Achtzehn

Mando Ojara, der Barkeeper der Nachmittagsschicht – wie Güero der Nachfahre eines patricio – erkannte mich nicht. Er sah nur meine Kleidung, nicht mein Gesicht. Meine Hosen waren weit wie ein Sack, die zeltartigen Hosen eines Mannes von hundertdreißig Kilo. Zusammengeknotete Schnürsenkel, die ich aus den Schuhen der Toten gezogen hatte, mussten als Gürtel herhalten. Mein Hemd war zerrissen und blutverschmiert. Die Armeestiefel, die ich einem Toten ausgezogen hatte, waren mir zu klein. Um damit laufen zu können, hatte ich Löcher für meine Zehen in die Stiefelspitzen schneiden müssen.

»Ich bin’s, Mando«, sagte ich. Meine Stimme war heiser, mein Hals rau vom Wüstensand. »Seit Jahren machst du salzfreie Margaritas für mich.« Ich hatte einen Bart und mein vor Schmutz starrendes Haar hing mir über die Ohren. Ich roch nach Blut, Schweiß und Scheiße. Vielleicht auch nach Schießpulver; vielleicht auch nach Clara Howler.

Endlich war auch Mando der Ansicht, dass wir uns kannten. »¡Cielos! Walkinghorse! Was ist denn mit dir passiert, Mann?«, stieß er hervor. »Ich wollte deinen mugriento Hintern gerade hinauseskortieren.« Mando, ein guter Katholik, war in puncto Flüche oder Kraftausdrücke äußerst zurückhaltend. ¡Cielos! – Himmel!– war schon das Äußerste, was er sich gestattete in den Mund zu nehmen.

»Ich hab mich verirrt«, sagte ich und das war nicht mal gelogen. »Welchen Tag haben wir heute?«

»Welchen Tag wir heute haben?« Mando sah mich erstaunt an. »Heute ist Mittwoch, Mann.«

»Mittwoch? Ich hab gedacht, heute wär Montag.«

»Wohin hast du dich denn verirrt? Auf den Mond?«, fragte Mando. »Cielos, Mann. Nimm nächstes Mal ’nen Kompass mit.«

Mando war gedrungen, dunkel, ein Mann mit mächtiger Nase und den undurchdringlichen Mandelaugen eines Mayas. Das, was von seinem irischen Erbe noch übrig war, wurde von den prägnanteren Merkmalen seiner Erscheinung an den Rand gedrängt. Er beugte sich leicht in meine Richtung, mit bebenden Nasenflügeln. »Ai chihuahua, du musst dringend in die Wanne, Walkinghorse«, sagte er.

»Erst mal einen Drink, Mando, por favor.«

Er machte mir eine Margarita, eine recht üppige, und ich stürzte sie förmlich hinunter.

Im DMZ war so gut wie nichts los. Zwei Prostituierte, Transvestiten in paillettenbesetzten Kleidern, saßen an einem der Tische und steckten die Köpfe zusammen. Die eine hatte zitronengelbes Haar und einen Teint, aus dem jegliche Farbe gewichen war. Die andere war ein dunkler Typ, eine morena. In ihrem tiefschwarzen Haar schimmerten blaumetallicfarbene Strähnchen. Beide sahen sehr attraktiv aus und ihre Nervosität war völlig überflüssig. Ihr Auftritt war perfekt, aber das DMZ ihnen nicht vertraut, also schienen sie sich zu fragen, ob dies ein Ort sei, wo ihre Masche auch zog. No problema. Ein junger Typ, ein wahrer Kleiderschrank, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Unter seiner blonden Bürste glänzte rosafarbene Kopfhaut. Er trug ausgestellte Jeans, ein mit Perlmuttknöpfen zu schließendes Cowboyhemd in Rosé und nagelneue Stiefel aus Schlangenleder. Er war ideales Material für das Erstsemester-Footballteam jedweder Universität, aber er kam mit Sicherheit aus Fort Bliss und war Rekrut.

»Mach mir noch einen«, sagte ich zu Mando und kramte in meinen Taschen, doch ich hatte nur noch Pesos, deren Wert nahezu stündlich zu fallen schien. Ich klatschte sie auf den Tresen. »Schreib den Rest auf meinen Zettel, Mando. Ich hab meine Brieftasche verloren.«

Während meiner Abwesenheit hatte Güero ein neues Schild angebracht. Es hing am Spiegel, oberhalb der Bourbon-Flaschen:

Zu lange ohne Karte und Wasser unterwegs,

fordert die unversöhnliche Wüste ihren schrecklichen Tribut.

