Dreißig

Gewohnheiten sind die Bausteine des Lebens. Entfernt man nur einen Stein, verändert sich die Statik und es wird nie mehr so sein wie vordem. Das DMZ war ein wichtiger Baustein in meinem Leben. Es war mein Zuhause. Wie konnte mir Güero das nur antun?

Es musste etwas passiert sein, ein Unglück in der Familie, etwas in der Art. Ich ging zurück ins Apartment und suchte im Telefonbuch nach seiner Nummer.

Kein Odonaju. Er hatte mir nie erzählt, wo er wohne. Ich hatte immer gedacht hier, in der Stadt, unweit der Bar.

Ich durchforstete die wesentlich zahlreicheren Einträge auf mexikanischer Seite. Da war er: G. Odonaju, der einzige Odonaju im Verzeichnis. Es war eine Adresse auf der anderen Seite des Flusses, in Juárez: Calle Vicente Zamora. Ich wählte die angegebene Nummer.

»¡Bueno?«, meldete er sich.

»Güero? Hier ist Uri. Mann, was hast du bloß angestellt, verdammt noch mal?«

»Wovon sprichst du?«

»Du weißt, wovon ich spreche. Die Bar, was sonst. Hinterm Tresen steht eine Gehirnamputierte, die behauptet, dass ihr der Laden gehört.«

»Beatrice Westfall. Sie hat meine unverschämt hohe Forderung akzeptiert. Was soll ich dazu sagen?«

»Du könntest sagen, dass es nicht wahr ist. Du könntest sagen, es handelt sich um einen Fehler, den man wieder gutmachen kann. Ich kann da nicht mehr hingehen, Güero. Sie hat den Laden ruiniert. Piccadilly on the fucking Rio! Wie kannst du nur zulassen, dass sie dem DMZ einen so bescheuerten Namen gibt? Mein Gott, neben dem Klo hängt sogar eine Dartscheibe.«

»Tut mir leid, Mann. Ich brauchte das Geld. Ich mache im Ostteil von Juárez etwas Neues auf. Ein Fischrestaurant, eins von der gehobenen Sorte. La Paloma. Da wird es eine sehr schöne Bar geben. Komm rüber und trinke deine Margaritas hier.«

»Wie soll das gehen, Güero? Um in meine Bar zu gehen, will ich nur die Straße überqueren, nicht den beschissenen Rio Grande. Du hast nie erwähnt, dass der Laden zu verkaufen ist. Wie konntest du mir das nur antun, Mann. Ich dachte, wir wären compas?«

»Es ist rein geschäftlich, Uri. Nimm’s nicht persönlich.«

»Wie könnte ich es nicht persönlich nehmen? Mann, ich nehm’s persönlich. Und komm mir nicht mit es ist geschäftlich – geschäftlich, auch so ein Begriff, mit dem man alle Scheiße der Welt rechtfertigen kann. Genauso gut könntest du sagen, es ist Gottes Wille.«

»Was auch passiert, es ist immer Gottes Wille.«

»Dann muss Gott nicht mehr richtig ticken. Man läuft Gefahr, einen Dartpfeil ins Auge zu bekommen, wenn man vom Klo kommt.«

»Bleib auf dem Teppich, Mann. Es ist Monsun-Zeit. Du könntest auch vom Blitz erschlagen werden.«

»Es war eine tolle Bar, Güero. Sie hat was abgeworfen und versuch nicht, mir weiszumachen, dass dem nicht so war. Du hattest eine zahlende Kundschaft. Und ich hab dazugehört, Scheiße noch eins.«

»Ich musste verkaufen«, sagte er. »Kannst du dich an den pendejo erinnern, dem ich an der Uni eine runtergehauen habe? Seine Klage nimmt Fahrt auf. Er will fünf Millionen von mir. Ich hab mir gedacht, ich bringe mein Vermögen in Mexiko unter, wo es schwieriger, wenn nicht sogar unmöglich für sie ist, darauf zuzugreifen. Wozu habe ich meine doppelte Staatsbürgerschaft? Ich will diesem kleinlichen Wichser nicht einen centavo in den Rachen schmeißen. Das ist doch wohl verständlich, ése, oder?«

»Mann, sie betreibt eine neue Geschäftspolitik. Drinks, die mehr kosten und wie Wischwasser schmecken. Dann den Mist, den sie quatscht: ›Welches Gift bevorzugen Sie?‹. Um Himmels willen, Güero, wenn du schon verkaufen musstest, warum nicht an jemanden, der weiß, wie man eine Bar führt?«

»Weil Beatrice die Einzige war, die meine Preisvorstellung akzeptiert hat. Sie entstammt einer Öldynastie. Ihr Daddy ist einer von den texanischen Milliardären. Lass dir einen Dartpfeil ins Auge werfen, vato, und verklag sie. Dann wirst du reich.«

»Seit Gert mich verlassen hat, habe ich mich nicht so schlecht gefühlt, Güero.«

»Du übertreibst, Uri.«

»Tatsächlich? Na ja, vielleicht ein wenig.«

Ich heulte mich noch eine Weile aus, und bevor wir auflegten, kamen wir überein, uns demnächst auf einen Drink zu treffen. Ohne meine Nachrichten abzuhören, machte ich mich mit meiner Werkzeugkiste auf den Weg zu den Hildebrands.

Bill Hildebrand öffnete in einem zerschlissenen Bademantel die Tür. Er sah aus wie hundert, aber seine ramponierten Zehennägel hatten eine Pediküre hinter sich. »Was macht die Terrine, Bill?«, fragte ich. Er ließ mich herein und humpelte zu einem Sessel.

