Fünfzehn
Das Tor war nicht nur unverschlossen, es stand sogar weit offen. Ich fuhr den steilen Slalom hinauf zum Haus. Im Zwielicht wirkte das Haus mit seinen diversen Giebeln riesig und unheimlich, als hätte sich die märchenhafte Atmosphäre in etwas Unheilvolles verwandelt. Oben, kurz vor der Porte Cochère, standen zwei Mercedes, ein Chevrolet und ein Lincoln, genauer gesagt, Jillians schwarzer Mercedes, ein 300SL Gullwing Coupé, der klobige Chevrolet Suburban und ein neuer Lincoln Town Car. Der große Lincoln hatte mexikanische Nummernschilder, D.F.-Nummernschilder – Distrito Federal –, was bedeutete, dass er in Mexico City zugelassen war. Jillian veranstaltete wohl ein Treffen, was das offen stehende Tor erklären würde. Ich klingelte sechsmal, bevor die Tür geöffnet wurde.
»Uri, was für eine Überraschung«, sagte sie. Sie trug eine Art Hausanzug aus Seide, war barfuß und hielt einen Martini in der Hand.
»Wer ist da, Jilly?«, rief eine Männerstimme von drinnen.
»Uriah Walkinghorse«, verkündete sie, dabei betonte sie die einzelnen Silben und zog das Ganze so ins Lächerliche.
Eine Böe erfasste die Tür und warf sie gegen den Türstopper. Jillians seidener Hausanzug fing an wie wahnsinnig zu flattern, wie eine Fahne im Hurrikan. Ich betrat das Haus und drückte die Tür mit meiner Schulter zu, derweil der Wind an der Tür zerrte wie ein Betrunkener, der vorhatte, die Party zu sprengen.
»Komm, tritt näher«, sagte sie unbekümmert. Ihr Atem roch nach Wermut. Sie lächelte auf eine lockere, leicht benebelte Art und ihre Augen waren glasig. »Ich gebe eine kleine Party.« Sie nahm mich beim Arm und zog mich in die Halle. Ich musste mich ihren kleinen, unsicheren Schritten anpassen.
Wir gingen ins Wohnzimmer. Zwei Männer und eine Frau saßen um einen Glastisch herum. Einer der Männer – Silberhaar, gebräunt – sah aus wie ein GQ-Model, das als Tennisprofi posiert. Der andere war ein vornehm wirkender Mexikaner mittleren Alters. Er trug das Haar nach hinten gekämmt und zum Zopf gebunden, zum Zopf eines Matadors. Seine Haltung war freundlich und distanziert zugleich, als zöge er die Rolle des Beobachters der des Akteurs vor.
Der Tennisprofi trug ein gelbes Sportsakko aus einem sanft schimmernden Stoff, darunter ein schwarzes T-Shirt. Das Kristallglas seiner 1000-Dollar-Uhr reflektierte das Licht, als er auf dem Glastisch Kokain mit Hilfe eines vergoldeten Taschenmessers fachmännisch zerhackte.
Die Frau zog die Line durch einen eng zusammengerollten Geldschein. »Ich liebe es, mir das Zeug direkt vor Ben Franklins Nase reinzuziehen«, sagte sie. Sie rollte den Geldschein auseinander und leckte die Überreste von Ben Franklins Gesicht. »Ich mag die Vorstellung, dass der versaute, alte Weiberheld davon einen Ständer kriegt. Deshalb nehme ich nur Hunderter.« Sie musste über ihren eigenen Witz lachen. Sie war groß, kräftig und trug ein blaues Sweatshirt und Laufschuhe. Ihr weißblondes Haar hatte einen maskulinen Schnitt und ihre Bräune war ähnlich intensiv wie die des Tennisprofis, nur machte sie einen verbrannten Eindruck, als sei sie Ergebnis einer Behandlung mit einer Lötlampe.
Den Männern rang der Witz ein Lächeln ab, wenn auch ein leicht gedankenverlorenes: Sie taxierten mich.
»Fernie«, sagte Jillian zu dem Mexikaner, »das ist mein Freund Uri Walkinghorse. Er ist muy fuerte, wie Hulk Hogan.« Zum Beweis hielt sie meinen Arm hoch. Was für ein peinlicher Moment, ich fühlte mich wie bei einer Fleischbeschau.
Fernie stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Wie die meisten Mexikaner vermied er es, seine Hand als Schraubstock zu missbrauchen. Für einen Mexikaner ist ein fester Händedruck nicht gleichbedeutend mit einem festen Charakter; ebenso gut konnte es genau das Gegenteil bedeuten.
Fernie war um die fünfzig, schlank, und er besaß elegance, ungeachtet der lässigen Hosen und des sportlichen Hemds. Er zog die Stirn in Falten als Ausdruck seiner Missbilligung der Art und Weise, wie Jillian mich vorgestellt hatte.
»El gusto es mío«, sagte er förmlich.
