Fünf
Clive Renseller saß auf dem Boden der Duschkabine und starrte ins Leere. Das mittlerweile kalte Wasser der Brause prasselte auf ihn herab und seine Haut – nicht mehr ganz so rosig – schien bereits leicht schrumpelig. Von der Mitte seines Kopfes zeigten die klatschnassen Haarsträhnen in alle Richtungen, wie Vektoren. Es sah aus, als meditiere er – ein Mönch aus dem 12. Jahrhundert, der gerade ein metaphysisches Rätsel zu entschlüsseln versuchte.
»Kannst du erste Hilfe?«, fragte Mona mit bangem Unterton.
Ich stellte das Wasser ab und fühlte an seinem Hals nach dem Puls, wohl wissend, dass da nichts war. Ebenso gut hätte es sich auch um ein neues Spiel handeln können, das er sich ausgedacht hatte: Sklave täuscht Ohnmachtsanfall in Dusche vor, Herrin peitscht ihn so lange aus, bis er wieder zu sich kommt und um göttliches Wasser bettelt. Aber dem war nicht so. Clive Renseller, Banker und Stütze der Gesellschaft, war tot.
»Mein Gott«, sagte Mona, »das hat mir gerade noch gefehlt.«
»Ruf 911 an«, sagte ich, »es sieht aus, als ob Clive einen Herzinfarkt hatte.«
»Nein. Zuerst rufe ich seine Frau an. Das ist eine höchst unangenehme Situation.«
Wir gingen wieder hoch und Mona telefonierte. »Jillian Renseller ist gleich hier«, erklärte sie. »Ich hab sie auf ihrem Mobiltelefon erwischt – sie war gerade unterwegs, irgendwo zum Abendessen. Die Arme hat darum gebeten, vorerst niemanden zu benachrichtigen. Ich respektiere das.«
»So was kann man doch nicht respektieren«, widersprach ich. »Das Gesetz – «
»Jetzt hör mal gut zu«, sagte Mona, »hier steht einiges auf dem Spiel. Wenn das publik wird, ist mein Geschäft ruiniert. Die meisten meiner Kunden sind namhafte Bürger. Die wollen ihr Privatleben nicht unter dem Mikroskop ausbreiten. Das kannst du doch nachvollziehen, oder? Bekommt die Presse erst mal Wind davon, werden sie wochenlang unsern Rasen belagern. Meine Kunden werden sich fern halten müssen. Das kann ich mir nicht leisten. Jillian hat ebenfalls viel zu verlieren. Im Grunde haben alle was zu verlieren. Bitte, Uri, funk mir jetzt nicht dazwischen.«
Mitgefühl gehörte nicht unbedingt zu Monas offensichtlichen Qualitäten. Das war das eine, aber Rensellers Tod nicht zu melden war illegal und ich sollte dabei mitmachen. Vor einiger Zeit war ein hoher Verwaltungsangestellter unserer Universität im Apartment seiner Geliebten im Baron Arms zusammengebrochen und gestorben. Ich hatte den Notruf alarmiert und bereits am folgenden Tage beschäftigte der Skandal alle Tageszeitungen. Er lieferte der Boulevardpresse wochenlang Futter für ihre Schlagzeilen. Für die Familie des Toten ein Desaster. Ein derartiges Nachspiel lässt sich nicht immer vermeiden. Wenn ein Mann nicht in der Lage ist, Ruf und Familie durch angemessenes Verhalten zu schützen, warum sollten es dann andere tun?
»Auf mich kannst du dabei nicht zählen«, erklärte ich und wollte zur Tür.
»Moment mal, Uri«, sagte Mona und hielt mich am Arm fest. Diesmal spannte ich nicht an. »Du könntest in diesen hässlichen Skandal hineingezogen werden. Mir ist klar, dass du nicht viel zu verlieren hast, aber bedenke, dass in allen Zeitungen Fotos von dir auftauchen könnten. Fotos mit dir als Henker, der mit einem Beil auf Mr. Renseller losgeht. Die Maske wird dich nicht schützen, dein Name kommt ans Tageslicht. Kannst du mit so was umgehen?«
»Welche Fotos?«, fragte ich. Aber ich verspürte bereits dieses flaue Gefühl in der Magengegend, wenn einem bewusst wird, was man sowieso weiß: Der Anschiss lauert immer und überall.
»Es wird alles auf Video festgehalten, was wir da unten machen. In den Wänden befinden sich vier Kameras, zwei sind in der Decke. Das muss sein, schon zu unserem eigenen Schutz. Wir brauchen Beweise, das alles im beiderseitigen Einvernehmen geschieht. Sollte ein Kunde aus welchen Gründen auch immer behaupten, er sei gegen seinen Willen von uns misshandelt worden, werden die Bänder das Gegenteil beweisen.«
»Du willst mich erpressen, damit ich kooperiere.«
»Nein, will ich nicht. Aber wenn die Polizei Rensellers Tod untersucht, wird sie vermutlich auch das mit den Bändern herausfinden. Ich habe keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen.«
»Letzten Endes werden die Behörden von Rensellers Tod erfahren.«
»Richtig. Doch was sie letzten Endes erfahren, kann doch ein wenig … korrigiert werden.«
Ich hörte das Quietschen von Reifen.
»Das muss Jillian sein«, bemerkte Mona.
Mona ging, um die Tür zu öffnen, und führte Jillian anschließend in die Küche. Jillian war eine zierliche Frau um die dreißig. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten und mit blonden Strähnchen durchzogen. Sie hatte ein fein geschnittenes Gesicht, irgendwie mediterran, mit einer prägnanten Nase, olivfarbener Haut und dunklen, schimmernden Augen. Ihr Mund war schmallippig und zu einer scharfen Linie verzogen. Sie trug verwaschene Jeans, Sweatshirt und Tennisschuhe. »Wo ist dieser verdammte Narr?«, fragte sie mit einem Zittern in der Stimme.
