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Proctor wandte sich erneut zu Tristram um, der kreidebleich auf seinem Bett hockte. »Bleib hier«, sagte er. »Ich schließe dich ein. Du bist sicher in diesem Raum.« Er verließ das Zimmer, schloss die Tür sorgfältig ab und rannte den steinernen Gang hinunter. Kurz bevor der Gang zum nächsten Raum im zweiten Untergeschoss führte, drückte er sich flach gegen die Wand.
Er zog seine 45er, schob eine Patrone in die Kammer und schaltete das Laser-Zielgerät ein. Dann ließ er sich einen Augenblick Zeit, um seine Gedanken zu sammeln, ein Gefühl für die Gefechtssituation zu bekommen. Er schob alle Überraschung beiseite, alle Schmerzen seiner geprellten Rippen, alle Spekulationen darüber, wie der Junge ins Haus gekommen sein konnte – und konzentrierte sich auf das unmittelbare Problem.
Der Killer wollte ihn ins zweite Untergeschoss locken. Alban wollte, dass er ihm folgte. Ebenso klar war, dass er genau das tun musste. Es gab keine andere Möglichkeit. Er durfte dem jungen Mann – der sich inzwischen innerhalb des Sicherheitskordons des Hauses befand – keinerlei Handlungsfreiheit einräumen. Er musste ihn aufspüren. Alban wollte ihn in einen Hinterhalt locken, da war er sicher. Also mussten seine Gegenmaßnahmen unvorhersehbar sein. Er musste eine Strategie entwickeln.
Und er musste verstehen, warum Alban ihn nicht auf der Stelle getötet hatte, als er zweifellos die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
All diese Gedanken gingen Proctor im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf.
Er spähte auf den Boden und suchte nach Fußabdrücken von Alban, konnte die Spuren des Jugendlichen aber nicht aus der Vielzahl der frischen Fußabdrücke im Staub heraussortieren. Er atmete tief durch; nach einem Augenblick drehte er sich blitzartig um die Ecke und zielte mit seiner Waffe in den Raum. Eine einzelne nackte Glühbirne hing an einem Elektrokabel, das durch das gesamte zweite Untergeschoss verlief, erhellte den Raum und warf tiefe Schatten. Vitrinenschränke an den Wänden zeigten eine bunte Sammlung ausgestopfter Reptilien.
Der Raum schien leer zu sein.
Mit schnellen Bewegungen flitzte Proctor hindurch und ging hinter einem alten Vitrinenschrank in Deckung, der auf der Seite lag und aus dem verrostete Hellebarden gerollt waren. Von diesem Beobachtungsposten aus sicherte er den Raum, so gut er konnte. Er musste sich nicht beeilen. Der Killer versuchte ja nicht zu fliehen – er verfolgte ihn ebenso sicher, wie er den Killer verfolgte.
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Raum wirklich leer war, spurtete Proctor zum anderen Ende und stellte sich flach gegen den Durchgang, der in die nächste Kammer führte, zurück in Richtung der Treppe, die nach oben führte. Dieser Raum war voller Regale, nicht nur an den Wänden, sondern auch mittendrin, mit verschiedenfarbigen Glasflaschen voll seltsamer und bizarrer Objekte, getrockneter Insekten, Eidechsen, Samen, Flüssigkeiten und Puder. Zwischen diesen Regalreihen gab es viele Orte, an denen man sich verstecken, viele Orte, an denen man einen Hinterhalt legen konnte.
Jammerschade, was er jetzt tun musste.
Proctor war mit einer Beretta Px4 Storm mit einem 9+ 1-Magazin bewaffnet, trug aber immer zwei zusätzliche Zwanzig-Schuss-Magazine am Mann: insgesamt fünfzig Schuss. Er hatte eine manische Angst davor, ihm könnte die Munition ausgehen. Aber das war ihm noch nie passiert, und es würde ihm auch nie passieren.