»Rosie ist im Krankenhaus«, sagte er.

Die Fische waren wieder da. Neontetras und Fächerschwänze schwammen fix durch klares Wasser. Die Katzen lagen in gewohnt träger Manier auf dem Teppich.

»Tut mir leid, das zu hören, Bill«, sagte ich.

»Sie hatte einen Schlaganfall«, sagte er. »Sie war fürchterlich schlecht gelaunt. Irgendwas im Fernsehen hat sie zur Weißglut gebracht, sie hat das Ding nur noch angebrüllt und plötzlich lag sie am Boden. Ich hab dann den Notruf alarmiert.«

»Ich werd ihr ein paar Blumen schicken«, sagte ich.

»Das bringt nichts. Sie kann nichts sehen, nichts hören und ist vollständig gelähmt. Sie glauben nicht, dass sie durchkommt.«

Der alte Mann sah mich an. Es war der Blick des geprügelten Hundes, den ich nur zu gut kannte. Genau diesen Blick hatte er mir zugeworfen, nachdem ich den Fisch aus der Toilette gezogen hatte.

»Das sind ja schöne Neuigkeiten«, sagte ich und wich diesem Blick aus.

Ich ging ins Badezimmer und betätigte die Spülung. Alles funktionierte prächtig. Um sicherzugehen, drückte ich ein weiteres Mal. Aus dem Schlafzimmer drang ein langer, gehauchter Seufzer. Die Tür war nur angelehnt. Ich stieß sie auf. Im Bett lag eine Frau, die sich augenblicklich die Bettdecke bis ans Kinn zog. »Wer ist das?«, fragte ich.

»Das ist Dorsey«, erklärte Bill.

»Dorsey«, sagte ich.

»Dorsey Jim«, fügte er hinzu.

Dorsey Jim lächelte mich an. Ihr fehlten drei Schneidezähne. Sie war vielleicht sechzig und ihr Haar ein Wirrwarr aus drahtigen Strähnen in Schwarz und Grau. »Ich bin Bills Cousine«, sagte sie. »Aus Flagstaff. Das ist in Arizona. Es gibt viele Diné in Flagstaff. Glaubt man kaum, wenn man durchfährt.«

Ich sah Bill an und er blickte verschämt zur Seite.

»Dorsey ist eine Diné – Navajo«, sagte er.

»Du hast Verwandte bei den Navajo?«, fragte ich.

Dorsey lächelte immer noch. »Wir sind alle miteinander verwandt«, sagte sie. »Sind Sie anderer Meinung? Vielleicht glauben Sie auch, manche Leute kommen vom Mond.« Ohne die Decke loszulassen, schwang sie die Beine aus dem Bett. Eine Tätowierung von der Größe eines Menütellers zierte den oberen Teil ihres Rückens. Das Tattoo sah aus wie ein Bluterguss.

»Rosie hätte nichts dagegen«, rechtfertigte sich Bill. »Sie macht sich eher Sorgen, weil ich allein bin.«

»Sprich ihren Namen nicht aus«, sagte Dorsey. »Nicht wenn ich dabei bin.«

»Das meint sie nicht so«, sagte Bill. »Sie ist nicht eifersüchtig.«

»Wenn man den Namen eines Toten ausspricht«, erklärte Dorsey, »beschwört man chindi.«

»Chindi ist der böse Geist, den die Toten zurücklassen«, sagte Bill. »Er könnte von einem Besitz ergreifen.«

»Rosie ist nicht tot, Bill«, warf ich ein.

»Aber so gut wie«, widersprach Dorsey. »Wenn sie in diesem Augenblick stirbt und man ihren Namen ausspricht, öffnet man chindi die Tür.«

Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Welchen bösen Geist außer dem ihrer schlechten Laune könnte Rosie schon zurücklassen? Aber das reichte vielleicht schon. Doch mir war jetzt nicht danach, Bill damit zu nerven.

Als ich gehen wollte, hielt mich Bill am Ärmel fest. »Die waren hier und haben nach dir gesucht«, sagte er.

»Wer?«

»Zwei ziemlich gereizte Jungs. Ein großer, kräftiger Typ mit einem komischen Haarschnitt und ein kleiner Mexikaner. Ich hab erst gedacht, die wollen sich hier einmieten, doch dann meinten sie, sie wollen mit dir reden.«

»Und was hast du ihnen gesagt?«

»Dass du mit einer Lady weggefahren bist. Ich hab dich mit der Kleinen wegfahren sehen, in ihrem Wagen. Wohin, das hab ich ja nicht gewusst, also konnte ich es ihnen auch nicht sagen.«

Ich bedankte mich, dass er es mir gesagt hatte, ging in mein Apartment und hörte die Nachrichten auf dem AB ab. Eine war von Zack: »Ich habe mich entschlossen, noch ein paar Tage zu bleiben, will sehen, ob Sam es schafft. Komm auf einen Drink vorbei. Wir können zusammen zu Abend essen, nur wir zwei.«

Dann waren da noch drei Beschwerden von Mietern. Zwei betrafen Klempnerarbeiten, bei der anderen ging es um Lärmbelästigung.

Die letzte Nachricht war keine Nachricht. Über eine volle Minute war nur Atmen zu hören, dann wurde aufgelegt. Ich zog die Schrotflinte unter dem Bett hervor und übte das Entsichern der Waffe, so oft, bis ich es blind konnte.