»Unten, in der Dusche«, sagte ich. »Dieser verdammte Narr hatte einen Herzinfarkt.« Es hatte nicht den Anschein, als würde Rensellers Ableben irgendjemanden in abgrundtiefe Verzweiflung stürzen.
»Wer sind Sie?«, fragte Jillian Renseller und nahm erst jetzt Notiz von mir.
»Ich bin Strobe, das lebende Requisit. Ich habe mitgeholfen, ihn zu Tode zu erschrecken.«
Sie musterte mich recht lange und wandte sich dann zu Mona. »Okay, er ist also tot. Aber hier kann er nicht bleiben. Ich muss ihn irgendwie nach Hause kriegen.«
»Du wirst uns helfen müssen, Strobe«, meinte Mona daraufhin.
»Sicher«, erwiderte ich. »Ich steh drauf, grundlos eingelocht zu werden. Das ist nämlich mein Hobby. Wie hast du doch so schön gesagt, Mona? Jeder sollte ein Hobby haben.«
»Er ist eines natürlichen Todes gestorben.« Mona ging es jetzt sanfter an und kam näher. Sie berührte meinen Arm. »Wo ist das Problem, wenn wir ihn nach Hause bringen?«
»Eines natürlichen Todes?«, sagte ich. »Seine Beine sind voller blauer Flecke und seine Arschbacken voller Striemen. Seine Lippen haben geblutet und er hat ein Veilchen. In seiner Stirnhöhle plätschert wahrscheinlich noch etwas von deinem göttlichen Wasser. Ich glaube kaum, dass der Leichenbeschauer Clives Tod als natürlich bezeichnen wird.«
Jillian Renseller schlug die Hände vors Gesicht und geriet ins Taumeln. Jerry Farnsworth fing sie auf und setzte sie auf einen Stuhl.
»Oh mein Gott«, stammelte sie. »Alles, wofür wir gearbeitet haben, ist zerstört!« Sie fing an zu schluchzen, in kleinen hysterischen Hicksern. Mona brachte ihr ein Päckchen Taschentücher. Jillian putzte sich kräftig die Nase. Diese Fanfarenklänge wollten so gar nicht zu ihrer kleinen, zarten Erscheinung passen.
Sie bekam sich wieder in den Griff und sah sich in der Küche um, als begreife sie erst jetzt, wo sie sich befand. Jerry brachte ihr ein Glas Wasser. Voller Dankbarkeit für sein aufmerksames Verhalten blickte Jillian zu ihm hoch. »Oh, entschuldige, Jerry«, sagte sie, »aber das ist ein so wunderbares Kleid. Woher hast du es? Ich will auch so eins.«
»Das hab ich vor zehn Jahren in San Francisco gekauft«, sagte er.
»Frag bloß nicht, wie viel er dafür bezahlt hat«, meinte Mona und verdrehte ein wenig die Augen. Wäre sie angesichts der Situation nicht so makaber gewesen, hätte diese an sich normale Reaktion etwas Ergreifendes gehabt. Ich wollte gerade was dazu sagen, als der kleine Harry in die Küche kam.
»Ich habe immer noch Hunger, Da«, sagte er. Er trug einen Bunny-Pyjama und war bereits bettfertig. Da, die irische Variante von Dad, hörte sich irgendwie niedlich an. Diese Familie hatte Stil.
»Hey, Leute, ich werd für die Großen jetzt Pizza bestellen«, warf Jerry ein. »Dann setzen wir uns alle hin, essen einen Happen und werden ganz entspannt überlegen, was als Nächstes zu tun ist. Haben wir erst mal was Anständiges im Magen, können wir ganz anders an die Sache rangehen, getreu meinem Motto: Mit leerem Magen entscheiden heißt schlecht entscheiden.« Er hatte inzwischen seine Perücke abgesetzt. Sein roter Iro klebte flach an seinem Kopf wie ein Stück Fell.
»Du warst nun mal beteiligt«, sagte Mona zu mir und verkörperte wieder June Cleavers dunkle Seite. Hinter den Brillengläsern hatte das Grün ihrer Augen eine Tendenz hin zum Grau. Zum unverwüstlichen Grau von Tresoren. Mit einem Mal wurde mir klar, dass sie ihre Arbeit genoss. Ich lächelte – über mich. Ich Idiot! Schließlich war ich kein grüner Junge mehr und trotzdem hatte ich mich von etwas überrumpeln lassen, was selbst für eine Nonne zu durchschauen gewesen wäre. Es machte Mona Farnsworth einen Höllenspaß, Männer windelweich zu schlagen. Dass sie dafür auch noch dick bezahlt wurde, versüßte das Ganze obendrein. Man lernt nie aus. Auch so eine hohle Phrase, die mitunter ins Gewicht fällt.
»Wenn Clives Tod irgendwelche Fragen aufwirft, hängst du mit drin«, sagte Mona und packte entschlossen meinen Arm. Ich ließ den Muskel entspannt. »Bedenke deine Situation, Uri. Du solltest keine Sekunde zögern, uns dabei zu helfen, den Mist in Ordnung zu bringen.«
Ihre Fingernägel gruben sich in meinen Bizeps. Ich saß, sie stand. Sie beugte sich zu mir hinunter, ihr Gesicht ganz dicht an meinem, ihren Mund leicht geöffnet. Jetzt will sie mich auch noch beißen, dachte ich.