Das schien auf mich gemünzt zu sein – einer dieser Zufälle, die man nicht als unbedeutsam abhaken will. Ich hob meine zweite Margarita und prostete dem synchronistischen Grammatiklapsus zu.

Ich war zu lange in der unversöhnlichen Wüste unterwegs gewesen. Mein Gesicht im Barspiegel zeigte eine ungesunde, zinnoberrote Schattierung, eingebrannt durch ultraviolette Strahlen. Die vom Wind ausgetrocknete Haut um Augen und Mund war rissig, das Weiße in meinen Augen blutunterlaufen. Meine Augenlider waren geschwollen genau wie meine Lippen, die sofort anfingen zu bluten, wollte ich auch nur lächeln oder grinsen. Nicht dass ich einen Grund zum Grinsen gehabt hätte, schließlich sah ich aus wie eine sechzig Jahre alte Wüstenratte. Kein Wunder, dass Mando mich nicht erkannt hatte.

Cielos, ich erkannte mich nicht mal selbst.

Meine Klamotten hatte ich den von Fliegen umschwärmten Leichen abgenommen. Ein paarmal hatte ich in meinem Vorhaben innehalten müssen, um den Brechreiz zu unterdrücken. Der penetrante Geruch des Todes hatte sich in meiner Kehle festgesetzt und dafür gesorgt, dass sich mir der Magen umdrehte. So hatte ich mich einige Male von dem Ort des Geschehens entfernt, um frische Luft zu tanken. Die Toten hatten sich noch nicht im Stadium der Leichenstarre befunden und so war es relativ einfach gewesen, ihnen die Klamotten auszuziehen. Die Hosen stammten von dem schweigsamen Hünen, der mir das Essen gebracht hatte. Man hatte ihm in Kopf und Hals geschossen – seine Hosen waren feucht gewesen vom Urin. Er hatte sich im Sterben erleichtert und natürlich auch noch eingeschissen. Nachdem ich die Hosen ausgeschüttelt und die Innenseite nach außen gekehrt hatte, hatte ich versucht, das Ganze so gut wie möglich mit Sand zu reinigen. Im Bund waren mir die Hosen zu weit, aber die Länge stimmte. Das Hemd hatte jemandem gehört, der mit einem einzigen Schuss ins linke Auge getötet worden war. Am Kragen befanden sich einige Blutspritzer. Auf der linken Brusttasche war ein weiterer Fleck, der, in Form eines schiefen Sterns, an ein Ehrenabzeichen erinnerte. Man hatte dem Typ den Hinterkopf weggeschossen, doch auf wundersame Weise hatten Blut und Gehirnmasse die Rückseite seines Hemdes verschont. Die Stiefel waren so gut wie neu, aber eine Nummer zu klein. Ich hatte einem anderen Toten das Messer abgenommen und damit die Spitzen der Stiefel abgesäbelt, um Bewegungsfreiheit für die Zehen zu bekommen. Am Ende hatte ich die Taschen der Toten nach Geld durchwühlt und insgesamt fünfzig Pesos gefunden. Erneut hatte ich gegen den Brechreiz ankämpfen müssen, diesmal vergeblich.

Ich hatte meinen Marsch Richtung Norden auf einer Straße gestartet, die ich als Highway 45 identifiziert hatte, eine Maut-Straße. Mein Weg hatte mich durch das Städtchen Samalayuca geführt, vorbei an Männern, die auf der Schatten spendenden Veranda einer tienda gesessen, mich angestarrt und geschwiegen hatten. Zweifellos hatten sie die Schießerei gehört und wollten nichts damit zu tun haben, auch nicht mit Überlebenden. Ein Hund hatte gebellt, war aber auf Distanz geblieben, eingeschüchtert durch den beunruhigenden Geruch des Todes.

Nach ein paar Stunden hatte ich eine der neuen colonias am südlichen Stadtrand von Juárez erreicht. Ich war in einen rutera gestiegen, einen Bus, der die maquila-Arbeiter zur Arbeit befördert und wieder nach Hause bringt. Die maquilas – amerikanische High-Tech-Fabriken, die früher Teil der amerikanischen Industrielandschaft waren – geben Nordmexiko den Anstrich einer blühenden Landschaft, doch die Arbeiter in diesem rutera verdienen fünf Dollar am Tag und sind nicht sozialversichert. Die maquilas sorgen für ein gleichbleibend hohes Armutsniveau in Mexiko. Sie sind dafür verantwortlich, dass die Anzahl der Armen sogar wächst, weil Arbeitsuchende aus dem Landesinnern und aus Mittelamerika angelockt werden, die – zumeist vergeblich – hoffen, in den namhaften Fabriken im Norden Beschäftigung zu finden. An den Randlagen der Stadt schießen colonias aus dem Boden – colonias aus Spanplatten-Behausungen, ohne Strom, Wasser, Kanalisation, ohne medizinische Versorgung, Schulen und Geld. Jeden Winter sterben viele Bewohner an ihren Kohlendioxid spuckenden Kerosinöfen. Polio und Tuberkulose sind in diesen Gegenden auf dem Vormarsch.

