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Vincent D’Agosta balancierte das kleine Metalltablett mit den Getränken auf der einen Hand, öffnete die Schiebetür und betrat den kleinen Balkon der Wohnung. Dieser bot gerade ausreichend Platz für zwei Stühle und ein Tischchen. Auf einem der Stühle saß Captain Laura Hayward. Das eine hübsche Bein über das andere geschlagen, las sie gerade den Bericht der Gerichtsmedizin, den D’Agosta mit nach Hause gebracht hatte. Von der First Avenue drang der Verkehrslärm herauf, und obwohl es für den letzten Tag im November noch recht warm war, lag doch eine spürbare Kühle in der Luft: Wahrscheinlich würden sie heute zum letzten Mal auf dem Balkon sitzen können – bis zum nächsten Frühjahr.
Er stellte das Tablett mit den Getränken auf das Tischchen. Laura schaute ungerührt von den gruseligen Fotos auf. »Mmm, die sehen ja gut aus. Was ist denn drin?«
D’Agosta reichte ihr eines der Gläser. »Probier mal.«
Laura trank einen kleinen Schluck, dann nahm sie einen zweiten, kleineren Schluck. »Vinnie, was ist das?«
»Ein italienischer Spritz«, sagte er und setzte sich. »Eis, Prosecco, ein Schuss Soda und Aperol. Garniert mit einer Scheibe Blutorange, von einer von denen, die ich auf dem Nachhauseweg im Greenwich Produce in der Grand Central gekauft habe.«
Sie trank noch einen Schluck, dann stellte sie das Glas ab. »Hm …« Sie zögerte. »Ich wünschte, ich könnte sagen, dass es mir schmeckt.«
»Wirklich … es schmeckt dir nicht?«
»Es schmeckt nach Bittermandeln.« Sie lachte. »Ich komme mir vor wie Sokrates. Entschuldige. Du hast dir so viel Mühe gemacht.« Sie ergriff seine Hand und drückte sie kurz.
»Es ist ein beliebtes Getränk.«
Sie nahm das Glas erneut zur Hand, hielt es auf Armeslänge von sich und betrachtete die durchscheinende, orangefarbene Flüssigkeit. »Es erinnert mich an Campari. Kennst du das?«
»Machst du Witze? Meine Eltern haben dauernd Campari getrunken, damals, als sie in Queens wohnten und hofften, nach Manhattan umziehen zu können.«
»Trotzdem danke, Vinnie-Liebling, aber ich nehme das Übliche, wenn’s dir nichts ausmacht.«
»Nein, natürlich nicht.« Er trank selbst einen Schluck und entschloss sich, ebenfalls das Übliche zu nehmen. Er trat durch die offene Balkontür und ging in die Küche, stellte die Gläser in die Spüle und holte zwei neue Drinks: für sich ein kühles Michelob, für sie ein Glas mineralischen, aber nicht allzu teuren Pouilly-Fumé, der immer im Kühlschrank stand. Er trug beides hinaus auf den Balkon und setzte sich wieder.
Mehrere Minuten lang saßen sie schweigend da, nahmen den Herzschlag von New York City auf und genossen die Gegenwart des anderen. D’Agosta blickte Laura verstohlen an. Seit ungefähr zwei Wochen plante er diesen Abend nun schon bis ins kleinste Detail: die Mahlzeit, das Dessert, die Getränke – und den Antrag. Jetzt, da er gesund war, jetzt, da im Job wieder alles gut lief und seine Scheidung nur noch eine unangenehme Erinnerung war, war er endlich so weit, um Lauras Hand anzuhalten. Und er war ziemlich sicher, dass sie ja sagen würde.
Dann aber war alles irgendwie aus den Fugen geraten. Dieser bizarre Mord, der ihn mit Sicherheit völlig in Beschlag nehmen würde. Und vor allem die furchtbaren Neuigkeiten von Pendergast.
Er hatte die Planungen für das Abendessen fortgesetzt, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für den Heiratsantrag.
Laura warf erneut einen Blick auf den Bericht, blätterte darin. »Wie ist denn die große Besprechung heute Nachmittag gelaufen?«
»Gut. Singleton schien sie zu gefallen.«
»Und sind die DNA-Ergebnisse schon zurück?«
»Nein. Das ist das langsamste Labor in der Stadt, verdammt noch mal.«
»Interessant, dass der Mörder nicht versucht hat, sich zu tarnen oder den Überwachungskameras aus dem Weg zu gehen. Es kommt mir fast so vor, als wollte er dich herausfordern, ihn zu finden.«
D’Agosta trank einen Schluck von seinem Bier.
