63

Im brasilianischen Wald war es immer noch Nacht. Nebelschwaden waberten zwischen den dichtstehenden Bäumen und nachtblühenden Orchideen. Leise ging Pendergast geradewegs zur Stelle zurück, wo er Egon zurückgelassen hatte. Bald stieß er auf Spuren: gebrochene Äste, zerrissene Blätter, Stiefelabdrücke im Moosboden. Diesen Hinweisen folgend, ging er schnell weiter, bis er Egon hörte, der nach wie vor laut rufend durch die Gegend irrte. Pendergast machte einen weiten Bogen um ihn herum und näherte sich ihm aus der entgegengesetzten Richtung.

»Hier bin ich!«, rief er und schwenkte seine Taschenlampe. »Hier drüben!«

»Wo sind Sie gewesen?«, sagte Egon, kam drohend und misstrauisch auf ihn zu und leuchtete ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht.

»Verdammt, wo sind Sie gewesen?«, rief Pendergast ärgerlich. »Ich habe Ihnen genaue Verhaltensmaßregeln gegeben, und Sie haben sie verletzt! Ich bin stundenlang umhergeirrt – und habe die Gelegenheit verpasst, diesen Königin-Beatrix zu fangen. Am liebsten würde ich Sie den Behörden melden!«

Wie Pendergast erwartet hatte, war Egon – der in einer Kultur der Autorität und Unterordnung aufgewachsen war – auf der Stelle eingeschüchtert. »Tut mir leid«, stammelte er, »aber Sie sind so schnell gegangen und dann verschwunden –«

»Genug der Ausreden!«, rief Pendergast. »Eine Nacht ist verschwendet worden. Diesmal lasse ich Sie laufen, aber verlieren Sie mich nie wieder aus den Augen. Ich hätte von einem Jaguar gefressen oder einer Anakonda verschlungen werden können!« Er hielt inne, vor Wut schäumend. »Gehen wir zurück in die Stadt. Sie können mich zu meiner Unterkunft bringen. Ich brauche ein wenig Schlaf.«

Durchnässt und beschmutzt kamen sie in der Stadt an. Der Morgen zog über den Kraterrand herauf und warf ein Licht, das die Unterseite der Wolken berührte und korallenfarben erstrahlen ließ. Pünktlich erwachte die halbmondförmige Stadt zum Leben, erste Sonnenstrahlen fielen auf die Kopfsteinpflasterstraßen. Türen öffneten sich, Schornsteine rauchten, die Straßen füllten sich mit zielstrebigen Fußgängern. Die Insel in der Mitte des Sees blieb die gleiche: schwarz, grimmig, abweisend, das leise, ferne Geräusch scheppernder Maschinen ausstoßend.

Während sie durch die belebten Straßen gingen, fiel Pendergast erneut auf, diesmal mit grausigem Frösteln, dass einige der Gesichter, die er in dem unterirdischen Ghetto gesehen hatte, ihr Spiegelbild unter diesen gutaussehenden, geschäftigen Leuten hatten.

Egon führte ihn zu einem kleinen Fachwerkhaus neben dem Rathaus und klopfte an. Eine Frau in Schürze kam an die Tür; sie wischte sich gerade die Hände ab, aus dem Inneren drang der Geruch von frisch gebackenem Brot.

»Herzlich willkommen«, sagte sie.

Als sie eintraten, sahen sie zwei flachsblonde Jungen am Küchentisch sitzen, die Brot mit Marmelade und gekochte Eier aßen. Sie hielten inne und schauten Pendergast mit dem gleichen Erstaunen und der gleichen Neugier an wie die anderen Einwohner.

»Keiner spricht Englisch«, sagte Egon auf seine übliche knappe Art. Er ignorierte die Frau und ihre freundliche Begrüßung und ging an ihr vorbei zu einer schmalen Stiege. Er kletterte zwei Stockwerke hinauf in eine freundliche Dachgeschosswohnung mit Tüllgardinen, Schrägen und Mansardenfenstern mit Blick auf die Stadt.

»Ihr Zimmer«, sagte er. »Sie bleiben hier bis Sonnenuntergang. Dann gibt die Frau Ihnen Abendbrot. Ich warte unten. Sie verlassen nicht das Zimmer.«

»Ich soll bis Sonnenuntergang hier eingepfercht bleiben?«, rief Pendergast. »Aber ich brauche nur vier Stunden Schlaf. Ich möchte gern durch die Stadt schlendern, die Sehenswürdigkeiten besuchen.«

»Sie bleiben hier bis Sonnenuntergang«, wiederholte Egon aufsässig und machte die Tür zu. Pendergast hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.

Während Egons Schritte die Treppe hinunter verklangen, musterte Pendergast das altmodische Schloss mit leisem Lächeln. Dann drehte er sich zu seinem Rucksack mit den Sammelgläsern, packte die zahlreichen Exemplare aus, die er auf der Flussfahrt und in der Nacht im Wald gesammelt hatte, legte die Schmetterlinge mit der Flachzange auf Spreizbretter und befestigte die Tiere mit Heftstreifen. Anschließend legte er sich vollständig angekleidet auf das gemachte Bett und schlief sofort ein.


Eine Stunde später schrak er plötzlich auf, weil es an der Tür klopfte.

»Ja?«, sagte er auf Englisch.

Auf der anderen Seite der Tür ertönte die nervöse Stimme der Hausfrau. »Herr Fawcett, hier sind einige Herren, die Sie sprechen möchten.«

Pendergast stand auf und hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Die Tür ging auf, und da standen ein halbes Dutzend Männer in grauer Uniform, alle bewaffnet, die Waffen auf ihn gerichtet. In einer gut koordinierten Aktion, angeführt von Scheermann, drangen sie gewandt und schnell ins Zimmer ein und umstellten Pendergast. Die Operation wurde mit tadelloser Effizienz durchgeführt, so dass er weder reagieren noch fliehen konnte.

Pendergast kniff die Augen zusammen und machte den Mund auf, als wollte er etwas sagen.

»Keine Bewegung«, sagte Scheermann unnötigerweise. »Hände weg von den Seiten.«

Wortlos stand Pendergast da und streckte die Hände aus. Erst wurde er ausgezogen, dann in ein gestreiftes Baumwollhemd und grobe Pantoffeln gesteckt, ähnlich denjenigen, die er in den unterirdischen Baracken gesehen hatte. Die Wachen führten ihn die Treppe hinunter und stießen ihn auf die Straße, wobei sie ihre Waffen die ganze Zeit auf ihn gerichtet hielten, dann wurde er hinunter zum Hafen abgeführt. Seltsamerweise schenkten die Einwohner ihm in seiner neuen Gefängniskluft viel weniger Beachtung als zu dem Zeitpunkt, als er Zivilkleidung trug. Ohne Zweifel ein Anblick, den sie kannten.

Pendergast wurde in den Bug einer kleinen Barkasse gesetzt, die Wachen bildeten einen Halbkreis um ihn. Unter lautem Getöse ihrer Dampfmaschine glitt die Barkasse auf den See hinaus und steuerte, schäumendes Kielwasser hinter sich herziehend, auf die düstere Festung zu.

Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
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