»Igualmente«, erwiderte ich. Angesichts meiner erbärmlichen Aussprache huschte ein Lächeln über sein Gesicht, ein freundliches Lächeln ohne die geringste Spur von Spott.
»¿Estaba un matador, señor?«, fragte ich.
Er hob lediglich die Schultern und streckte seine Hände aus, die Handflächen nach oben. Ich deutete das als ein Ja, ja, er habe ein paar Stiere getötet, aber keinen Beruf daraus gemacht.
Die Blonde streifte mich mit einem Blick.
»Que chicotudo«, sagte sie lächelnd. Sie hatte große, gesunde Zähne, doch ihr Lächeln war nicht sympathisch. »Das ist also unser großer, böser, potenter Muffin«, sagte sie. »Ai chihuahua, madre de dios cuídeme!« Sie sprach Spanisch mit hiesigem Akzent. Ihr Lächeln verschwand, als sie mich taxierte. Voller Geringschätzung hob sie die Augenbrauen, dann zog sie sich die zweite Line ins Hirn.
Der Mexikaner lächelte, als fühle er sich für das unverschämte Verhalten der Frau verantwortlich und wolle sich dafür entschuldigen. Er hatte Geheimratsecken, eine Adlernase und blaue Augen, durch und durch iberisch, kein Tropfen indianisches Blut in den Adern. Seine Vorfahren hatten mit Cortez das Schiff verlassen, und im Laufe der Jahrhunderte hatte nicht einer seiner Ahnen eine Indianerin zur Frau genommen. In Mexikos Kastensystem hatten Männer wie er das Sagen.
»Sie sind der nette Pfadfinder, der Jilly geholfen hat, Clives Leiche wegzuschaffen, stimmt’s?«, meldete sich der Tennisprofi mit dem Silberhaar zu Wort. »Sie haben uns allen einen großen Gefallen getan, Mr. Walkinghorse.« Er sah mich nicht an, während er mit mir sprach.
Ich erkannte seine Stimme.
Es war der Und-mit-wem-spreche-ich-Kerl.
»Darf ich dir Lenny Trebeaux vorstellen, Uri?«, sagte Jillian. »Lenny war Clives rechte Hand.«
»Was hat er hier zu suchen, Jilly?«, fragte Trebeaux. Diesmal musterte er mich.
»Weshalb interessiert ihn das, Jillian?«, fragte ich und gab die Beleidigung zurück, indem ich – das Wort an Jillian gerichtet – Trebeaux ansah.
Jillian reichte mir einen Drink.
»Vertragt euch, Jungs«, sagte sie.
»Kann ich dich mal kurz sprechen?«, fragte ich sie.
Sie bat die anderen, sie zu entschuldigen, und dann gingen wir einen breiten Flur hinunter, hinein in das holzgetäfelte Zimmer, wo Teddy Roosevelts Waffenschmied über dem Kamin hing und in eine Zukunft blickte, die er sich beim besten Willen nicht hätte vorstellen können.
Sie schloss die Flügeltür und küsste mich. »Ich bin ein bisschen beduselt«, sagte sie.
»Hab ich gemerkt.«
Sie drückte sich von mir weg, beide Hände auf meiner Brust. »Du wirst uns jetzt hier nicht die Stimmung versauen, oder? Wir feiern Lennys Beförderung. Er hat vorläufig den Posten des Generaldirektors der Bank übertragen bekommen. Verstehst du? Hast du die Schecks eingelöst?«
»Mich interessiert, warum diese Schecks so verdammt wichtig sind. Dein Fahrer und sein Kumpel Victor wollten mich deswegen sogar fertig machen.«
»Das tut mir auch sehr leid. Aber ich hab versucht, dich zu warnen. Du hast versprochen, sie einzulösen. Das musst du unbedingt machen, Uri. Warum stellst du dich nur so quer?« Sie schmiegte sich an mich und küsste mich. Ihre agile, gingetränkte Zunge schmeckte kalt und bitter.
Völlig unvermittelt beendete sie den Kuss. »Willst du kein Geld? Jeder will Geld. Was ist bloß los mit dir?«
»Ich habe Forbes und Victor gesagt, dass ich die Schecks einlöse.«
»Du hast mir versprochen, sie einzulösen, und hast es nicht getan. Du hast mich angelogen.«
Ihre Hand schlüpfte in meine Hose. »Du hast mir ganz schön den Kopf verdreht, Lügner.«
»Wer ist der Matador?«, fragte ich.
»Fernando Solís Davila.« Sie unterlegte die einzelnen Silben mit einem Singsang, während ihre Hand sich tiefer tastete.
»Oh, Mann«, sagte sie, als sie Holz berührte. »Zu dumm, dass ich Gäste habe.«
»Was ist … macht Fernando Solís Davila so?« Ich hatte Artikulationsschwierigkeiten. Ihre Hand bewegte sich.
»Er ist Geld und er macht Geld.«
Ich packte sie am Unterarm und zog ihre Hand aus meiner Hose.