Mit dem rutera war ich bis auf eine Meile an eine Brücke herangefahren, die den Rio überquert. Die Kontrolleure an der Grenze hatten mich mit intensiven, neugierigen Blicken bedacht, die üblichen Fragen gestellt und mich dann widerwillig das reichste Land der Erde betreten lassen. Dann hatte ich nur noch die Mesa vor mir und konnte nach zwei Meilen das DMZ betreten.

Ich hatte gerade meinen Drink geleert und war im Begriff, bei Mando einen weiteren zu ordern, als der Knabe, der bei den Transvestiten saß, losbrüllte, als hätte man ihm einen Eispickel ins Auge getrieben. Zuvor hatte er der Zitronenblonden die Zunge abgelutscht und ihre Silikon-chichis befingert, während die morena seinen glühenden Schritt bearbeitet hatte. Der Junge, der aussah, als käme er aus dem nördlichen mittleren Westen, war völlig hin und weg vom Leben an der Grenze. Vermutlich hatte er sich bereits gefragt, wie viel Glück ein Mann auf einmal vertragen könne.

Doch als er bei der Blonden richtig hatte hinlangen wollen, war er unter dem paillettenbesetzten Kleid auf Hartholz gestoßen. Er hatte zwischen den beiden gesessen, Bier vom Fass getrunken und sie mit Geschichten aus seinen wilden, sorglosen Teenagertagen ergötzt. Nachdem er die logische Schlussfolgerung aus der Überraschung in seiner Hand gezogen hatte, wich alle Farbe aus seinem Gesicht und die Geschichten fanden in seinem sperrangelweit geöffneten Mund ein jähes Ende. Er sprang auf wie von der Tarantel gestochen, kippte den Tisch um und stieß die Blonde weg, als hätte sie sich in ein tollwütiges Ungeheuer verwandelt. Er jaulte auf, angewidert und erschrocken zugleich, dann ging er mit Fausthieben und Tritten auf die beiden los. Mando sprang über den Tresen und brachte den Knaben mit einem gekonnt ausgeführten Schlag seines Totschlägers auf den Boden der Tatsachen zurück.

Ich half Mando, den Jungen in die Herrentoilette zu tragen. Wir setzten ihn an die Wand gegenüber den Urinalen. Den großen, rosafarbenen Schädel gegen die feuchten Fliesen gelehnt, verharrte er dort für etwa zehn Minuten, um anschließend auf allen Vieren aus dem Männerklo gekrabbelt zu kommen. Er schaffte es, sich aufzurichten, und wankte aus der Bar. Die Transvestiten hatte es nicht sonderlich schlimm erwischt. Sie hatten es mit wesentlich härteren Zeitgenossen zu tun und wussten, wie man Schlägen und Tritten ausweicht. Der Junge konnte von Glück sagen, dass keine von beiden ihn mit einem Messer aufgeschlitzt hatte. Sie frischten ihr Makeup auf, richteten ihre Klamotten, dankten Mando in tadellosem Spanisch und stolzierten in königlicher Haltung hinaus.

»Diese Gringo Kids«, meinte Mando, »benehmen sich, als bestünden sie nur aus ihrem Schwanz.«

Ich trank aus, verabschiedete mich von Mando und machte mich auf den Weg ins Baron Arms in der Hoffnung, dass mein Apartment nicht von Dieben ausgeräumt worden war. Immerhin war ich fast eine Woche weg gewesen. Ich fühlte mich ganz gut, wenn auch mit einem Male etwas wacklig. Ich atmete nicht nur die Gerüche, ich atmete selbst den Anblick der Mesa tief ein, ich atmete meine Freiheit ein. Ich hatte die Mesa zur Hälfte überquert, als die Ampel umschaltete und ich auf der Mittelinsel stehen bleiben musste. Ein Wagen fuhr langsamer und der Fahrer gab mir einen Dollar. Der Wagen dahinter fuhr ebenfalls langsamer, nur sah mich sein Fahrer mit vorwurfsvoller Miene an. »Such dir einen Job!«, schrie er. »Du bist gesund wie ein Ochse. Geh arbeiten!«

Der nächste Wagen musste bei Rot anhalten. Der Fahrer ignorierte mich, aber die Kinder auf dem Rücksitz warfen mir eine Tüte Gummibärchen zu. »Gracias, niños«, sagte ich. »De nada«, erwiderten sie wie aus einem Munde.

