Dreiundzwanzig
Die Nacht verbrachte ich in 34-A. Es war eine furchtbare Nacht. Mein Nachbar gehörte wohl zu den Nachtaktiven. Ein ständiges Kommen und Gehen, Türenknallen, hin und wieder wurde gebrüllt und dann das endlose, die Wände erschütternde Hip-Hop-Dröhnen. Die Waffe in der Hand, schreckte ich mehrmals aus dem Halbschlaf hoch und zielte auf die Geräusche. Ich hatte Albträume und Bilder aus diesen Albträumen bewegten sich durch das Zimmer und wurden für mich zum Ziel.
Noch vor Sonnenaufgang stand ich auf und machte mir einen Joghurt-Shake. Seit Wochen hatte ich nicht mehr anständig trainiert, meine Ernährung war katastrophal und dementsprechend sah ich aus. Um den Bauch herum hatte ich zugelegt und meine Arme fühlten sich an wie Pudding. Ich schnappte mir die Thomas-Inch-Hanteln. Nach nur wenigen – halbherzigen – Bizeps-Curls und French Presses schmiss ich hin. Meine Bandscheiben meldeten sich und ich fühlte ein brennendes Stechen, als würde sich ein unter Spannung stehender Draht vom Hals bis hinunter in beide Ellbogen ziehen. Der Bereich rund um meine alte Rückenverletzung pochte wie ein vereiterter Zahn. Ich betrachtete mich im Badezimmerspiegel. Meine Brustmuskeln hatten an Spannkraft eingebüßt und wirkten leicht erschlafft; die Deltamuskeln hatten sich zurückgebildet und am Kinn entdeckte ich erste Anzeichen der Alterung; die Bauchmuskulatur war dank neuer Fetteinlagerungen nur noch unzureichend definiert. Mit meiner Ausstattung ging es ohne Wenn und Aber bergab. Ich duschte und zog mich an. Nachdem ich mir ein zweites Frühstück mit Rührei – nur das Eiweiß – und Toast genehmigt hatte, machte ich mich auf den Weg zum Flughafen, um Zacharias abzuholen. Jesaja und Zipporah mussten arbeiten, also war die Sache an mir hängen geblieben.
Vor Zack, Sams und Maggies jüngstem Adoptivkind, hatte ich immer einen Heidenrespekt. Er war ein wahres Genie, verpackt in eine ernsthafte Persönlichkeit. Schon vor dem Kindergarten hatte er lesen und schreiben können, mit zehn bereits Geometrie, Differential- und Integralrechnung und den Hummelflug auf der Geige gemeistert. Er war ein braves Kind gewesen, wenngleich auch der geborene Skeptiker. »Wenn Adam und Eva die ersten Menschen waren«, hatte er Sam einmal gefragt, »und Kain und Abel ihre ersten Kinder, wie hat dann Kain im Land Nod eine Frau finden können? War Nod ein Ort wie Eden? Gab es dort auch einen Adam und eine Eva? Und wie konnte Adam neunhundertdreißig Jahre alt werden? Das ergibt doch keinen Sinn, Daddy.«
»Die Sinnfrage wird überschätzt«, hatte Sam ausweichend geantwortet. »Gottes Wege zielen nicht auf die Fähigkeit des Menschen, sie zu verstehen. Erinnere dich, Sohn, Gott ist kein rationales Wesen.« Daraufhin hatten sich Zacks koreanische Augen geweitet, als wäre das die gruseligste Sache, die er je gehört hatte. Doch er hatte Sam nichts von alldem abgekauft und so hatte es seinerseits auch keine Nachfragen zu Sams Bemerkung über einen irrationalen Gott gegeben.
