Sieben
Am nächsten Tag brachte die Tageszeitung die Todesmeldung auf der ersten Seite:
Führendes Mitglied der Gesellschaft mit 51 verstorben
Es waren zwei Spalten Lobpreisung für Clive Renseller, für den Mann, der maßgeblichen Anteil am jüngsten wirtschaftlichen Wachstumsschub der Stadt hatte. Man lobte seine Tugenden als Geschäftsmann und als Bürger, zählte die Wohltätigkeitsveranstaltungen auf, die er mitgetragen hatte, erwähnte sein Engagement im Schulausschuss und seine enge Verbundenheit mit der Kirche. Mitten im Text der beiden Spalten sah man ein Foto, das schmeichelhafte Porträt eines jüngeren Rensellers mit dunklen Haaren und einer festen Kinnpartie. Er sah eigenwillig aus und entschlossen, ein Mann, auf den man zählen konnte, wäre da nicht dieses kaum wahrnehmbare schiefe Lächeln gewesen, das seine Mundwinkel nach unten zog und so den Eindruck etwas relativierte. Vielleicht interpretierte ich, der ich eine weniger heroische Seite dieses Mannes kennen gelernt hatte, auch zu viel hinein. Das Bild in meinem Kopf zeigte einen wesentlich älteren Mann – den Regenmacher –, der auf dem kalten Boden eines Kerkers auf dem Rücken lag, hilflos, aber auch außer sich, während Mona Farnsworth über ihm hockte.
Es gab zudem eine Erklärung des Hausarztes der Rensellers, dass Clive eines natürlichen Todes gestorben sei. Kein Wort über seine sexuellen Ausschweifungen, kein Wort über eine Autopsie oder Mona Farnsworth, nichts über polizeiliche Ermittlungen.
Ein Sprecher der Cibola Savings and Loan versicherte Kunden und Aktionären gleichermaßen, dass das Unternehmen gut aufgestellt sei und dass die Türen für einen Tag der Trauer zwar geschlossen blieben, danach das Tagesgeschäft aber wie gewohnt wieder aufgenommen werde. »Wir haben eine starke, dauerhafte Bindung zu unseren Aktionären und zur Stadt«, erklärte der Sprecher weiter, »und unsere Aktiva wachsen mit einer Geschwindigkeit, die die unserer unmittelbaren Wettbewerber in den Schatten stellt. Die Zukunft, die sich momentan durch den Verlust unseres Direktors Clive Renseller etwas verdunkelt hat, wird bald, und das versichere ich Ihnen, sehr, sehr hell leuchten.«
Der Gouverneur drückte nicht nur der Familie Renseller (soweit ich wusste, gab es nur Jillian) sein tiefes Beileid aus, sondern auch der gesamten Gemeinde für ihren »schmerzhaften Verlust eines derart herausragenden Vorbilds für unsere Jugend. Clive Renseller«, schwärmte der Gouverneur, »war ein Paradebeispiel dafür, dass harte Arbeit, Hingabe und die grundlegenden Werte von Familie immer einen Gewinner hervorbringen. Clive Renseller war einer der Männer, die Amerika zu dem gemacht haben, was es heute ist.«
Ferner war noch zu lesen, dass die Bestattung dem Beerdigungsinstitut Stockbridge, Wilts and Morena übertragen und die Öffentlichkeit gebeten wurde, anstelle von Blumenspenden einen Betrag in den Hilfsfonds für misshandelte Kinder einzuzahlen. Jillians geheimes Wissen um die Misshandlung Clives in der Kindheit und seine späteren sexuellen Neigungen, die letztendlich zu seinem frühen Tod geführt hatten, musste Hintergrund dieser Bitte sein. Ich rechnete ihr das hoch an.
Ich legte die Zeitung weg und holte meine Hanteln unter dem Bett hervor. Vor dem Frühstück stehen immer Übungen für meine Bizeps und Deltamuskeln an. Ich belud die beiden Hanteln mit jeweils dreißig Kilo und trainierte etwa zehn Minuten. Dann rollte ich meine Thomas-Inch-Hanteln hervor – Replikate des Entwurfs von Thomas Inch, dem berühmten englischen Gewichtheber der frühen Zwanzigerjahre. Diese schwarzen Monster wiegen jeweils sechzig Kilo und bestehen aus zwei gusseisernen Kugeln, verbunden mit einer Stange von fast fünf Zentimeter Durchmesser und somit kaum zu greifen. Ich hob sie hoch, bearbeitete ein paar Mal die Trizeps, dann machte ich mich ans Frühstück: Rührei aus sechs Eiern – nur das Eiweiß –, Vollkorntoast und eine Schüssel Haferflocken, das Ganze abgerundet mit fettreduziertem Hüttenkäse und Leinöl.