Ich wartete mehrere Ampelphasen ab, bevor ich meinen Posten wieder verließ. Innerhalb von zehn Minuten hatte ich es auf sechs Dollar und eine Tüte Gummibärchen gebracht, ohne irgendjemanden um irgendetwas gebeten zu haben. Die Liebenswürdigkeit von Fremden – nichts, worauf man sich verlassen kann, aber immer etwas, was einen in Erstaunen versetzt.

Ich kam am Kräuterladen Die Heilende Hexe vorbei. Ein Mann, der ähnlich heruntergekommen aussah wie ich, kauerte neben dem Eingang. Kein Dummkopf, denn er wusste, dass Leute, die sich Naturheilkräuter leisten können, Geld haben. Er hatte eine Krücke dabei und ein Schild mit der Aufschrift:

Kriegsinvalide bittet um Hilfe

Gott schütze Sie und die Ihren

Ich beschloss, ihm das Geld zu geben, schließlich hatte ich quasi in seinem Revier gewildert, aber eine Frau war vor mir bei ihm. Sie war in einem nagelneuen Camry vorgefahren, war jung und sah gut aus. Bevor ihm überhaupt klar wurde, dass er ihr Adressat war, ergoss sich auch schon ein Schwall von Worten über ihn. Er legte den Kopf in den Nacken und blinzelte hoch zu ihr. Ihr Gesicht strahlte wie konzentriertes Sonnenlicht, konzentriert genug, um Schaben und Käfer auf der Stelle einzuäschern. Der Bettler zuckte zurück, er fing an zu schwitzen. Sein Lächeln – ein Lächeln aus braunen Stümpfen und Zahnlücken – konnte sie nicht entwaffnen. Sie trug enge schwarze Hosen, eine weiße Seidenbluse, schwarze Wildlederstiefel mit hohen Absätzen und sie hielt ihm einen Vortrag über vorbildliche Christen, die Bedeutung von Anstand und die Früchte harter Arbeit. Dann beschimpfte sie ihn, Gottes Namen für die Aufrechterhaltung seines verkommenen Daseins zu missbrauchen. Der Bettler nahm eine defensive Körperhaltung ein, verschränkte die Arme vor der Brust. Er bewegte den zotteligen Kopf hin und her und hoffte auf Rettung, doch die Frau war gnadenlos, voller Leidenschaft. Ohne Furcht setzte sie sich vor ihm auf ihr exklusives Hinterteil und belehrte ihn darüber, was Jesus von einem amerikanischen Mann erwarte. Am Ende gab der Bettler klein bei, ließ den Kopf auf die Brust sinken, als habe er verstanden, dass Unterwürfigkeit das einzige Rezept war, sie loszuwerden. Die Frau nahm seine Hände und begann zu beten. Sie forderte ihn auf mitzubeten. »Jesus, dieser unreine Mann tritt vor dich hin … « Im Anschluss an diesen Prolog ging es noch eine volle Minute weiter.

Sie beteten gemeinsam, wobei der Bettler nur unverständlich vor sich hin murmelte, während sich die Stimme der Frau furios, einer Fanfare gleich Richtung Dachtraufe des Ladens erhob. Dann stand die Frau auf und marschierte in den Laden, jedes Klacken ihrer Absätze auf dem Beton ein Ausruf.

»Bist du okay?«, fragte ich den Penner.

»Nicht mal lausige fünf Cent hatte die Schlampe übrig«, sagte er. »Trägt Nuttenstiefel, aber betet zu Jesus, das muss man sich mal vorstellen.«

»Das sind die Zeichen der Zeit, Amigo«, sagte ich.

Ich gab ihm das Geld, das ich gesammelt hatte. »Das gehört dir«, sagte ich. »Hab’s in deinem Revier gemacht.«

»Hey, danke, Mann.« Er holte eine Flasche Mad Dog aus einer seiner Tüten und bot mir einen Schluck an. Ich lehnte ab.

»Bist du sicher? Du siehst aus, als könntest du was vertragen, Bruder. Ich hab auch noch ’nen Joint, wenn du willst.«

»Nein. Mir geht’s gut.« Es war notwendig für mich, diese Worte auszusprechen, um mir bewusst zu werden, dass es eine Lüge war.

Ich fühlte mich schwach, mir war schlecht, und es schien, als sei ich nicht in der Lage, mich vom Geruch des Todes zu befreien.