthin zu schaffen.«

»Du meinst, du willst ihn kidnappen.«

»Verschleppen, kidnappen, eskortieren, ein Ausflug aufs Land – spielt doch keine Rolle, wie wir es nennen, Hauptsache, wir schaffen ihn dorthin.«

Jesaja holte tief Luft und stieß einen Seufzer aus. »Du bereitest alles vor, Uriah. Wenn ich kann, helfe ich dir.«

»Großartig. Das wollte ich hören. Vielleicht können wir die Sache in einigen Wochen angehen.«

»Wenn er sich bis dahin keine Überdosis verpasst hat.«

»Richtig.«

Wir gingen zurück zu Sam. Er stand voll unter Morphium. Obwohl er kaum bei Bewusstsein war, signalisierten die zusammengezogenen Brauen und die faltige, weiße Haut rund um seine Augen, dass er Schmerzen hatte.

Ich küsste Maggie und Zipporah, schüttelte Jesaja die Hand und verabschiedete mich.

Draußen, auf dem Gang, hielt mich ein Mann an. Er trug einen Bademantel des Krankenhauses. »Hast du ’ne Zigarette, Kumpel?«, fragte er. Ich wusste, dass er mich meinte, weil er seine Hand auf meinen Arm gelegt hatte, aber seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf eine Stelle links von mir und so sah ich nur sein linkes Profil. »Ich würde einen Mord begehen für ein Päckchen Benson and Hedges.«

»Ich bin Nichtraucher«, sagte ich.

»Scheiße, du bist also auch einer von denen, einer von den neuen SA-Männern. Nicht mehr lange und sie richten Konzentrationslager für unbelehrbare Qualmer wie mich ein.«

Er sah eigentlich ganz normal aus, wenn nicht sogar recht gut, doch als ich Anstalten machte, ihm direkt ins Gesicht zu sehen, drehte er sich weg und präsentierte mir wieder nur sein linkes Profil. »Seit der Operation habe ich nicht eine einzige Kippe geraucht«, sagte er. »Und das ist jetzt zehn Tage her.«

»Im Laden unten kann man bestimmt Zigaretten kaufen«, sagte ich.

»Doch nicht in einem Krankenhausladen. Nicht mehr heutzutage. Woher kommst du denn? Vom Mars? Raucher sind die Aussätzigen der Moderne.«

Über dieses Thema vergaß er alles andere und wandte mir sein Gesicht zu. Die rechte Seite seines Kopfes war völlig entstellt. Die Augenhöhle war vernäht und dort, wo ein Wangenknochen hätte sein sollen, befand sich eine konkave Wölbung. Seine rechte Schädelhälfte war kahl und flach wie ein Brett. Eine wulstige, rote Naht verlief in Form eines Hufeisens von der leeren Augenhöhle bis hin zu dem Knochen hinter seinem Ohr.

»Oh Gott«, entschlüpfte es mir.

Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Gehirntumor«, sagte er. »Die Schnippler haben die Hälfte meines Hirns und einen Teil des Schädelknochens entfernt. Jetzt läuft alles nur noch über die linke Gehirnhälfte. Ich werde wohl noch Bohnen zählen können, wenn ich wieder draußen bin, aber mit dem Schreiben von Gedichten ist es wohl vorbei. Kein Kokettieren mehr mit der Möchtegern-Bohème! Nein, Sir!« Er musste über diese alberne Vorstellung lachen, und sein Lachen klang wie Kieselsteine, die durch ein Abflussrohr fallen. »Was soll’s, ich bin Wirtschaftsprüfer, insofern spielt das keine Violine.«

Er wandte mir wieder seine unversehrte Gesichtshälfte zu und sprach Richtung Wand: »Man kann sich mit so manchem abfinden, Kumpel, aber wenn ich nicht bald was zu rauchen kriege, raste ich aus.«

Ich verließ das Krankenhaus und fragte mich, warum ich Jesaja gebeten hatte, mir dabei zu helfen, Moses zu verschleppen. Ich hatte doch überhaupt keinen Plan. Ich hatte mich selbst zu etwas verdonnert, von dem ich weder konkrete Vorstellungen hatte noch wusste, wie ich es anpacken sollte. Vielleicht stand ich an einem Wendepunkt in meinem Leben. Vielleicht hoffte ich auch, dass ich an einem Wendepunkt stünde.