Zwei

Im Laufe der letzten vierzig Jahre war aus der U.S. 80 ›The Strip‹ geworden – Gebrauchtwagenhändler, taquerias, Tabledance-Bars, Massagesalons, casas de cambio, wo man Pesos gegen Dollar oder Dollar gegen Pesos tauschen konnte, und die Rein-Raus-Quickie-Motels. Niemand spricht mehr von der U.S. 80. Es gibt jetzt einen Namen: Mesa Street. Vom DMZ, also von der anderen Seite der Mesa aus betrachtet, wirkt das Baron Arms wie eine Sandburg mit Hanglage. Der Architekt, der es in den Fünfzigern entworfen hatte, musste ein Mann mit Gespür gewesen sein. Das Gebäude fügt sich perfekt in die Umgebung El Pasos ein – es sieht aus wie ein natürlicher Ausläufer der terrakottafarbenen Berge. Genauso gut hätte es auch tausend Jahre zuvor von den Anasazi erbaut werden können. Folglich ist es gar nicht mal so abwegig, sich die Mieter als Höhlenbewohner vorzustellen. Ich hatte die Anasazi schon immer für ein überaus wachsames, fast schon paranoides Volk gehalten, das sich in seinen auf hohen Felsvorsprüngen gelegenen, zugemauerten Halbhöhlen vor einem realen oder imaginären Feind verborgen gehalten hatte. Das Gleiche könnte man auch von vielen Bewohnern des Baron Arms behaupten. Auch sie versuchen, einer realen oder imaginären Bedrohung zu entkommen. In den meisten Fällen jedoch ist die Bedrohung real. Schmierige Anwälte, Privatdetektive auf der Suche nach Untergetauchten, Schuldeneintreiber, eifersüchtige Verflossene und vor sich hin murmelnde Psychotiker drücken sich in den Fluren, Laubengängen und auf Treppenabsätzen herum.

Vom Balkon meines im dritten Stock gelegenen Apartments hat man einen Blick über die unendliche Wüste, mit einem Horizont, so weit entfernt, dass man glauben könnte, die Welt sei eine Scheibe. Über die weite Ebene hinweg kann man beobachten, wie sich Sandstürme entwickeln und den Himmel entlangschrammen. In der vor Hitze flirrenden Luft sieht das ferne Gebiet von El Malpais geriffelt aus, als wäre es auf dünnes Blech gemalt. Schon der reine Anblick dieses sich scheinbar endlos erstreckenden Ödlandes macht durstig. Weht dann noch ab und an heißer Wind den Sand herüber, möchte man fast für Regen beten.

Ich hatte sechs Nachrichten auf dem AB, alle von Rosie Hildebrand. Es war immer die gleiche Botschaft: »Hey, Mister Manager, mit meiner verfluchten Terrine stimmt was nicht.« Terrine, so nannte sie ihre Toilette.

Wahrscheinlich wieder mal verstopft, dachte ich. Allein die fünfundsiebzig Toiletten des Apartment-Komplexes garantieren mir mietfreies Wohnen. Die Leute zahlen Miete, also nehmen sie auch das Recht für sich in Anspruch, alles Mögliche in die Toilette zu stopfen. Letzte Weihnacht versuchte eine Zwanzigjährige einen vielleicht 16 Wochen alten Fötus hinunterzuspülen. Diesbezüglich nahm sie auch kein Blatt vor den Mund: »Bringen Sie Ihre Spirale her, Walkinghorse. Meine verdammte Toilette läuft nicht ab. Ich musste pinkeln und dann hatte ich diesen fiesen Krampf. Haben Sie mich nicht schreien hören? ›Oh fuck! Oh SCHEIßE!‹ Richtig laut. Mann, war ich am Abjammern. Dann rutscht mir auch noch mein Baby raus. Ich hab mein Baby verloren! Was für eine Tragik, das vergess ich nie. Hoffentlich hat mich bloß keiner gehört. Ich glaube nämlich, die beiden Schwulen nebenan sind Jesus-Typen oder so.« Als ich bei ihr eintraf, hatte sie bereits geduscht, trug abgeschnittene Levi’s und keinen BH unter ihrem Nashville-Pussy-T-Shirt. Sie war hübsch, wirkte jedoch für ihre zwanzig Jahre schon reichlich verbraucht. Eine Zwanzigjährige, die direkt auf die vierzig zuging.

Sie sah alles andere als traurig aus. Vielmehr schien sie das Ganze bereits vergessen zu haben und sich darauf vorzubereiten, hinaus in die Welt zu gehen und sich in die nächste Katastrophe zu stürzen. Um mich abzusichern, rief ich die Cops, und die brachten Leute von der Gerichtsmedizin mit. Die von der Spurensicherung zogen den blutigen Klumpen aus dem Abflussrohr. »Frohe Weihnachten, Tiny Tim«, begrüßte Ted Lopez von der Spurensicherung den dunklen Winzling, der eher aussah wie ein überfahrenes Nagetier und nicht wie etwas, was eines Tages sprechen und laufen kann und möchte, dass seine Meinung ernst genommen wird. Die Frage war nun: Hatte sie ein Frühchen getötet oder war der Fötus bereits bei Ankunft tot gewesen? Es gab jedoch weder ein Ergebnis noch kam es zu einer Strafanzeige.