Nachdem ich mich angezogen hatte, ging ich hinaus auf den Balkon. Der Himmel sah aus, als wäre ein in rote Farbe getunkter Quast darübergefahren – einer dieser spektakulären Sonnenaufgänge in der Wüste, die selbst Atheisten zweifeln lassen. Zarte Zirruswolken, die an Fischskelette erinnerten, bildeten ein geriffeltes Muster bis hin zum unendlich weiten Horizont. Das leuchtende Himmelszelt spannte sich über Stadt und Wüste wie das Gewölbe einer zartrosafarbenen Kathedrale. Sogar der Verkehr auf der Mesa Street floss langsamer als gewöhnlich, als hätten die Fahrer kollektiv beschlossen, dass Geschwindigkeit und Ungeduld Formen der Blasphemie seien.
Ich machte einen Rundgang, um nach dem Rechten zu sehen. Ab und an hinterlassen Sprayer ihre Tags an den Außenwänden. Manchmal rücken auch Vandalen dem alten Motel zu Leibe, mit Steinen oder Schrot, in mindestens zwei Fällen waren es sogar Geschosse gewesen. Mitunter kommen die Vandalen aus den Reihen der Bewohner. Es ist ein Dauerproblem, aber ich habe bereits vor langem beschlossen, mich nicht mehr darüber zu ärgern. Vandalismus hat mit der Umgebung zu tun. Entweder man lebt damit oder man zieht hoch nach Maine und versenkt sich in den Anblick seiner Kartoffelfelder.
Es war wieder einmal in den Waschraum eingebrochen worden. Jemand hatte die Münzkästen an den Maschinen abgerissen und mit einem Stemmeisen aufgehebelt, jemand, der sich einen Haufen Arbeit gemacht hatte, um am Ende mit zehn oder zwanzig Dollar das Weite zu suchen. Ich nahm mein Mobiltelefon vom Gürtel und machte meinen eher lustlosen Routineanruf bei der Polizei. Das Desinteresse des Cops, während er mir die Standardfragen stellte, war förmlich zu hören. Straftaten, begangen an und in Gebäuden, sind derart weit verbreitet, dass die Polizei sie fast schon nicht mehr als Straftaten betrachtet. Es ist sozusagen Teil der Gegend. Andererseits haben Gewaltverbrechen – gemessen an der Größe der Stadt – eher Seltenheitswert. Eine bemerkenswerte Untersuchung meinte, die Ursache im Grundwasser entdeckt zu haben, aus dem das Trinkwasser für El Paso gewonnen wird. Das Reservoir im Hueco Bolson verfügt über ein natürliches Vorkommen an Lithiumsalz, das angeblich Schwankungen zwischen den beiden Extrempolen im Normalzustand hält, mit anderen Worten: Niemand rastet zu sehr aus, niemand fällt in ein allzu tiefes Loch. Natürlich gibt es Ausnahmen. Diese Ausnahmen neigen dazu, sich an Orten wie dem Baron Arms zu versammeln. Die niedrigen Mieten machen diese Apartmentkomplexe zu Auffangbecken für die Instabilen, die vor dem normalen Leben Reißaus nehmen.
Ich rief den Konzessionär an, der die Maschinen im Waschraum betrieb, und teilte ihm die schlechte Nachricht mit, dann ging ich zurück in mein Apartment. Der Himmel hatte sich verändert. Die Sonne, diese Linse der Atmosphäre, stand inzwischen so hoch, dass sie ihr Kupferrot nicht mehr streuen musste. Die zarten Wolken waren weitergezogen und der Westwind hatte Sand in den Himmel geblasen. Der Verkehr auf der Mesa hatte zu seiner adrenalingesteuerten, von Hupkonzerten untermalten Hysterie zurückgefunden.
Auf meinem Küchentisch saß ein Skorpion von der Größe einer Maus. Als er mich bemerkte, brachte er seinen Schwanz in Angriffsposition. Ich verpasste ihm eins mit der neusten Ausgabe von Men’s Health. Der braune Saft klebte dick wie Sirup an der Resopal-Oberfläche. Ich beseitigte den Dreck und verbrachte den Rest des Vormittags mit der Suche nach dem zweiten Skorpion. Wo einer ist, ist immer auch ein zweiter.