Niemals mehr hatte Zack Fragen zu Sams Glauben oder zur Bibel gestellt; mit beidem hatte er bereits vor seiner Teenagerzeit abgeschlossen. Mit zwanzig wurde er Buddhist, hielt es jedoch vor Maggie und Sam geheim. Er ging als Stipendiat an die Stanford und legte sein Juraexamen an der University of San Francisco ab. Derzeit arbeitet Zack als Jurist für einen Mischkonzern, ist zuständig dafür, dass Deals nicht mit WTO-Vorgaben in Konflikt geraten. Das lässt ihm wenig Zeit für Familienangelegenheiten, doch selbst wenn er sie hätte, käme er wahrscheinlich nur im äußersten Notfall nach Hause. Er ist nicht abgehoben, er lebt nur in einer größeren, nach logischen Gesichtspunkten strukturierten und wesentlich komplizierteren Welt.
Er wirkte verdrossen, als er die Kontrolle passierte. Über die Köpfe der Menge hinweg winkte ich ihm zu, doch er brauchte einen Moment, bis er mich erkannte. Zehn Jahre hatte ich Zack jetzt nicht mehr gesehen. Knapp unter einsachtzig, wirkte er massiger, als ich ihn in Erinnerung hatte – ein Nebeneffekt des Wohlstands. Sein borstiges, schwarzes Haar war streng nach hinten gekämmt und seine Kleidung der Flugreise angemessen – Khakihosen, Pullover, Sandalen.
»Verdammte Flugzeuge«, sagte er. »Vierzehn Stunden war ich jetzt in der Luft. Die Eingeweide verknoten sich regelrecht, wenn man so lange sitzt. Wie geht es Sam?«
»Ich glaube nicht, dass er es schaffen wird«, sagte ich.
Er stellte sein Bordcase ab und wir gaben uns die Hand. Sein Händedruck war fest und drückte Selbstvertrauen aus. »Und wie geht es dir, großer Bruder? Du siehst angezählt aus.«
»Ich komm schon über die Runden«, erwiderte ich.
Er wusste, dass ich ihm auswich, aber hakte nicht nach. Auf dem Weg zum Parkplatz unterhielten wir uns angeregt – über das Leben in San Francisco, das Leben in Europa, das Leben im Allgemeinen. Er kam mir gesprächiger vor als früher. Das bringt der Erfolg in der großen, weiten Welt eben mit sich, dachte ich mir. Auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt erzählte er mir von zwei Koreanern, einem Mann und einer Frau, die ihn in Brüssel für einen Landsmann gehalten und auf Koreanisch angesprochen hatten. Zack spricht fünf Sprachen, aber kein Koreanisch. Er hatte auf Spanisch geantwortet. Ein Reflex. Hier, an der Grenze, ist man es gewöhnt, von Leuten auf Spanisch angesprochen zu werden. Automatisch ruft man seine Sprachkenntnisse ab und antwortet so gut man eben kann. Die Koreaner hatten ihn völlig überrascht und Zack war umgehend in den Habitus des Grenzstädters verfallen. »¿Mande?«, hatte er gefragt. Sie hatten daraufhin in ihrer Touristenbroschüre auf ein ganzseitiges Hochglanzfoto der Bronzefigur des Männeken Pis gezeigt, der in den Brunnen an der Rue de l’Etuve pinkelt. »No valedón esa transa«, hatte Zack gemeint, um ihnen zu erklären, dass sich eine Besichtigung nicht lohne. Angesichts seiner kryptischen Antwort war beiden vor Erstaunen der Unterkiefer heruntergeklappt.
In diesem Stil ging es eine Weile weiter, dann verfiel er in Schweigen. Ich war neugierig, was ihn betraf, und nutzte die Gelegenheit zu einer direkten Frage. »Was machst du eigentlich, Zack, wenn du so von Land zu Land jettest?«
»Um es in dürren Worten auszudrücken, ich suche nach Lücken in der Handelsgesetzgebung, erstelle dann ICPs – Internal Compliance Programs –, um meinen Auftraggebern gegenüber den Behörden einen Vorsprung zu verschaffen. Meine Auftraggeber sind in ihrer Struktur multinational. Es geht darum, Waren von A nach B zu schaffen, ohne dabei eine Flut hemmender Beschränkungen auszulösen, die auf internationale Handelsbarrieren zurückzuführen sind.«
»Danke, dass du es so einfach ausgedrückt hast«, sagte ich.
