Einundvierzig
Als ich das Grundstück der Rensellers erreichte, war aus dem Sprühregen ein wahrer Wolkenbruch geworden. Das schmiedeeiserne Tor an der Auffahrt stand offen, als erwarte man Gäste.
Oben dann sprach alles für eine Zusammenkunft, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass Jillian eine Party gab. Vor ihrem Mercedes stand der Suburban, mit dem man mich nach Samalayuca geschafft hatte, dicht dahinter der Lincoln Town Car mit dem mexikanischen Nummernschild. Lenny Trebeaux’ Gullwing Coupé stand ebenfalls da. Es parkte in einem spitzen Winkel, als hätte der Fahrer in Panik angehalten und das Auto fluchtartig verlassen. Die Flügeltür auf der Fahrerseite war offen. Mit dieser offenen Tür sah das Fahrzeug versehrt aus, wie ein Vogel mit einer Schwinge, der dazu verdammt war, sich gleich anderen erdgebundenen Lebewesen ausschließlich am Boden zu bewegen.
Die Beretta konnte ich mir in die Tasche schieben, für die Schrotflinte allerdings gab es kein dezentes Versteck. Ich stieg die Stufen zur Eingangstür hinauf, klingelte mehrere Male. Als nichts geschah, ging ich um die Ecke, zur Porte Cochère, um es am Seiteneingang zu versuchen. Er war verschlossen.
Ein Hüne in Trainingsklamotten reagierte auf mein Klopfen. Er hatte einen mächtigen kahlen Quadratschädel und einen Unterkiefer, der aussah, als könnte er Pflastersteine damit zermalmen. In seinem Schulterholster steckte eine großkalibrige Automatik und sein T-Shirt hatte die Aufschrift:
Fleischfresser fressen
Veganerfrauen
Ich gab ihm keine Gelegenheit, nach seiner Waffe zu greifen, sondern stieß ihm zuerst den Lauf der Mossberg in den Magen und versetzte ihm dann mit dem Gewehrkolben einen Schlag gegen den Kopf. Der Typ geriet ins Taumeln, ging aber nicht zu Boden. Ich trat gegen sein Knie und schlug ein zweites Mal mit dem Gewehrkolben zu. Es gab ein Knacken und ich hoffte, dass es nicht die Mossberg wäre. Jetzt ging er zu Boden und blieb liegen. Ich nahm ihm die Waffe ab und warf sie zwischen einige Oleanderbüsche. Der heftige Regen prasselte auf das Schieferdach der Porte Cochère und löschte alle Geräusche.
Ich ging zur Rückseite des Hauses, dann durch das Labyrinth der Hecken zur breiten Einfassung aus Steinplatten, die Clive Rensellers Oregon-Forellenbecken umgab. Zwei nackte Frauen amüsierten sich in der trüben, algendurchsetzten Brühe. Die eine stand aufrecht im brusttiefen Wasser, die andere wollte wohl mit ihrem ausgelassenen Plantschen einen Schwimmer beim Absaufen nachahmen. Die hochgewachsene Frau hatte weißblondes Haar und einen muskulösen Körper mit dem kupferfarbenen Hautton der Sonnenanbeterin. Die Schwimmerin war zierlich, weiß wie Porzellan und ihre missglückte Parodie eines Ertrinkenden wirkte eher skurril. Beide hatten jede Menge Spaß. Sie waren keine Kinder mehr und doch sah es so aus, als wollten sie die Zeit zurückdrehen. Zumindest sollte es für mich so aussehen, weil ich nicht wahrhaben wollte, worum es wirklich ging. Doch dann musste ich mich dem stellen: Clara Howler hatte Jillian bei den Haaren gepackt und drückte sie unter Wasser.
»Nein!«, schrie ich, doch Clara drückte Jillian nach unten, bis nur noch die Unterschenkel über der Wasseroberfläche zu sehen waren und das Strampeln der Beine aufhörte.
Jetzt tauchte Forbes hinter einer Gruppe Ebereschen auf. Er trug Schwimmshorts und präsentierte ungeniert seinen behaarten Schmerbauch. In der Hand hielt er eine Kalaschnikow. Noch ehe er sie in Anschlag bringen konnte, feuerte ich die Mossberg aus der Hüfte ab. Der Rückschlag riss sie mir fast aus der Hand. Die Ladung Grobschrot traf Forbes oberhalb der Knie. Unter der Wucht sackten ihm die Beine weg. Er fiel vornüber auf die Steinumrandung und ließ die Kalaschnikow scheppernd zu Boden fallen. Mit vor Schock und Fassungslosigkeit verzerrtem Gesicht quälte er sich hoch. Als er versuchte, nach der Kalaschnikow zu greifen, drückte ich wieder ab, diesmal aus der Schulter. Der erste Schuss riss ihm den Bauch auf, mit dem zweiten schoss ich seinen Kopf zu Brei.