Er nahm das Zehn-Schuss-Magazin heraus und schob eines von den Zwanzigern hinein. Dadurch wurde die Waffe zwar deutlich schwerer, aber er brauchte die zusätzlichen Patronen für das, was er gleich tun würde.
Unvorhersehbar …
Plötzlich erschien Proctor im Türrahmen und schoss mehrmals in die Regalreihen. Er sprintete auf voller Länge durch den Raum und feuerte dabei erst zur einen, dann zur anderen Seite und nach vorn. Das Resultat war ein Getöse und ein chaotischer Sturm aus Glas, als die Projektile mehrere Regalreihen durchschlugen. Der Lärm in dem beengten Raum war ohrenbetäubend. Jeder, der sich zwischen den Regalen versteckte, würde allermindestens durch herumfliegende Glassplitter geblendet und höchstwahrscheinlich von Projektilfragmenten getroffen werden. Die Person wäre nicht in der Lage, das Feuer präzise zu erwidern.
Proctor lief weiter in die nächste Kammer und hielt dabei ein vernichtendes Feuer aufrecht. Im Laufen zerbarsten Hunderte von Glasflaschen zu glitzernden Schauern.
Zwanzig Kugeln abfeuernd, lief er durch eine dritte Kammer, ein kleinerer Raum voll von Vitrinen mit ausgestopften Vögeln. Hier ging er mit leerem Magazin hinter einer schweren Eichenvitrine in Deckung, die von einer Wand fortragte. Er ging in die Hocke, hielt den Atem an und lauschte.
Die Restgeräusche nach den Schüssen – Flüssigkeiten, die ausliefen, Glas, das zu Boden fiel, hin und wieder ein Krachen – hallten im zweiten Untergeschoss wider. Der Steinboden hinter ihm war inzwischen mit Tausenden Glassplittern bedeckt. Niemand konnte darüber hinweggehen – niemand –, ohne Geräusche zu machen. Sollte der Killer hinter ihm sein, dann würde er ihm nur folgen können, wenn er sich verriet.
Immer noch wartete Proctor. Allmählich erstarben die Nachgeräusche der Zerstörung, zurück blieb das monotone tropf, tropf von Flüssigkeiten und ein übler Mischgeruch aus Alkohol, Formaldehyd, toten Tieren und getrockneten Insekten.
Er wusste, dass der nächste Raum ebenfalls mit Ausstellungsvitrinen voll war und zahlreiche Verstecke bot. Die Vitrinen, erinnerte er sich, waren voll von uralten Werkzeugen und antiken Geräten. Proctor hatte keine Ahnung, warum Leng diese bizarren Dinge gesammelt hatte, es war ihm auch egal. Er wusste nur eins: dass sein Widersacher aller Wahrscheinlichkeit nach in einem der uralten Räume vor ihm lauerte.
Proctor wartete sehr lange. Oft kam der Erfolg einfach dadurch, dass man länger wartete als der Gegner. Schließlich bewegte er sich. Und dann, peng.
Aber diesmal herrschte Stille. Der Gegner zeigte sich nicht.
Zwar war es möglich, dass der Killer sich tot oder schwer verletzt in einem der Räume befand, durch die er bereits gekommen war, aber irgendwie bezweifelte Proctor das. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass sich Alban in einem der vorausliegenden Räume aufhielt.
Und er wartete.
Proctor zog das leere Magazin aus der Beretta und schob das zweite Zwanziger hinein. Im selben Augenblick hörte er das Knirschen eines Schritts auf Glas.
Erstaunt, dass der Killer hinter ihm war, wirbelte er herum und zog sich schnell in eine defensivere Stellung in einer Nische in der gemörtelten Wand zurück.
Wieder wartete er und lauschte angestrengt. Der gesamte Boden des vorhergehenden Raums war von Glassplittern bedeckt. Man konnte sich darin nicht bewegen, ohne Geräusche hervorzurufen – oder doch?
