Und zum Schluss
Die große Bibliothek mit den reichverzierten Holzvertäfelungen in der Villa an der Riverside Drive 891 wurde nur von einem Kaminfeuer und Kerzenlicht erhellt. Es war ein Abend Ende Februar; auf die Autos, die auf dem Riverside und dem West Highway vorbeifuhren, fiel leichter Eisregen, aber kein Verkehrslärm, kein Tick, Tick von Eis auf Fensterscheiben drang durch die verriegelten und verhängten Fenster. Die einzigen Geräusche waren das Knistern des Kaminfeuers, das Kratzen von Pendergasts Füllfederhalter auf cremefarbenem Büttenpapier und die leise, sporadische Unterhaltung, die Constance Greene und Tristram führten.
Die beiden saßen an einem Spieltisch, der vor den Kamin gestellt worden war, und Constance brachte Tristram bei, wie man Ombre spielte, ein Kartenspiel, das vor Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten aus der Mode gekommen war. Tristram starrte wie gebannt auf seine Karten, sein junges Gesicht nachdenklich verzogen. Constance hatte zunächst langsam damit begonnen, ihn mit dem Kartenspielen – mit Whist – vertraut zu machen. Aber schon jetzt machten sein Gedächtnis, seine Konzentrationsfähigkeit und sein logisches Denkvermögen erstaunliche Fortschritte. Nun war er in die Feinheiten von Spadilles, Entrada und Estuches versunken.
Pendergast saß an einem Schreibtisch in der hinteren Ecke der Bibliothek, mit dem Rücken zu einer Wand mit in Leder gebundenen Büchern. Von Zeit zu Zeit blickte er auf von seinem Brief, seine silbrigen Augen schweiften durch den Raum und blieben am Schluss stets an den beiden Personen hängen, die Karten spielten.
Auf einmal wurde die Stille im Zimmer durch das Klingeln von Pendergasts Mobiltelefon durchbrochen. Er zog es aus der Tasche und blickte auf die Nummer. »Ja?«
»Pendergast? Ich bin’s, Corrie.«
»Miss Swanson. Wie geht es Ihnen?«
»Gut. Ich war mit Arbeit überlastet, musste meine Seminararbeiten nachholen, deshalb rufe ich erst jetzt an. Ich muss Ihnen eine irre gute Geschichte erzählen … und …« Hier zögerte sie.
»Ist alles in Ordnung?«
»Na ja, wenn Sie damit meinen, dass ich keine Stechschritte höre, die sich von hinten an mich heranschleichen, dann ja. Aber hören Sie zu. Ich habe einen Fall gelöst, einen richtigen, waschechten Fall.«
»Ausgezeichnet. Ich möchte mich entschuldigen, dass ich Sie nicht stärker unterstützen konnte, als Sie sich im Dezember an mich gewandt haben – aber ich hatte großes Vertrauen in Ihre Fähigkeit, auf sich selbst achtzugeben. Vertrauen, wie es aussieht, das gerechtfertigt war. Und zufällig habe ich Ihnen ebenfalls eine recht interessante Geschichte zu erzählen.«
Eine Pause.