Ihm entging nicht, dass ich verärgert war. »Die fachlichen Details sind ziemlich fade, Uri. Die Juristensprache im internationalen Recht ist genauso trocken wie die im nationalen. Salopp ausgedrückt kann man sagen, ich helfe den Reichen noch reicher zu werden.«
Das erinnerte mich an Dale Rooneys Drohung. Ich war verärgert genug, um kein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Was verdienst du so, Zack? Bist du reich?«
Er lachte. »Reich ist ein relativer Begriff, der einer Qualifizierung bedarf. Ich verdiene einen Haufen Geld, der Wert meiner Papiere liegt im siebenstelligen Bereich und ich investiere weiter, aber bin ich deshalb reich? Auf der Skala der Welt der Superreichen rangiere ich ganz unten, da bin ich nur ein Wasserträger. Die Reichen bleiben, wo sie sind, sie müssen keine Langstreckenflüge zum Arsch der Welt, nach Turkistan oder sonst wohin buchen, je nach Lust und Laune alter Männer in Nadelstreifen und mit Verdauungsstörungen.«
Der Zeitpunkt war vermutlich ungünstig, aber angesichts dessen, was ich zu sagen hatte, wäre jeder Zeitpunkt ungünstig gewesen. »Ich werde Moses einen Entzug in einer Klinik in den Black Mountains aufdrücken. Das wird teuer.« Ich atmete ein paarmal tief durch.
»Und?«
»Könntest du ein paar Riesen beisteuern?«
»Du meinst, ob ich ein paar Riesen im Klo runterspülen will?«
»Ich tue es für Maggie, Zack. Maggie braucht wieder eine Perspektive.«
»Brauchen wir die nicht alle?«
»Du siehst nicht so aus, als hättest du ’ne miese Phase hinter dir.«
»Die Antwort ist nein, Uri.«
»Auch wenn er nur ein trauriger Sack voll Scheiße ist, er ist immer noch dein Bruder.«
»Komm mir jetzt nicht mit dem Schwachsinn von wegen er ist immer noch dein Bruder. Wir waren ein Haufen Bastarde, die das Glück hatten, von einem bibelbesessenen Verrückten und seiner liebenswerten Frau aufgenommen zu werden, statt samt unseren Windeln in der nächsten Mülltonne zu landen, also erzähl mir nicht, dass Moses mein gottverdammter Bruder ist. Er ist ein absoluter Versager. Und erzähl mir auch nicht, du hättest auch nur im Ansatz die Hoffnung, aus diesem Arschloch könnte noch was werden.«
Ich verließ den Freeway über die Ausfahrt Mesa Street und fuhr Richtung Stadt. Das Schweigen, das zwischen uns herrschte, war zum Schneiden dick, bis Zack es schließlich brach.
»Na gut«, sagte er. »Wir machen es folgendermaßen: Du bringst Moses dazu, mir zu schreiben. Er soll mich um das Geld bitten. Ich möchte, dass er mir mitteilt, und zwar schriftlich, dass er die Entziehungskur machen will. Dann finanziere ich die ganze Sache.«
»Du wirst dein Geld behalten, Zack. Das macht er niemals und das weißt du.«
»Wenn er nicht clean werden will, wird er auch nicht clean. Das sollte dir klar sein.«
»Ich denke an Maggie«, sagte ich.
