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Aloysius Pendergast brachte den Rolls an der Ecke Bushwick Avenue und Meserole Street in Brooklyn zum Stehen. Hier hatte laut den Unterlagen des Taxiunternehmens das Taxi den flüchtigen Jungen aufgelesen. Es handelte sich um ein altes, weitgehend verlassenes Industrieviertel, das gerade erst den Zustrom kreativer Pioniere erlebte. Aber es waren immer noch wüste Graffiti, mit Brettern vernagelte Gebäude und die leeren Hüllen ausgebrannter Fahrzeuge zu sehen. Das Straßenbild wurde beherrscht von einer Mischung aus Obdachlosen, Hipstern und zweifelhaft aussehenden jungen Männern.
Pendergast fiel auf in seinem schwarzen Anzug, als er aus dem Silver Shadow ausstieg und die Tür hinter sich zuschloss. Die Hände in den Hosentaschen, schlenderte er die Meserole Street entlang. Es war Nachmittag, eine helle, aber nur wenig Wärme spendende Sonne schien auf den Bürgersteig. Mehrere Blocks vor ihm erhob sich ein alter Brauerei-Komplex aus dem 19. Jahrhundert, der fast viertausend Quadratmeter umfasste. Darüber erhob sich ein riesiger Schornstein für den Hopfen-Trockenofen, der Name VAN DAM war immer noch sichtbar, auch das Datum der Firmengründung: 1858.
Eine Brauerei. Genau einen solchen Ort hatte Tristram unwissentlich beschrieben: der lange unterirdische Tunnel, in dem die Fässer gelagert wurden, der riesige Backstein-Ofen, in dem der Hopfen getrocknet wurde. Keine Frage, dies war der Ort seiner Einkerkerung gewesen, und der Ort, den seine Kidnapper – Alban und zweifellos auch seine Nazi-Aufpasser – als Operationsbasis genutzt hatten, für welche Vorhaben und Pläne auch immer.
Pendergast näherte sich und nahm das Gebäude unter die Lupe, eine selbst in dieser dunklen Ecke von Brooklyn erstklassige Immobilie, die entsprechend mit Zinkblech und Sperrholz verrammelt war. Zwei uralte, massive Industrietore aus Metall versperrten, was einst der Haupteingang gewesen war. Die Tore waren verriegelt worden. Die Fußgängerpforte, die in eins von ihnen eingelassen war, war nicht nur mit Kette und Vorhängeschloss gesichert, sondern zusätzlich mit zwei Bewehrungsstahlstreben zusammengeschweißt.
Pendergast ging weiter und untersuchte einige der kleineren Nebeneingänge in der bröckelnden Backsteinfassade entlang der Straße, von denen alle mehr oder weniger undurchdringlich waren. Als er an einem Tor stehen blieb und das eingerostete Schloss inspizierte, ertönte hinter ihm eine Stimme.
»Haste mal ’nen Dollar, Kumpel?«
Pendergast wandte sich um und erblickte einen spindeldürren Jugendlichen, unzweifelhaft ein Heroinsüchtiger, der ihn mit hohlen, hungrigen Augen anstarrte.
»Das habe ich in der Tat.« Pendergast holte einen Zwanzigdollarschein aus seinem Anzug hervor. Ein Funkeln trat in die toten Augen des Mannes, der mit zitternden Fingern danach griff.
»Ich möchte in dieses Gebäude einbrechen«, sagte Pendergast und zog den Geldschein außer Reichweite. »Wie geht das?«
Der Mann glotzte ihn mit offenem Mund an. »Bist du ein Dieb?«
»Versicherungsgutachter.«
Ein Zögern. Der Mann versuchte zu überlegen. »Da kommst du nicht rein, soviel ich weiß.«
»Ja, aber wenn ich’s versuchen würde, wie müsste ich das anstellen?«
Wieder ein angestrengter Versuch, nachzudenken. »Ich würde nach hinten gehen, da, wo die Eisenbahngleise sind. Über den Zaun steigen.«
Noch einmal hielt Pendergast dem Mann den Geldschein hin, der ihn sich schnappte und dann mit schnellem Humpeln die Straße hinunter verschwand. »Lass dich nicht erwischen«, rief er über die Schulter.
Pendergast ging bis zum Ende des Blocks und folgte dem Gebäudekomplex um die Ecke. Dort endete er in einem aufgelassenen Bahnbetriebswerk, das voll war mit Stapeln von rostigen Containern und alten Maschinen und umgeben von einem Maschendrahtzaun.