Ich war Ted Lopez und seinen Leuten von der Crime Scene Unit sehr dankbar. Dankbar, dass sie sich an meiner statt die verstopfte Toilette vornahmen. Ich kenne die Jungs gut. Letzten Monat hatten wir einen Mord/Selbstmord, den Monat zuvor eine Art Geiselnahme. Mit den Leuten von der Spurensicherung war ich inzwischen per Du.

Bill und Rosie Hildebrand bewohnen ein Dreizimmerapartment – eine Suite, wie man die Räume in Zeiten, als noch von einem Motel des gehobenen Standards gesprochen werden konnte, bezeichnet hatte. Die Hildebrands sorgen regelmäßig für eine Verstopfung ihrer Toilette. Die Woche zuvor hatte ich ein völlig aufgeweichtes Taschenbuch zutage gefördert. Einige Wochen früher gestrickte Zierdeckchen. Also machte ich mich auf den Weg zu 24-D, Spirale, Rohrfräse, Gummisauger, ein rotes Bandanna und Chemikalien gegen Scheiße in meiner Werkzeugkiste, bereit, die Herausforderung anzunehmen.

Die Hildebrands sind Säufer aus Überzeugung. Rosie ist um die siebzig, Bill nicht mal sechzig, dennoch sieht er älter aus als sie. Äußerlich ähneln sie einander sehr – farblose, unbedeutende Menschen mit leblosen Gesichtern. Sie haben sechs fette Katzen – vier mehr, als vom Vermieter erlaubt – und ein Aquarium. Der Vermieter lebt in Austin, sechshundert Meilen östlich von hier, demzufolge obliegt es mir, auf die Einhaltung der Hausordnung zu drängen, und ich bin eher nachgiebig, um ein gutes Auskommen mit den Mietern bemüht.

Überall im Apartment lagen fette Katzen. Leguane im Fellkleid. Ich ersparte mir das »Hallo«, denn Bill und Rosie sahen Jeopardy!, einen Krug Gallo Vin Rose zwischen sich auf dem Tisch. Rosie trug Kittel, Pantoffeln und Nylonkniestrümpfe, die bis zu den Knöcheln heruntergerollt waren. Ihre Beine sahen aus wie in Folie eingeschweißte Knochen. Mitten auf dem Kopf, kreisrund und so groß wie ein Silberdollar, sah man eine kahle Stelle, die sie als »meine Kippah« zu bezeichnen pflegt. Bill steckte wie immer in diesem 70er-Jahre-Anzug – bohnengrün, mit breiten Revers. Die käseweißen Füße waren nackt, die rissigen, gangränösen Fußnägel blau verfärbt. Er zeigte Richtung Badezimmer. Der Gestank schnürte mir die Kehle zu. Ich leide sehr schnell unter Brechreiz, beim Klempnern ein echtes Manko. Also band ich mir das Bandanna vor Mund und Nase und ging hinein.

In der Toilettenschüssel stand das dunkle Wasser bis zum Rand. Ich versuchte, der Brühe mit dem Gummisauger beizukommen. Ohne Ergebnis. Ich nahm das Bandanna ab und ging zurück ins Wohnzimmer. »Sag mal, Rosie, hast du etwa Katzenstreu ins Klo gekippt?«

Sichtlich verärgert über die Störung, riss sich Rosie von Jeopardy! los. »Na klar«, sagte sie mit säuerlicher Miene, »ich war extra draußen, hab fünf Tüten Katzenstreu gekauft und in die Terrine geschüttet. So was mach ich manchmal, nur so aus Spaß.« Ihr Teint sah aus wie Haferbrei und an der Nase blühte ein zehncentstückgroßes schorfiges Krebsgeschwür.

Ich schöpfte das Wasser aus der Kloschüssel, zog die Toilette komplett vom Abflussrohr ab und führte die Fräse direkt in das offene Rohr. Zwar kamen jede Menge organischer Partikel zum Vorschein, doch die Verstopfung blieb. Jetzt hatte die Spirale ihren Einsatz. Ich schob sie ungefähr zweieinhalb Meter ins Rohr. Als ich sie wieder rauszog, sah ich, dass ich einen Fisch aufgespießt hatte. Einen monströsen Piranha. Ich ging damit ins Wohnzimmer.

»Das könnte Carlotta sein«, meinte Bill Hildebrand und zeigte auf den Fisch. Er stand auf und nahm mich beiseite, so dass Rosie uns nicht hören konnte. »Rosie war ziemlich wütend auf Carlotta, weil sie die anderen kleinen Kerle aufgefressen hat«, flüsterte er.

