Zehn

Ich saß auf den Verandastufen, als Jesaja auf den Hof fuhr. Er quälte sich buchstäblich aus dem Wagen, einem alten VW-Käfer. Jesaja wiegt mindestens 140 Kilo und ist knapp zwei Meter groß. Man könnte ihn durchaus für einen ehemaligen Linebacker aus der NFL halten. Tatsächlich war er Offensive Tackle in unserem Uni-Team gewesen, bis es eines Tages in seinem Knie gekracht hatte. Nicht nur das Auto, auch seine Kleidung schien zu klein für ihn zu sein. Er platzte schier aus den Nähten seiner UPS-Uniform. Seine Hosen sahen aus, als steckten Fässer darin.

Früher hatten Jesaja und ich uns ein Zimmer geteilt, dennoch gingen und gehen wir immer recht förmlich miteinander um. Er unterbrach fast den Blutzufluss in meiner Hand, als er sie mit seinen zigarrendicken Fingern drückte. »Was ist mit dem alten Herrn los, Uriah?«, fragte er.

»Sam will nicht ins Krankenhaus und hat sich Jesus als Verstärkung geholt.«

Jesajas Augen verengten sich zu Schlitzen. Er musterte mich. Als religiöser Mensch fand er höhnische Bemerkungen von Unwissenden gar nicht komisch.

»Es ist die Geschwulst«, sagte ich. »Deshalb halluziniert er ständig. Zipporah meint, dass ihm noch ein Monat bleibt, wenn er sich nicht behandeln lässt.«

»Und was sollen wir jetzt machen? Ihn gegen seinen Willen ins Krankenhaus bringen? Niemand bringt Sam Walkinghorse dazu, etwas zu tun, was er nicht will.« Er nahm seine Mütze ab, fuhr sich mit seinem dicken Unterarm über die schweißnasse, ebenholzfarbene Stirn und stieß einen tiefen Seufzer aus.

Jesajas leibliche Mutter war eine obdachlose Straßendirne gewesen. Im achten Monat schwanger, war sie in der Notaufnahme verstorben. Ihr Zuhälter hatte ihr mit einem Baseballschläger den Schädel eingeschlagen, weil sie in die eigene Tasche gewirtschaftet hatte. Der Schock, Crack und venenerweiterndes Marihuana hatten ihren Blutdruck in den einstelligen Bereich sinken lassen. Den Notärzten war es nur knapp gelungen, Jesaja per Kaiserschnitt auf die Welt zu holen, bevor das Ableben seiner Mutter seinen Tod nach sich ziehen konnte. Das alles hatte Jesaja aus eigenem Antrieb herausgefunden. Er hatte genau wissen wollen, wie sein Handicap war, bevor er das Spiel des Lebens so richtig in Angriff nahm. Mich hatte mein Handicap nie interessiert. Als Kind hatte ich mir romantische Geschichten ausgedacht, um mir zu erklären, weshalb meine Eltern mich im Stich gelassen hatten. Diesen Geschichten zufolge waren meine Fabel-Eltern edle Menschen, die mich aus berechtigten Gründen zur Adoption freigeben mussten. Mir war klar, dass die Wahrheit – sofern ich jemals darauf stoßen sollte – alles andere als begeisternd wäre. Musste man sich das geben? Jesaja schon. Er hatte seine Wurzeln finden wollen, um, auf welchen Trümmern auch immer, sein Leben aufbauen zu können.

Jedes Mal, wenn ich daran denke, berührt es mich aufs Neue, was für ein moralisch aufrechter und gutherziger Riese er geworden ist, trotz seiner düsteren Anfänge. Jesaja ist Diakon in seiner Kirche, ehrenamtlich in seiner Gemeinde tätig, ein treuer Ehemann und geduldiger Vater von sechs Kindern. Es musste mit den Genen zusammenhängen. Irgendwo in seiner biologischen Geschichte musste es afrikanischen Adel gegeben haben, einen Stammeshäuptling oder einen hochrangigen Krieger. Durch das DNS-Roulette musste dieses starke Gen in seine Architektur eingebracht worden sein, eine besondere Zuwendung seitens der Natur. Jesaja ist zwei Jahr jünger als ich, dennoch fühle ich mich immer als jüngerer Bruder, und zwar nicht nur wegen seiner Maße. »Maggie braucht unsere Hilfe«, sagte ich. »Sie kommt mit der Situation nicht klar.«

»Ich werde mit ihm sprechen, aber wenn er zu Hause sterben möchte, werde ich ihm das nicht ausreden.«

Jesaja ging ins Haus. Kurz darauf kam Zipporah hinaus. Sie zündete sich eine Zigarette an.