»Gut. Denke an sie. Bring dein Leben in Ordnung. Das trägt einen gehörigen Teil dazu bei, sie glücklich zu machen.«
Was wusste er schon von meinem Leben? »Mose war ihr erstes Baby«, sagte ich. »Das erste Baby ist für eine Mutter immer etwas ganz Besonderes.«
»Als du mit dem Pumpen angefangen hast – ich glaube, du warst ungefähr sechzehn –, was habe ich dich da angehimmelt. Mein großer Bruder, der Herkules. In der High School habe ich gesehen – zum Teufel, jeder konnte es sehen –, wie du dich hineingesteigert hast. Du warst besessen davon, Mr. West Side. Und es sieht so aus, als wärst du’s immer noch. Aber was hast du darüber hinaus getan? Wie lange, glaubst du, kannst du deinen Körper formen, stählen? Bis du sechzig bist? Siebzig?«
»Wir sprechen über Mose, nicht über mich.«
»Schreib ihn ab. Er hat uns auch abgeschrieben, alle, einschließlich Maggie.«
Das dumpfe Dröhnen des Verkehrs löschte die Stille zwischen uns aus. Zack hatte eine italienische Sonnenbrille aufgesetzt. Er nahm die Stadt in sich auf, in der er aufgewachsen war. Zehn Jahre Abwesenheit und in dieser Zeit hatte sich hier einiges verändert.
»Prosperität«, sagte er. Als ich darauf nicht reagierte, sagte er: »Auch hier ist es zu spüren. Die ganze Welt leidet daran.«
»Was soll das heißen, die Welt leidet daran?«
»Je höher man fliegt, desto tiefer fällt man. Aufschwung und Krise. Das alte Fieber, doch der Aufschwung ist außergewöhnlich steil und lang anhaltend. Er ist historisch und der Kollaps wird genauso historisch sein. Momentan leben wir in einem kollektiven Taumel. Aber die großen Macher werden wieder etwas zu gierig, so wie immer, und dann beginnt die Erosion. Hier an der Grenze war die Wirtschaft nie wirklich stabil. Doch in gewisser Hinsicht haben die Leute einen Vorteil. Durch den Drogenhandel ist die Wirtschaft hier nie ernsthaft in Gefahr.«
»Das hört sich an, als befürwortest du den Drogenhandel.«
»Es hat nichts damit zu tun, ob ich etwas befürworte oder nicht. Es geht um den massiven Zufluss von Bargeld. Früher nannte man den Süden und Südwesten den Sonnengürtel. Heute spricht man vom Wäschegürtel. Von San Diego bis Miami sind die Banken voll mit Wäsche. Niemand erhebt Einspruch. Städte und Gemeinden profitieren davon.«
»Was meinst du mit niemand erhebt Einspruch? Was ist mit dem Gesetz?«
Zack musterte mich, um zu sehen, ob ich nur einen Spruch abgelassen hatte. Ich feixte ein wenig, um ihn davon zu überzeugen, dass ich den Unbedarften nur mimte. Er nahm mir das nicht ab und lachte mich aus.
»Alle diese Waschsalons haben am Jahresende riesige Überschüsse«, sagte er. »Milliardenüberschüsse. Doch niemand verlangt eine Erklärung dafür. Wenn ein Bürger versucht, mehr als zehn Riesen bar einzuzahlen, klingeln alle Alarmglocken. Dieser Bürger braucht eine verdammt gute Erklärung, woher das Geld stammt. Banken hingegen sind nie Gegenstand genauerer Untersuchungen. Hat eine Bank einen Überschuss, gilt das als Beweis, dass das Unternehmen gesund ist und das Management aus knallharten Geschäftsleuten besteht. Warum, glaubst du, betreiben Banken das Lobbying in Sachen Nordamerikanisches Freihandelsabkommen? Weil sie wissen, dass sich ihre Stahlkammern säckeweise mit Bargeld füllen, das von der anderen Seite des Rio stammt.«
Wir waren jetzt ganz in der Nähe des Cibola-Gebäudes. Ich fuhr langsamer und wies Zack darauf hin. »Da ist die Cibola Savings and Loan«, sagte ich. »In mexikanischer Hand. Die sind bei einigen großen Bauprojekten hier in der Stadt mit von der Partie.«
Zack lachte. »Ganz schön mutig, diese Mistkerle! Nennen ihren Waschsalon Cibola nach einer der sagenumwobenen sieben goldenen Städte. Diese Chuzpe muss man erst mal haben. Respekt.«