Ganz langsam schlich er sich an den Rand des Steinbogens heran und lauschte. Aber er hörte nichts mehr. Konnte es sein, dass irgendetwas auf das Glas gefallen war?
Die Ungewissheit begann an Proctor zu nagen. Er musste mehr sehen, mehr herausfinden. Blitzartig lief er zurück durch den Durchgang und rannte mitten durch den Raum, wobei er erneut nach rechts und links schoss. Weit rechts sah er eine huschende Bewegung hinter einer Reihe zerborstener Flaschen und schoss wiederholt durch die Regale, ehe er in einer Nische in der anderen Wand in Deckung ging.
Er drückte sich in die Nische und horchte erneut. Er musste den Killer getroffen oder wenigstens mit herumfliegenden Glassplittern übersät haben. Er müsste verletzt sein, vielleicht ohne Augenlicht, verängstigt, desorientiert.
Oder war das nur Wunschdenken?
Wieder ein lautes Knirschen von Glas, der unverkennbare Laut eines Schritts.
Proctor stürmte aus der Nische und rannte los. Er feuerte erneut in die Richtung des Geräuschs, durch die bereits zerbrochenen Flaschen, wodurch ein kaleidoskopischer Nebel glitzernder Glassplitter aufstob, zusätzliche Regale umstürzten, Bechergläser ihren Inhalt verspritzten. Aber während er den Bereich, aus dem das Geräusch kam, beschoss, wurde ihm klar, dass dort niemand war. Nichts. Er lief weiter, bis er am anderen Ende der Kammer ankam, ging in einer Ecke in Deckung und schaute sich fieberhaft um.
Auf einmal flog ein kleiner Stein durch die Luft, traf die Glühbirne, und der Raum war in Dunkelheit getaucht. Sofort feuerte Proctor in die Richtung, aus der das Steinchen geworfen worden war; das Licht aus dem angrenzenden Raum strömte herein und lieferte ein bisschen Helligkeit.
Schwer atmend senkte er die Waffe. Wie viel Schuss hatte er noch übrig? Normalerweise zählte er mit, aber diesmal hatte er den Überblick verloren. Er hatte zwanzig Schuss abgefeuert, plus mindestens fünfzehn. Übrig waren vielleicht fünf in diesem Magazin und zehn im letzten.
Sein Alptraum – dass ihm die Munition ausging – wurde langsam Wirklichkeit.
Während er in der dunklen Ecke hockte, wurde ihm klar, dass er mit seiner Strategie gescheitert war. Er hatte es mit einem Gegner mit enormer Voraussicht und ungeheurem Geschick zu tun. Proctor brauchte eine neue Strategie. Der Killer rechnete wahrscheinlich damit, dass er weitermachte, weiter sondierte und suchte, wie er es bislang getan hatte. Also würde er stattdessen umkehren und den gleichen Weg zurückgehen. Er würde den Killer zwingen, zu ihm zu kommen.
Proctor schlich an der Wand entlang und gelangte zum Durchgang in den nächsten Raum. Licht spendete eine Glühbirne. Auch dieser Raum war voller Flaschen gewesen, und der Boden war mit Glas bedeckt. Jetzt stand er vor demselben Problem, das er seinem Gegner gestellt hatte. Er konnte sich nicht bewegen, ohne Geräusche zu machen.
Vielleicht. Er ging in die Hocke und zog sich die Schuhe aus. In gebückter Haltung und auf Strümpfen schlich er vorsichtig durch den Durchgang in den nächsten Raum und hielt sich dabei im tiefen Schatten hinter den zerschmetterten Vitrinen. Langsam, ganz langsam bewegte er sich in völliger Stille und ignorierte das zerbrochene Glas, das ihm in die Fußsohlen schnitt. Nach jedem Schritt blieb er stehen und lauschte.