»Du riskierst das Fegefeuer, Schwester«, sagte ich. Sam würde der Schlag treffen, würde er sie beim Rauchen erwischen. Obwohl wir alle längst erwachsen sind, werden wir – mit Ausnahme von Jesaja – in Sams Nähe zu sündigen Teenagern. Maggie übt den gleichen Einfluss auf uns aus, wenn auch aus anderen Gründen. Sie ist zu weichherzig und verletzlich, man legt sich nicht mit ihr an. Ihr zuliebe verhalten wir uns immer angemessen. Doch im Moment war sie zu sehr abgelenkt, um Zipporahs kurze Rauchpause zu bemerken.

»Ich kann von diesen verdammten Dingern nicht lassen«, sagte Zipporah. »Erst recht nicht in solchen beschissenen Situationen. Da sind die Sargnägel einfach ’ne Hilfe.«

Aber sie zog nur ein paarmal an der Zigarette und trat sie dann aus. Nachdem er vielleicht zehn Minuten bei Sam verbracht hatte, kam Jesaja wieder heraus. »Er spricht über Moses und dich«, sagte er. »Er versucht, Jesus zu überzeugen, euch zu vergeben, indem er die Schuld für euer missratenes Leben auf sich nimmt.«

»Wie nett«, sagte ich. »Er wirft mich und Moses, unseren geliebten Junkie, in einen Topf.«

»Er betet für dich, Uriah«, sagte Jesaja und legte mir seine gewaltige Pranke auf die Schulter. »Der alte Mann meint es nur gut.«

»Hoffentlich macht Jesus sich Notizen«, bemerkte ich.

»Bleib locker, Bruder«, sagte Jesaja. »Vielleicht wird es durch den Tumor hervorgerufen, aber genau weiß man das nie. Es gibt noch genug Rätsel auf der Welt, um Experten zu verblüffen.«

»Um Gottes willen«, sagte ich. »Maggie und du, ihr benehmt euch wie Kinder in einem Geisterhaus. Was ist mit dir, Zip? Glaubst du auch an die Metaphysik von Sams Hirntumor?«

Sie versuchte, dem Thema auszuweichen, indem sie sich eine neue Zigarette anzündete.

»Du tust so, als hättest du alles im Griff, Uri«, sagte Jesaja. »Aber wenn es drauf ankommt, woran glaubst du dann? An alles? Ein Mensch muss doch eine Vorstellung von seiner Bestimmung haben.«

»Ich glaube an Äußerlichkeiten«, sagte ich. »Nicht an Bestimmung.«

Jesaja nahm die Hand von meiner Schulter. »Mit solchen respektlosen Antworten erreichst du gar nichts.«

»Es gibt nichts zu erreichen.«

Er schüttelte den großen Kopf und gestattete sich ein Grinsen. »Wenn ich an diesen Quatsch glauben würde, hätte ich mir schon längst eine .44er an die Schläfe gehalten.«

»Äußerlichkeiten können sehr interessant sein, Jesaja«, sagte ich.

»Aber sie sind vergänglich.«

»Ist das so schlimm?«

Wir blickten beide weg, keiner von uns wollte diese sinnlose Diskussion über Glaubenssysteme weiterführen. Jesajas ist starr, meines hingegen flexibel, von keiner Überzeugung getragen, aber wenn wir auf diese Frage zu sprechen kommen, schaffen wir es immer wieder, uns gegenseitig zu verärgern.

»Zack ist also in Brüssel«, sagte ich, um das Thema zu wechseln.

»›Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles‹«, sagte Zipporah. »Das ist aus dem Ersten Buch Mose, glaube ich.«

»Nein«, widersprach ich, »das ist aus Faust.«

Wir mussten alle lachen. Zack ist Firmenanwalt, und zwar ein hochkarätiger, hat mit multinationalen Konzernen zu tun und verbringt die Hälfte seiner Zeit in Flugzeugen. Es war Sam nicht leicht gefallen, Zacks am Mammon orientiertes Leben zu akzeptieren, doch bisher hatte er nicht einen der Schecks verweigert, die Monat für Monat von Zacks Bank in San Francisco eintreffen. Außer den Schecks von der Sozialversicherung verfügen Sam und Maggie über kein weiteres Einkommen. Mit Zacks monatlichen Zuwendungen können sie sich über Wasser halten.