Ich warf die Schrotflinte hin, rannte über die Steinplatten auf Jillian und Clara Howler zu und sprang in den Pool. Ich stemmte mich gegen das Wasser, wollte auf die beiden zulaufen, doch ich kam nur langsam voran, wie in einem Albtraum, bei dem man glaubt, die Beine seien aus Blei.
Als ich endlich bei ihnen war, ließ Clara Jillian los, die jetzt mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb, und stieß sie von sich. Ich schlug eine Rechte, doch Clara konnte ihr ausweichen. Ich vergeudete keine Zeit mit einem zweiten Schlag, sondern packte Jillian bei den Haaren und zog sie an den Rand des Pools. Ihre Augen standen offen und reagierten nicht auf den niederprasselnden Regen. Wie bei Sam war ihr Blick in die Ferne gerichtet. Sie wirkte so ruhig, so unerreichbar und ich hasste es, sie so zu sehen, weil uns Welten zu trennen schienen.
Ich kletterte aus dem Pool, zerrte Jillian auf die Steinplatten und begann mit der Wiederbelebung, presste das Wasser aus ihren Lungen, versuchte, mich an den Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, den ich in der Armee gemacht hatte. »Geh nicht, bitte geh nicht«, sagte ich, als könne sie mich hören, als könne ich sie zur Umkehr bewegen. Und plötzlich drang Wasser aus ihrem Mund, begleitet von einem Laut, der wie Husten klang, und ich schöpfte Hoffnung. »Ich liebe dich, Jillian«, sagte ich, doch selbst jetzt klang es falsch. Ich verfluchte mich und wiederholte es dennoch, immer und immer wieder, und jedes Mal klang es ein wenig aufrichtiger. Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich sah hoch zu Victor Mellado. Er lächelte. Ich wollte dem Totschläger ausweichen, den er in meine Richtung schwang, doch er traf mich hinter dem Ohr.
Der Schlag knockte mich nicht aus, aber er raubte mir mein Gleichgewicht. Bei meinem Versuch aufzustehen, zeigte sich die Welt in Schräglage, und daran änderte sich auch nichts, als ich umfiel und liegen blieb.
Victor trat mir in die Rippen. Als er ein weiteres Mal zutreten wollte, packte ich ihn am Bein, drehte es um und er fiel rücklings in den Pool. Wasser schwappte über den Rand und ergoss sich über die Steinplatten. Ich hörte Clara Howler lachen, zog die Beretta aus der Tasche und nahm Clara ins Visier. Sie stieg aus dem Wasser, sie stieg bergauf, sie stieg bergab. Mir wurde speiübel, weil die Welt von einer Seite auf die andere schwankte, aber ich konzentrierte mich auf Claras Mitte als Fixpunkt und gab etwas Druck auf den Abzug.
»Na los, schieß doch«, sagte sie. »Ich bin nicht gerade stolz auf die Sache eben. Ich habe die kleine Schlampe nämlich auch geliebt. Wir hatten noch ein letztes kleines Abenteuer und es war mehr als nur nett. Aber wie heißt es so schön, Befehl ist Befehl.«
Ich drückte ab, doch die feuchte Waffe reagierte nicht. Jetzt kletterte Victor aus dem Pool. Er lächelte nicht mehr. Er kam auf mich zu, fluchte, während er eine Decke aus Steinplatten entlangzulaufen schien und ein unterirdischer Himmel seine Wassermassen entlud. Wieder verweigerte die Beretta ihren Dienst und als Victor sie mir aus der Hand nahm, verlor ich langsam das Bewusstsein. Er trat gegen meinen Kopf, trat gegen meinen Hals, dann rollte er Jillian zurück ins Wasser. Diesmal trieb sie nicht auf der Oberfläche, diesmal versank sie sacht zwischen grünen Algen und dem silbrigen Blitzen der Cutthroat-Forellen.
Ich schrie oder bildete es mir ein, gut möglich, dass mir der Schrei im Kopf stecken blieb.