»Dann könnten Sie«, fuhr Corrie fort, »Ihr Angebot zum Mittagessen im Le Bernadin erneuern.«
»Wie nachlässig von mir, es nicht sofort vorzuschlagen. Wir sollten es bald tun – ich denke nämlich daran, einen längeren Urlaub zu nehmen.«
»Nennen Sie das Datum.«
Pendergast konsultierte einen kleinen Terminkalender, den er aus seiner Jackentasche zog. »Nächsten Donnerstag, ein Uhr.«
»Das wäre toll. Donnerstagnachmittag habe ich keine Seminare.« Noch ein Zögern. »Hey, Pendergast?«
»Ja?«
»Wäre es in Ordnung, wenn … wenn ich meinen Vater mitbringe? Er ist Teil der Geschichte.«
»Selbstverständlich. Ich freue mich darauf, Sie beide am kommenden Donnerstag zu sehen.«
Er legte Stift und Papier zur Seite und stand auf. Tristram war gegangen, und Constance saß allein am Tisch und mischte die Karten. Pendergast blickte zu ihr hinüber. »Wie kommt sein Spiel voran?«
»Recht gut. Besser, als ich erwartet habe, ehrlich gesagt. Wenn er weiter so schnell lernt, gehe ich vielleicht zu Sechsundsechzig oder Skat über.«
Pendergast schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich habe darüber nachgedacht, was du gesagt hast. Damals, als ich dich im Mount Mercy besucht und um Rat gefragt habe. Und du hattest natürlich recht. Ich musste nach Nova Godói gehen. Ich hatte keine andere Wahl. Und ich musste handeln – leider mit äußerster Gewalt. Ich habe Tristram gerettet, gewiss. Aber die andere Seite der Gleichung – der komplizierte und schwierigere Teil der Gleichung – ist noch immer nicht gelöst.«
Einen Moment lang antwortete Constance nicht. Schließlich sagte sie leise: »Es hat also keine Nachricht gegeben.«
»Keine. Ich habe einige, ähm, Aktivposten vor Ort, und er ist auf die Beobachtungsliste der DEA und der örtlichen Konsulatsbeamten gesetzt worden – diskret natürlich. Aber er scheint im Wald verschwunden zu sein.«
»Glaubst du, er könnte tot sein?«, fragte sie.
»Vielleicht«, antwortete Pendergast. »Seine Verletzungen waren schwer.«
Constance legte die Karten aus der Hand. »Ich habe nachgedacht und möchte dir mit meiner Frage nicht zu nahe treten, aber … glaubst du, er hätte es zu Ende geführt? Dich zu töten, meine ich.«
Einen Moment lang antwortete Pendergast nicht, sondern blickte ins Kaminfeuer. Dann sah er sie wieder an. »Diese Frage habe ich mir viele Male gestellt. Es gab Momente – zum Beispiel, als er im See auf mich geschossen hat –, da war ich sicher, dass er das wollte. Aber es gab auch so viele Male, in denen er die Gelegenheit nicht zu nutzen schien.«
Constance nahm die Karten wieder zur Hand und teilte sie für ein neues Spiel aus. »Seine zukünftigen Absichten nicht zu kennen, nicht zu wissen, ob er tot oder lebendig ist … ziemlich beunruhigend.«
»In der Tat.«
»Was ist mit dem Rest des Bundes?«, fragte Constance. »Stellen sie noch eine Bedrohung dar?«
Pendergast schüttelte den Kopf. »Nein. Ihre Anführer sind tot, ihre Festung zerstört, alle ihre jahrzehntelangen Forschungsergebnisse verbrannt und weg. Die Zwillinge selbst, ihre Raison d’être, haben sich fast alle von dem Projekt abgewandt. Nach den Berichten, die ich erhalten habe, haben viele bereits damit begonnen, sich in die brasilianische Gesellschaft zu integrieren. Natürlich zählten die allerletzten ›Versionen‹ der Zwillinge – diejenigen, die zu Alban und dem Betatest führten – zu den größten Erfolgen des Bundes, und wie ich höre, halten die brasilianischen Behörden einige von ihnen für allzu unverbesserlich, als dass sie rehabilitiert werden können. Aber ihre Anzahl ist gering, und es ist schlechterdings ausgeschlossen, dass der Bund nochmals eine kritische Masse erreichen kann, nicht einmal, wenn …« Und hier wurde seine Stimme leiser: »Wenn Alban wieder auftauchen würde.«
Es folgte ein kurzes Schweigen. Mit einem Nicken deutete Constance auf Tristrams leeren Stuhl. »Hast du dich schon entschlossen, was du mit ihm machen willst?«
»Ich habe da eine Idee.«
»Und die wäre?«
»Dass du vielleicht – zusätzlich dazu, dass du mein Mündel bist und, wie es scheint, mein Orakel – sein …«
Constance blickte zu ihm hoch, eine Augenbraue ganz leicht gehoben. »Sein was? Sein Babysitter?«
»Mehr als sein Babysitter. Weniger als sein Vormund. Eher seine ältere Schwester.«
»Ältere ist hier das entscheidende Wort. Hundertdreißig Jahre älter. Aloysius, findest du nicht, dass ich ein bisschen zu alt bin, um wieder damit anzufangen, mich wie eine Schwester zu verhalten?«
»Es handelt sich zugegebenermaßen um eine neuartige Idee. Könntest du sie denn wenigstens in Betracht ziehen?«
Constance schaute ihn einen langen Moment an. Dann kehrte ihr Blick zu Tristrams leerem Stuhl zurück. »Er hat tatsächlich etwas Rührendes. So sehr das Gegenteil von seinem Bruder, zumindest, wie du ihn mir geschildert hast. Er ist so jung und ungeduldig – und erstaunlich naiv, was die Welt angeht. So unschuldig.«
»So wie es jemand anders war, den wir früher einmal kannten.«
»Die Sache ist die: Ich spüre in ihm eine unglaubliche, beinahe grenzenlose Empathie, eine Tiefe des Mitgefühls, die ich seit meiner Zeit im Kloster nicht mehr erlebt habe.«
An diesem Punkt kam Tristram mit einem Glas Milch in der Hand in die Bibliothek zurück.