Unsere Blicke wanderten zu Rosie. Die hatte nur Augen und Ohren für Jeopardy! »Was ist der Pawlow’sche Hund?«, rief sie und versuchte, der ratlosen Gemeinde auf der Mattscheibe mit der richtigen Frage weiterzuhelfen. »Kommt schon, ihr trüben Tassen: Was ist der Pawlow’sche Hund?«

»Rosie könnte richtig abräumen, wenn die sie in die Show lassen würden.« Bill kicherte stolz.

»Warum hat sie Carlotta eigentlich zu den anderen gelassen?«, fragte ich.

Mit zittrigen Fingern griff Bill mein Handgelenk und kam ganz dicht heran. Sein Atem roch faulig. »Es ging um die kleinen Exoten. Rosie war ihrer überdrüssig, weil sie nie auch nur die Spur von Dankbarkeit gezeigt haben. ›Jetzt gehst du da rein, Carlotta, und zeigst diesen Fächerschwänzen und Neontetras mal, wie man sich benimmt.‹ Das waren ihre Worte.«

»Ich glaube kaum, dass Fische Dankbarkeit zeigen können«, sagte ich.

»Genau das hab ich ihr auch gesagt. Aber das ist nun mal ihr Naturell. Wenn sie das Gefühl hat, man nutzt sie aus, kann sie ganz schön zickig werden.«

»Fische wirft man nicht ins Klo, Rosie«, sagte ich und betrachtete das Aquarium. Bis auf einige vom Filter erzeugte Blasen war es leer. Ich zog kurz in Erwägung, ihr mit der 2-Katzen-Obergrenze zu drohen. Aber warum? Schließlich zahlte sie immer pünktlich ihre Miete.

»Was ist Excelsior?, ihr Saftheinis«, sagte Rosie, zog ihren Sessel näher an die Mattscheibe und strafte mich so mit Missachtung.

Ich mag diesen Wie-muss-die-Frage-lauten-Ansatz bei Jeopardy!, komme mir aber manchmal reichlich ungebildet vor, obwohl ich mein Mathestudium erst kurz vor dem Magisterexamen abgebrochen habe. (›In früheren Zeiten hießen die politischen Führer dieses modernen Staates Zipa in Bacatá und Zaque in Tunja.‹ Wie muss die Frage lauten? Viel Glück.)

»Du solltest dir den Krebs an der Nase entfernen lassen, Rosie«, sagte ich. »Es könnte ein schlimmes Ende nehmen.«

Ihre wässrigen Augen sahen mich gelassen an und sie sagte: »Wenn ich medizinischen Rat brauche, rufe ich einen Arzt, keinen Klempner.«

Ich montierte die Toilette, brachte Carlotta, den Piranha, zum Müllcontainer, ging zurück in mein Apartment und stellte mich unter die Dusche, um die diversen Hildebrand’schen Gerüche wegzuspülen. Anschließend mixte ich einen Shake aus Joghurt, drei Eiweiß und einer Hand voll getrockneter Leber, verteilte etwas Tofu auf Seetang- und Sonnenblumenkern-Crackern – mein Abendessen.

Ich trete nicht mehr bei Wettkämpfen an, dennoch möchte ich meinen Körperfettanteil unter fünf Prozent halten. Es sieht einfach besser aus, wenn das Zusammenspiel von Muskeln und Venen unter der Faszie nicht von einem halben Zentimeter Fett verdeckt wird. Das ist ein reines Ego-Ding. Aber was nicht? 1983 war ich Mr. Westside. Für die großen nationalen Wettkämpfe waren meine Proportionen nicht stimmig genug. Rumpf und Arme sind zu lang, Beine und Hals zu kurz. Nichts Unästhetisches, aber im Schwergewicht wollen sie nun mal Schwarzeneggers Perfektion.

Ich maß meinen Blutdruck – 124/79 – und legte mir einige B-12er unter die Zunge. Was auch immer die Farnsworths vorhatten, ich war bereit.

Nachdem ich mich angezogen hatte, stellte ich die Zeitschaltuhr für das Licht auf sieben Uhr, um Einbrecher zu foppen, um sie glauben zu machen, jemand sei im Apartment. Ich wusste, das war Quatsch. In dieser Stadt narrt man Einbrecher nur mit einem dunklen Apartment, dessen Fenster sperrangelweit offen stehen. Das verunsichert sie. Sie müssten damit rechnen, dass jemand im Dunkeln hockt, eine Flinte Kaliber 12 im Schoß.

Ich nahm den Fahrstuhl, der zum Parkplatz führte, befreite meine Windschutzscheibe von Flyern eines Ladens, der sich weiter unten an der Straße befindet, sich Die heilende Hexe nennt und neben Kräutern und Vitaminen auch bruja-Fetische verkauft, die eine die Libido anregende Wirkung garantieren. Dann machte ich mich auf den Weg nach Heaven’s Gate Estates zu meinen schnell verdienten zweihundert Dollar und der wie auch immer gearteten Nachhilfe, die Mona Farnsworth glaubte mir erteilen zu müssen.