»Was ist eigentlich hier los, Jillian? Bezahlst du mich fürs Ficken?«
Sie versetzte mir eine Ohrfeige. Als ich nicht reagierte, schlug sie ein zweites Mal zu, diesmal heftiger. Als ich wieder nicht reagierte, fing sie an zu weinen.
»Gibt’s Ärger?«, fragte der Tennisprofi. Er war unbemerkt in den Raum getreten, die Stirn gerunzelt, das braun gebrannte Kinn brutal nach vorn gereckt, was seiner GQ-Visage etwas Einschüchterndes verleihen sollte. Ich gab mir redlich Mühe, beeindruckt zu sein.
»Wir sprechen gerade über Geld«, sagte sie und wischte sich mit dem Handballen die Tränen von der Wange.
»Wie, hast du ihm nicht genug gegeben?«, fragte er. »Er will mehr, geht’s darum, ja?«
»Ich will kein Geld«, sagte ich. »Ich will wissen, wofür ich bezahlt werde.«
»Es war keine gute Idee«, sagte er, ging zu Jillian und legte ihr den Arm um die Schulter. »Was hast du ihm erzählt, Jilly?«
»Nichts. Ich habe ihn nur inständig gebeten, die Schecks einzulösen.«
Sie schien leicht durcheinander, nachdem ihr die muntere Gin-Laune abhanden gekommen war. Sie und der Tennisprofi standen auf eine vertraute Weise beieinander, die mir nicht gefiel. Das sah ein Blinder, dass sie und Lenny Trebeaux ein Verhältnis miteinander gehabt hatten oder immer noch hatten. Unwahrscheinlich, dass es für Clive ein Problem gewesen war, Trebeaux war in mehr als einer Hinsicht seine rechte Hand gewesen. Jillian hatte Clive sich austoben lassen, umgekehrt war es genauso gelaufen. Ich verspürte den Drang, etwas in Stücke zu hauen. Der Tennisprofi bot sich dafür geradezu an.
»Wir hatten viel Geduld mit Ihnen, Walkinghorse.« Er löste sich von Jillian und zeigte mit einem manikürten Finger auf mich. »Sie haben keine Ahnung, worauf Sie sich hier einlassen.«
Ich packte seinen schönen Finger und bog ihn zurück. Trebeaux ging in die Knie, bleckte die Zähne und kniff vor Schmerzen die Augen zusammen. »Dann klären Sie mich auf, Trebeaux. Worauf lasse ich mich hier ein?«
»Auf etwas, was für einen Mann in Ihrer Position nicht unbedingt erstrebenswert ist«, sagte Fernando Solís Davila.
Er hatte in Begleitung der Blonden das Zimmer betreten. Ich ließ Lenny los. Irgendwie nötigte Solís einem Respekt ab. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper oder ließ eine innere Unruhe erkennen. Es fiel nicht schwer, ihn sich mitten in einer sonnigen Plaza de Toros vorzustellen, das rote Tuch in der Hand, mit dem er einer gereizten, mehrere Zentner schweren Killermaschine vor der Nase herumfuchtelte.
»Darf ich Ihnen Clara Howler vorstellen«, sagte Solís und deutete mit dem Kopf auf die Blonde. »Clara ist mein Bodyguard, wenn ich in el norte unterwegs bin. Ihr gelegentlicher Griff zum coca stört mich nicht. Wenn überhaupt, dann macht es sie … mas vigilante … aufmerksamer.« Der Ton seiner Stimme war distinguiert, in gewisser Hinsicht hypnotisierend, seine Aussprache sehr präzise.
»El jefe«, murmelte ich vor mich hin.
Als Zeichen, dass ich ihre wichtige Rolle anerkannte, nickte ich Clara Howler zu. Sie lächelte und kam auf mich zu. Wie ein auf Etikette bedachter Idiot wollte ich ihr die Hand geben. Sie nutzte die Gelegenheit und trat mir so hart in die Eier, dass meine Zähne aufeinander schlugen. »Zu spät, Cowboy. Du hättest das Geld nehmen sollen.«
Ich klappte zusammen wie ein Campingstuhl und fing an zu würgen. Sie trat noch mal zu – und traf mich mit einem Roundhouse Kick am Kopf. Ich hörte Jillian schluchzen. »Nein! Nicht doch!«, sagte sie. »Ich hab euch gesagt, ich will das nicht.«
Ich sehe immer noch vor mir, wie der Boden auf mich zukam. Ich sehe Clara Howlers Knie Kurs auf meinen Kiefer nehmen. Ich erinnere mich, wie ich auf den Rücken fiel und dann gegen Stuhlbeine rollte. Ich erinnere mich an Lenny Trebeaux’ Ächzen, während er seinen Beitrag in Form von Tritten in meine Nierengegend leistete, als handelte es sich um einen Fußball, sein vor Konzentration verkrampftes Gesicht, als ginge es um ein Elfmeterschießen.
Und ich erinnere mich, dass Jillians tränenüberströmtes Gesicht über meinem schwebte, danach erinnere ich mich an nichts mehr.