»Herr Proctor kommt«, sagte er zu ihnen. »Er bringt Ihnen – wie war noch einmal das Wort, das er gebraucht hat? – Erfrischungen.« Er wiederholte das Wort und nahm am Tisch Platz, als wollte er es schmecken.
Pendergast wandte sich zu dem Jungen. Einen Moment lang schaute er ihn einfach nur an, wie er da saß und mit offensichtlichem Genuss seine Milch trank. Seine Bedürfnisse waren so einfach, seine Dankbarkeit auch für die geringste Güte so grenzenlos. Er erhob sich von seinem Stuhl und ging zu seinem Sohn. Tristram stellte das Milchglas auf den Tisch und blickte zu ihm hoch.
Er kniete sich hin, damit er auf der Höhe des Jungen war, griff in seine Jacketttasche und zog einen goldenen Ring mit einem großen, makellosen Sternsaphir hervor. Er nahm Tristrams Hand und drückte den Ring hinein. Der Junge starrte darauf, drehte ihn in seinen Händen um, dann hielt er ihn sich näher an die Augen und beobachtete, wie sich der Stern auf der Oberfläche des Saphirs bewegte.
»Er hat deiner Mutter gehört, Tristram«, sagte er sanft. »Ich habe ihn ihr zu unserer Verlobung geschenkt. Wenn ich das Gefühl habe, dass du bereit bist – noch nicht, aber vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft –, erzähle ich dir alles über sie. Sie war eine höchst bemerkenswerte Frau. Wie alle von uns hatte sie ihre Fehler. Und sie hatte mehr als genug Geheimnisse. Aber ich habe sie sehr geliebt. So wie du war auch sie ein Opfer des Bundes. So wie du hatte sie einen Zwilling. Es war sehr schwierig für sie. Aber die Jahre, die wir zusammen verbracht haben, gehören zu den wundervollsten meines Lebens. Es sind insbesondere diese Erinnerungen, die ich mit dir teilen möchte. Vielleicht können sie dir helfen und dich in geringer Weise für die Erinnerungen entschädigen, derer man dich beraubt hat – all die Jahre.«
Tristram blickte vom Ring auf und schaute Pendergast ins Gesicht. »Ich würde sehr gern etwas über sie erfahren, Vater.«
Ein diskretes Hüsteln ertönte. Pendergast blickte auf und sah Proctor in der Tür stehen, ein Silbertablett auf einer erhobenen Hand, zwei Gläser Sherry darauf balancierend. Als sich Pendergast erhob, trat der Chauffeur einen Schritt vor und bot das eine Glas dem FBI-Agenten und das andere Constance an.
»Vielen Dank, Proctor«, sagte Pendergast. »Sehr freundlich.«
»Gern geschehen, Sir«, kam die gemessene Antwort. »Mrs. Trask hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass das Abendessen um acht Uhr aufgetragen wird.«
Pendergast neigte den Kopf.
Als er aus der Bibliothek in die große Rotunde ging, die als Empfangsbereich der Villa diente, blieb Proctor kurz stehen, um über die Schulter zu schauen. Pendergast war zu seinem Schreibtisch in der hinteren Ecke zurückgekehrt und starrte recht missmutig ins Kaminfeuer. Constance mischte ein Kartenspiel und redete leise mit Tristram, der ihr gegenübersaß und aufmerksam zuhörte.