Rechts von ihm, hinter einer massiven Reihe kaputter Regale, war ein kurzes Einatmen zu hören. Unverkennbar. Auch der Killer bewegte sich offenbar auf Strümpfen.
Hatte er ihn gesehen? Unmöglich, das zu wissen.
Unberechenbar sein – das musste er im Kopf behalten.
In einer jähen, furiosen Bewegung stürmte er los und lief mitten hinein in die lange, hohe Reihe von Regalen, warf sich dagegen und warf sie um. Dabei fiel ein Regal gegen das nächste und dieses gegen das nächste wie Dominosteine. Die bereits zerbrochenen und zerschossenen Regale fielen wie ein Kartenhaus zusammen und schlossen die Person darin in einem Sturm aus zerbrochenem Glas, Chemikalien, Ausstellungsstücken und verbogenen Regalen ein.
Als er ein Stück zurücktrat, spürte Proctor plötzlich einen Schlag auf seinen Arm, und seine Beretta flog in hohem Bogen auf den Boden. Er drehte sich blitzartig um und setzte zu einem Schwinger an, aber die schwarze Gestalt war bereits ausgewichen und hatte ihm einen Schlag in die Rippen versetzt, so dass er der Länge nach auf die Glassplitter fiel.
Proctor rollte sich ab und stand in einer schnellen Bewegung auf. Er hatte den gezackten Hals eines zerbrochenen Becherglases in der Hand. Der Killer machte einen Satz nach hinten und hob selbst eine Glasscherbe vom Boden auf. Argwöhnisch umkreisten sie einander.
Proctor, ein Experte mit dem Messer, stach zu, aber der Killer sprang zur Seite und hieb auf ihn ein, wobei er ihn am Unterarm traf. Proctor wich zurück, und es gelang ihm, das Hemd des Killers aufzuschlitzen, aber wieder drehte sich der andere fast unnatürlich schnell weg und vermied den Hauptstoß.
Nie im Leben hatte Proctor jemanden gesehen, der sich derart schnell bewegte oder so gut antizipierte. Er rückte gegen den Killer vor, holte dabei immer wieder nach ihm aus und zwang ihn, sich zurückzuziehen, setzte aber keine Treffer. Der Killer stieß mit dem Rücken gegen einen Tisch, ließ seine Glasscherbe fallen und nahm eine schwere Retorte in die Hand. Proctor suchte seine Chance, rückte vor und schlug zu. Dann aber, plötzlich und wie aus dem Nichts, wandte sich der Killer – der erneut fintierte, als wollte er sich zurückziehen – in einer höchst außergewöhnlichen Bewegung um und versetzte Proctor mit der Retorte einen Schlag gegen die Schläfe, wodurch das dicke Glas splitterte und Proctor benommen zu Boden stürzte.
Blitzartig warf sich der Killer auf ihn, nagelte ihn unter sich fest und drückte ihm die gezackte Scherbe der Retorte an den Hals, genau gegen die Schlagader, und zwar mit genau dem richtigen Druck, um die Haut zu ritzen, aber nicht tiefer.
Proctor war wie betäubt vor Schreck und Schmerz und fasste es nicht, dass er besiegt worden war. Das konnte nicht wahr sein. Und doch war er geschlagen worden – in ebenjenem Fach, das er am besten beherrschte.
»Mach schon«, sagte er rauh. »Bring’s zu Ende.«
Der Killer lachte und entblößte seine strahlend weißen Zähne. »Wenn ich dich hätte töten wollen, wärst du schon längst tot, das weißt du genau. O nein. Du hast deinem Herrn und Meister eine Nachricht zu überbringen. Und ich habe einen Bruder, um den ich mich kümmern muss.«
Während er dies sagte, schlängelte ein langer Arm hervor und zog Proctor den Schlüssel zu Tristrams Zimmer aus der Tasche.
»Und nun gute Nacht.«
Ein jäher, betäubender Hieb gegen die Schläfe – und Proctor verlor das Bewusstsein.