Laura fixierte ihn. »Was ist denn, Vinnie?«
Er seufzte. »Es geht um Pendergast. Heute Nachmittag habe ich ihn endlich telefonisch erreicht. Er hat mir gesagt, dass seine Frau tot ist.«
Laura stellte ihr Glas ab und sah ihn schockiert an. »Tot? Wie ist das passiert?«
»Die Leute, die sie entführt hatten. Sie haben sie erschossen, in Mexiko – anscheinend, um Pendergast abzulenken, damit sie selber fliehen konnten.«
»O mein Gott …« Laura seufzte und schüttelte den Kopf.
»Es ist einfach eine furchtbare Tragödie. Und ich habe ihn noch nie so erlebt. Er hörte sich an wie …« D’Agosta hielt inne. »Ich weiß nicht. Als würde es ihn nicht interessieren. Als wäre er tot. Und dann hat er einfach aufgelegt.«
Laura nickte mitfühlend.
»Ich mache mir Sorgen um seinen Geisteszustand. Ich meine, sie auf diese Weise zu verlieren …« Er holte tief Luft und blickte in sein Glas Bier. »Ich mache mich auf eine Reaktion gefasst.«
»Was für eine Reaktion?«
»Keine Ahnung. Aber wenn man die Vergangenheit betrachtet, vielleicht ein Ausbruch von Gewalt. Das Verhalten dieses Mannes ist so unvorhersehbar. Alles kann passieren. Ich habe das Gefühl, als wäre ich Zeuge eines Eisenbahnunfalls in Zeitlupe.«
»Vielleicht solltest du etwas unternehmen.«
»Er hat mir gegenüber deutlich gemacht, dass er kein Mitgefühl, keine Hilfe will. Und weißt du was? Ich werde seine Wünsche ausnahmsweise mal nicht respektieren und mich einmischen.« Er versank in Schweigen.
Einen Moment lang gab Laura keine Antwort. Dann räusperte sie sich. »Vinnie, der Mann leidet. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal sagen würde, aber vielleicht solltest du dieses eine Mal tatsächlich einschreiten.«
Er blickte auf.
»Ich sehe das so: Pendergast ist bislang noch nie gescheitert. Nicht so. Ich meine, er war so absolut, so total entschlossen, die Wahrheit herauszufinden, was mit seiner Frau wirklich passiert ist. Es war eine Suche, bei der du fast ums Leben gekommen wärst. Bei der ich fast von einer Männerhorde vergewaltigt worden wäre. Und dann, als er langsam glaubte, dass sie doch noch am Leben ist …« Sie hielt kurz inne. »Und das Entscheidende ist: Tief im Inneren bezweifle ich, dass er je geglaubt hat, er könnte versagen. Du kennst Pendergast, du weißt, wie er arbeitet. Das ist die eine Sache, für die er sich mehr als alles andere engagiert hat, mehr als für irgendeinen seiner Fälle – und jetzt ist es vorbei. Aus und vorbei. Er ist gescheitert. Ich wage mir kaum vorzustellen, wie es in ihm aussieht.« Sie hielt inne. »Du sagst, es könnte zu einem Ausbruch von Gewalt kommen. Aber wenn das der Fall ist, warum ist er dann nicht da draußen, weshalb brennt er nicht darauf, die Mörder zu fassen? Warum rennt er uns nicht die Tür ein, weshalb zieht er dich nicht zu Rate?«
D’Agosta schüttelte den Kopf. »Gute Fragen.«
»Ich glaube, er ist total verzweifelt«, sagte Laura. »Ich bin mir da sicher.«
Sie fielen in Schweigen. D’Agosta nippte missmutig an seinem Bier.
Schließlich ergriff Laura das Wort: »Vinnie, ich sage das wider besseres Wissen, aber was Pendergast brauchen könnte, damit er da rauskommt, das wäre ein wirklich guter Fall. Und weißt du was? Da ist einer direkt vor unserer Nase.« Sie tippte auf den Bericht der Gerichtsmedizin.
D’Agosta seufzte. »Ich weiß zu schätzen, was du sagst. Wirklich. Aber diesmal … Ich gehe nicht zu ihm. Es steht mir einfach nicht zu, ihm da reinzureden.« Er schaute sie über den Tisch hinweg an und lächelte etwas wehmütig, dann ließ er den Blick auf den Häuserfassaden auf der anderen Seite der First Avenue ruhen, die in der untergehenden Sonne rosa- und goldfarben glänzten.