Als Constance ungefähr drei Wochen zuvor aus dem Mount Mercy entlassen worden war, hatte sie sich gegenüber dem jungen Mann reserviert und distanziert benommen. Jetzt hatte sie sich, wie Proctor auffiel, mit ihm angefreundet – zumindest ein wenig. Das Kaminfeuer und das Kerzenlicht warfen einen milden Schein auf die Reihen alter Bücher, die erlesenen Möbelstücke und die drei Personen im Zimmer. Es herrschte eine Atmosphäre … wenn nicht von Frieden, so doch von so etwas wie Gelassenheit im Raum. So etwas wie Ruhe und Gefasstheit. Normalerweise neigte Proctor nicht zu solchen Betrachtungen, aber der Anblick kam ihm doch fast so vor wie ein Familienbild.
Wie ein Bild der Addams Family, korrigierte er sich, während er die Bibliothek mit leisem Lächeln auf den Lippen verließ.
Pendergast schaute zu, wie sein Chauffeur hinausging. Er wandte sich wieder dem Brief zu und nahm den Füllfederhalter zur Hand. Vielleicht noch ein, zwei Minuten lang kratzte er über das Papier. Dann legte er ihn auf den grünen Filzstoff des Schreibtischs und nahm den Brief zur Hand, um ihn durchzulesen.
Meine liebe Viola,
ich schreibe Dir aus mehreren Gründen. Zunächst, um mich für den Empfang zu entschuldigen, den ich Dir bei unserem letzten Zusammentreffen bereitet habe. Du hast Dir meinetwegen große Mühe gegeben, und mein damaliges Verhalten Dir gegenüber war abscheulich. Ich will keine Entschuldigung vorbringen, außer Dir zu sagen – was Du ohne Zweifel wusstest –, dass ich nicht ich selbst war.
Außerdem möchte ich Dir danken, dass Du mir das Leben gerettet hast. Ich übertreibe nicht. Als Du vor fast zwei Monaten vor meiner Tür erschienen bist, stand ich am Abgrund, jene Tat zu begehen, die ich Dir zur damaligen Zeit so herzlos schilderte. Deine Gegenwart und Deine Worte verzögerten meine Tat lange genug, dass andere Entwicklungen mich fortführen konnten. In einfachen Worten: Du bist im Dakota im letzten Augenblick eingetroffen – und dafür werde ich Dir dauernd, unendlich und zutiefst dankbar sein.
Es ist meine Absicht, einen Urlaub anzutreten. Für wie lange oder wohin, weiß ich nicht. Wenn ich in Rom bin, werde ich mich sicherlich mit Dir in Verbindung setzen – als Freund. So muss es sein zwischen uns, von jetzt an, für immer.
Es gibt wenige Dinge, die mich auf dieser Erde halten, Viola, und noch weniger Menschen. Bitte wisse, dass Du einer dieser Menschen bist.
Mit großer Zuneigung
Aloysius
Pendergast legte den Brief aus der Hand, unterschrieb ihn, faltete ihn und steckte ihn in einen Briefumschlag. Dann schaute er zu den Kartenspielern, Constance und Tristram, die in ihrem Spiel versunken waren. Sein Blick schweifte zum prasselnden Kaminfeuer. Er starrte sehr lange hinein, reglos, den Sherry nicht anrührend, ja, so lange, dass er erst durch Proctors Rückkehr aus seinen Gedanken gerissen wurde, der ihnen mitteilte, dass das Abendessen aufgetragen sei. Sofort sprang Tristram auf und hüpfte hinter dem hinausgehenden Chauffeur her, offensichtlich hungrig – ein Junge, für den jede Mahlzeit etwas Neues war. Constance folgte in einem ehrwürdigeren Tempo. Als Letzter erhob sich Special Agent Pendergast, strich noch einmal mit den Fingerspitzen über den Briefumschlag, der auf dem Schreibtisch lag, und ging leise aus dem Zimmer, eine unscharfe Gestalt, die zunehmend undeutlicher wurde, als sie durch die geheimen und geisterhaft-schattigen Räume der Villa am Riverside Drive schritt.