In einer einzigen, fledermausartigen Bewegung packte Pendergast den Zaun, sprang hinüber und ließ sich auf der anderen Seite herunterfallen. Er blieb kurz stehen, um seinen Anzug zu richten. Dann folgte er zwischen den Containern und brusthohem Unkraut zwei Eisenbahngleisen auf der Rückseite der Brauerei, bis sie in dem Komplex hinter einem weiteren Industrietor aus Metall verschwanden. Im Näherkommen sah er, dass das Unkraut stellenweise heruntergetreten oder in jüngerer Zeit auf andere Weise von Menschen und Gegenständen durcheinandergebracht worden war. In dem weichen Boden, der von den Gleisen wegführte, waren Fußspuren zu erkennen.
Er folgte diesen Spuren über den Betriebshof, fort von den Gleisen und hin zu einer kleinen Tür in der mächtigen Backsteinfassade. Als er vor der Tür ankam, stellte er fest, dass sie ebenso alt und massiv war wie die andere, aber nicht verschweißt und mit frisch geölten Angeln und einem neuen Messingschloss eines Modells, das er nicht kannte.
Das Schloss erforderte den vollständigen Einsatz seiner Werkzeuge und Fähigkeiten, und die Arbeit verursachte unglücklicherweise nicht wenig Lärm, da mehrere Stifte mit roher Gewalt abgesägt werden mussten.
Schließlich gab das Schloss nach, aber Pendergast öffnete die Tür nicht gleich. Fast zehn Minuten lang wartete er mit gezogenem 45er. Dann aber drückte er sich flach gegen die Metalltür und stieß sie mit dem Fuß auf. Zunächst schwang sie lautlos auf, dann kam sie unter lautem Knarzen zum Stehen.
Stille.
Weitere fünf Minuten verstrichen. In gebückter Haltung trat Pendergast ein, warf sich auf den Boden, rollte sich ab und ging hinter einer dicken Kniestockmauer aus Backstein in Deckung.
Wieder Stille. Niemand hatte Alarm gerufen; niemand hatte das Feuer eröffnet.
Er wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er stand in einem riesigen Raum, der hier und da durch Löcher und Risse im Dach erhellt wurde, die bleistiftdünne Strahlen Sonnenlicht hineinließen. Staubpartikel schwebten in langsamen Rhythmen durchs Licht. Die Luft roch leicht süßlich und erdig.
Das war eindeutig der Lager- und Laderaum der Brauerei, denn die Gleise verliefen hier hindurch. Längsseits waren Laderampen und Kräne aufgereiht. Dort, wo die Gleise endeten, stand ein alter Eisenbahnwaggon, die Räder waren aus den Gleisen gesprungen, das Dach verrostet und teilweise eingefallen.
Zwischen ihm und dem Waggon lag eine rund zehn Meter lange offene Fläche. Blitzartig rannte Pendergast los und spurtete durch den Raum, dann ging er hinter dem Waggon in Deckung. Von seinem neuen Beobachtungsposten aus konnte er die Tür erkennen, durch die er gerade gekommen war, sowie eine weitere große Bogentür am anderen Ende der offenen Fläche. Über den staubigen Boden verstreut lagen Trümmerteile. Im Staub waren frische Fußabdrücke zu sehen.
Er schlich am Eisenbahnwaggon entlang und lief in gebückter Haltung über eine weitere offene Fläche, drückte sich flach hinter einen Pfeiler, dann noch einen. Im nächsten Augenblick huschte er auf die Bogentür zu. Sie war geschlossen, aber nicht abgesperrt.
Er griff in die Tasche, schaltete eine kleine LED-Taschenlampe ein und hielt sie gegen seine 45er, dann wirbelte er herum und stürmte mit gehobener Waffe durch die Tür und über die offene Fläche.
Es handelte sich aber nicht um einen Raum, sondern um den langen, kühlen Tunnel, der früher offenbar zur Lagerung von Bier genutzt worden war, was sich an mehreren Stapeln von verrotteten Fässern und unzähligen alten, von Schimmelbefall aufgeplatzten Bierflaschen ablesen ließ.
Pendergasts Verwunderung nahm zu. Eigentlich müssten sie hier sein und auf ihn warten. Sie müssten erraten haben, dass er kommen würde. Und doch konnte er keinerlei Anzeichen von ihnen sehen.
Kurz darauf gelangte er zum anderen Ende des Tunnels und einen zweiten Bogendurchgang. Dahinter befand sich der riesige offene Raum mit dem großen Hopfen-Trockenofen, der eine Ecke ausfüllte.
