Neununddreißig
Draußen lag Corey Butterfield immer noch in seinem Malibu auf der Lauer. Als er mich sah, beugte er sich über den Beifahrersitz und kurbelte das Fenster zur Hälfte herunter. »Komm schon, Goliath, zeig mir ’ne Prellung«, sagte er. »Zeig mir wenigstens einen blauen Fleck.« Ich steuerte auf den Malibu zu. Hektisch kurbelte Butterfield das Fenster hoch. Ich legte meine Hände auf den Wagen und fing an, ihn zu schaukeln, vor und zurück, bis die Räder vom Boden abhoben. Mit vor Schreck geweiteten Augen klammerte sich Butterfield an das Lenkrad. Kurz bevor der Wagen umzukippen drohte, stoppte ich meine Aktion.
Ich stieg in meinen Ford, erleichtert und enttäuscht zugleich. Im Grunde sträubte ich mich, Mona Farnsworth’ stummen Komparsen abzugeben, während ihre Kunden sich lustvoll einem Bestrafungsszenario hingaben, weil ein beschissenes Kindheitstrauma sie dazu trieb. Aber wer sonst hätte mir tausend Dollar die Woche gezahlt, damit ich einen reichen Gestörten mit einer Axt einschüchtere?
Das Geld zerstreute all meine Bedenken. Das könnte man in die Grabsteine der meisten verstorbenen Amerikaner einmeißeln und läge damit nicht mal so falsch.
Ich hätte mich nicht für die Lebensversicherung entschieden, doch das Geld hat all meine Bedenken zerstreut.
Um Moses die zwei zusätzlichen Monate in La Xanadu zu ermöglichen, die nötig waren, damit er wieder clean wurde, musste ich zwölftausend Dollar auftreiben. Mein Notgroschen deckte ungefähr die Hälfte ab und das war’s.
Womit ich wieder bei Jillian und ihrer Abfindung von einer halben Million angelangt war. Doch ich konnte sie wohl kaum um das Geld bitten, bevor ich mich nicht zu einem gemeinsamen Leben bekannt hatte. Ich nahm an, für sie stünde dann fest, dass unser beider Schicksal miteinander verbunden war. Ich nahm an, ich würde ihr dann so viel bedeuten, dass sie meinen Kreuzzug in Sachen Familienfrieden finanziell unterstützte.
Ich nahm einiges an. Ich nahm zum Beispiel an, dass sie nicht mehr mit Lenny Trebeaux fickte. Ich nahm an, die sexuellen Experimente mit Clara Howler wären Vergangenheit. Ich nahm an, sie hätte das Lügen aufgegeben.
Ich nahm an, ihr ganz privater Gott, der an Ironie glaubte und nicht an Glück, gäbe uns eine Chance. Ich nahm an, Fernando Solís Davila würde sie als Begünstigte der Abfindung einsetzen, die er Clive zugedacht hatte. Ich nahm an, diese halbe Million Abfindung existierte tatsächlich.
Gut möglich, dass ich es mit meinen Annahmen übertrieb.
Als ich in mein Apartment kam, blinkte das Lämpchen des Anrufbeantworters. Es war Zipporah. »Uriah – ich rufe aus dem Providence an. Schaff deinen Arsch hier rüber, und zwar plötzlich. Sam verfällt zusehends. Zack sitzt bereits in irgendeinem Flieger und ist nicht zu erreichen. Jesaja und Maggie sind hier. Sam ist noch nicht bewusstlos, aber so gut wie. Mach unsern alten Herrn glücklich, Uri. Komm und gib ihm einen Abschiedskuss.«
Ich fuhr zum Krankenhaus. Sam lag noch auf der Intensivstation. Ich schob die Vorhänge, die Sams Bett abschirmten, nicht beiseite, sondern blieb davor stehen. Jesaja hatte angefangen, laut zu beten. Ich linste durch einen Spalt. Sie knieten alle vor dem Bett – Jesaja, Maggie und Zipporah. Jesajas sonore Stimme erfüllte das Zimmer. Ich wollte nicht stören und blieb vor dem Vorhang.
Sam lag auf Kissen gestützt, war aber nicht mehr bei Bewusstsein. Plastikschläuche in der Nase versorgten ihn mit Sauerstoff. Er sah aus wie tot, doch seine Brust, die sich hob und senkte, strafte diesen Eindruck Lügen. Als Jesaja sein Gebet beendet hatte, erfüllte nur noch das Piepen der verschiedenen Maschinen die Stille. Jetzt trat ich hinter den Vorhang. In diesem Moment klingelte mein Mobiltelefon. Bevor es ein zweites Mal klingeln konnte, stellte ich es ab. Sam schlug die Augen auf, als wäre mein Telefon ein Wecker, den er sich gestellt hatte. Er sah mich an. »Du bist hier«, sagte er und lächelte fast dabei. Die Pergamenthaut rund um seine Lippen zog sich zusammen. Ich ging auf die andere Seite des Bettes, nahm seine Hand, beugte mich zu ihm hinunter und küsste ihn. »Hallo, Daddy«, sagte ich. Seit fünfundzwanzig Jahren hatte ich ihn nicht mehr Daddy genannt.
Er wollte meine Hand drücken, doch seine kraftlosen Finger wären nicht mal in der Lage gewesen, einen Marshmallow zusammenzudrücken. »Ich hatte befürchtet, du kommst nicht mehr«, flüsterte er. Da wurde mir klar, dass er nicht mich meinte. In seinen Augen stand ein unbeirrter, in die Ferne gelenkter Blick, der mich durchdrang und etwas weit hinter mir zu erfassen suchte. Jesaja räusperte sich, ich sah ihn an. Er nickte mir zu, als wollte er sagen, mach weiter.
»Ich lasse dich doch nicht hängen.«
Sams Lächeln erstarb und er schloss die Augen. Zwar hob und senkte sich seine Brust noch immer, doch jetzt in größeren Abständen. Mein Gesicht war nass, und das überraschte mich. Zipporah kam zu mir, legte ihren Arm um mich. »Tapferer Junge«, flüsterte sie mir ins Ohr und küsste meine feuchte Wange.
Ich weinte, aber nicht nur Sams wegen. Dieses Gefühl, das meine Gesichtszüge in sechs Richtungen verschob, galt uns allen, uns sechsen, aber ganz besonders galt es Maggie. Ein Ende ihres Schmerzes war nicht absehbar. Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass Moses sich an nichts halten würde, was auch immer man ihm in La Xanadu auferlegen sollte. Er war ein Junkie durch und durch, würde nach Junktown zurückkehren, sich zuknallen, irgendwann an einer Überdosis oder an AIDS sterben oder beklaut und mit eingeschlagenem Schädel enden.
Ich weinte auch meinetwegen. Ich sah mich in dreißig oder vierzig Jahren, mein muskulöser Körper nur noch gegerbtes Leder und spröde Knochen, mein eingeschränktes Denken mit bruchstückhaften Erinnerungen an Szenen eines einsamen, sinnlosen Lebens beschäftigt.
»Mein Gott«, entschlüpfte es mir.
Sam öffnete die Augen, diesmal war es nicht mehr als ein Reflex. Es waren blinde Augen, blind sogar für die Landschaften der Halluzination.
Ich küsste Zipporah, umarmte Maggie und Jesaja und sah zu, dass ich von dort wegkam.