Im Licht der Taschenlampe waren jetzt auf dem gesamten Boden Fußabdrücke zu sehen. Sie konzentrierten sich um die massive, vernietete Eisentür des Trockenofens, die einen Spaltbreit offen stand. Darüber verlief ein Metallsteg an den Mauern entlang, unterhalb der Gewölbedecke.
Pendergast schlich an der Wand entlang und gelangte zu einer Stelle, wo er zum Steg hinaufblicken konnte. Inzwischen hatten sich seine Augen der Dunkelheit vollständig angepasst, so dass er erkennen konnte, dass der Steg leer war.
Er lief weiter die Mauer entlang in Richtung der großen Tür des Trockenofens. Mit gezogener Waffe näherte er sich ihr von der anderen Seite, dann sprang er an der Tür vorbei, gelangte auf die andere Seite und zog sie auf, während er sie gleichzeitig als Schutzschild gegen möglichen Beschuss nutzte.
Aber da war nichts außer dem lauten Quietschen von rostigem Eisen, und als er mit der Taschenlampe im Inneren des Hopfen-Trockenofens umherleuchtete, war niemand da.
Die Wände waren von Ruß geschwärzt, der Boden mit Essensresten übersät. In einer Ecke stand ein Eimer. Fesseln waren in die Wände getrieben worden, auf dem versengten Ziegelboden darunter waren ein paar kleine Blutflecke zu erkennen. In einer Ecke lag eine zerwühlte schmutzige Decke ohne Matratze. In einer anderen Ecke lag altes blutiges Verbandszeug. Dies war offenkundig Tristrams vorübergehendes Gefängnis gewesen.
Mit penibler Sorgfalt durchstöberte Pendergast den Müll und steckte dabei hin und wieder etwas in ein Teströhrchen oder einen verschließbaren kleinen Beutel. Aber er fand nichts Interessantes.
Zurück im großen Raum, begann er das Areal gründlich zu erforschen. In einer Nische fand er den Ort, wo Alban vermutlich gehaust hatte: eine Pritsche, ein leerer Überseekoffer, ein sauberer Eimer. Er durchsuchte das Areal, aber es war sorgfältig gereinigt worden.
Sie hatten gewusst, dass er kommen würde – und hatten das Versteck verlassen.
In einer anderen Nische stand ein Tisch aus unbearbeitetem Sperrholz, auf dem eine elektrische Herdplatte, eine Zehn-Dollar-Kaffeemaschine und ein Becher standen. Pendergast leuchtete mit der Taschenlampe auf den Boden und folgte dem Netz von Fußabdrücken in Staub und Schmutz hierhin und dorthin, um weitere Areale zu suchen, die möglicherweise genutzt worden waren. Als das nichts ergab, stieg er auf den wackligen Metallstufen zum Laufsteg hinauf, ging darauf entlang und suchte dabei nach verborgenen Räumen. Nichts.
Noch einmal durchsuchte er Albans Nische. Als Nächstes sah er sich den Tisch genauer an. Die unbearbeitete, nicht versiegelte Oberfläche war mit Kaffeeflecken und -ringen übersät. Er hielt die Taschenlampe an einen Tischrand und begann, aus unterschiedlichen Winkeln auf die Oberfläche zu leuchten. Beim vierten Versuch erhellte der Lichtstrahl irgendwelche schwachen Schriftspuren auf der weichen Sperrholzoberfläche. Dabei fiel ihm der Abdruck von einem Wort auf, das zweimal unterstrichen war. Pendergast legte die Taschenlampe auf den Tisch, zog ein Blatt Papier und einen Bleistift aus der Anzugjacke, legte das Papier auf die Schriftspuren und rieb ganz leicht mit der Seite des Bleistifts darüber. Langsam erschienen da und dort Bruchstücke von Buchstaben. Auf einem gesonderten Blatt Papier notierte er sich die Buchstaben, wobei er diejenigen ausließ, die zu schwach ausgeprägt waren, als dass er sie entziffern konnte. Er versuchte, in mehreren Richtungen zu reiben, wobei er jedes Mal einen etwas anderen Blick auf die Buchstaben bekam, bis er fünf von den acht lesen konnte.
BE _ _ _ EST
Er untersuchte den Abrieb mit einer Lupe, untersuchte den Tisch selbst und konnte schließlich einen weiteren Buchstaben hinzufügen.
BE _ A _ EST
Lange schaute er auf das Blatt Papier. Und dann, mit einer raschen Bewegung des Bleistifts, vervollständigte er das Wort.
BETATEST