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Proctor ging leise durch die Bibliothek und ließ den Blick über die Bücher schweifen. Er war kein Büchernarr, außerdem waren ihm fast alle Titel unbekannt. Viele Bücher waren zudem in Fremdsprachen verfasst. Er hatte keine Ahnung, wie er jemanden »erziehen« sollte, erst recht nicht einen merkwürdigen, schwächlichen Jungen wie Tristram. Aber Auftrag war Auftrag, und Proctor kannte seine Pflichten. Es fiel leicht, sich um den Jungen zu kümmern, das musste er zugeben. Er hatte bescheidene Ansprüche und war dankbar für jede Freundlichkeit, jede Mahlzeit, ganz gleich, wie schlicht sie war. Zunächst – basierend auf seinem gebrochenen Englisch und seinen seltsamen Verhaltensweisen – hatte Proctor angenommen, der Junge sei geistig zurückgeblieben, aber das war eindeutig ein Fehlurteil; er lernte ungeheuer schnell.
Proctors Blick blieb an einem Titel hängen, den er kannte: Einzelgänger, männlich von Geoffrey Household. Ein gutes Buch. Ein sehr gutes Buch.
Proctor legte seinen Finger auf den Buchrücken, zog das Buch hervor, dann hielt er inne und horchte. Die Haushälterin hatte den Abend frei. In der Villa war es still …
… oder nicht?
Mit einer geschmeidigen Bewegung steckte er sich das Buch unter den Arm, drehte sich um und ließ den Blick erneut durch die Bibliothek schweifen. Es war kalt darin – Proctor machte kein Feuer im Kamin, wenn Pendergast nicht im Haus war –, und die meisten Lampen waren aus. Es war neun Uhr abends, draußen begann eine bitterkalte Nacht, der Wind fegte vom Hudson herüber.
Proctor lauschte weiterhin. Jetzt konnte er die Geräusche im Haus wahrnehmen, das tiefe, gedämpfte Ächzen des Windes, die leise Knacken und Knarzen der alten Villa; der Geruch war wie immer: Bienenwachspolitur, Leder und Holz. Und doch meinte er etwas gehört zu haben. Etwas Leises, fast unterhalb der Hörbarkeit. Etwas von oben.
Lässig schlenderte Proctor zum anderen Ende der Bibliothek und schob ein Eichenpaneel auf, hinter dem ein Computer-Sicherheitssystem mit LCD-Anzeigen zum Vorschein kam. Die Anzeigen leuchteten grün, von oben bis unten, alle Alarmschaltungen waren scharf, Türen und Fenster gesichert, die Bewegungsmelder stumm.
Indem er einen Knopf drückte, deaktivierte Proctor vorübergehend die Bewegungsmelder. Dann schlenderte er aus der Bibliothek in die Empfangshalle, durch einen Marmordurchgang in das sogenannte Kabinett – mehrere Räume, die Pendergast zu einem kleinen Museum arrangiert hatte, dessen Ausstellungsstücke aus den scheinbar endlosen Sammlungen seines Ururonkels Enoch Leng stammten. Mitten im ersten Raum stand ein kleiner, aber bedrohlich aussehender fossiler Dinosaurier, nichts als Zähne und Klauen, umgeben von Vitrine um Vitrine von bizarren und außergewöhnlichen Schaustücken, von Schädeln bis zu Diamanten, von Meteoriten bis zu ausgestopften Vögeln.
Er ging lockeren, leichten Schritts, aber im Inneren fühlte er sich alles andere als locker. Proctor besaß eine Art inneres Radar, das er während seiner Zeit bei den Spezialeinsatzkräften geschärft hatte, und jetzt war das Radar an. Warum, wusste er auch nicht – es gab da nicht die eine Sache, auf die er den Finger hätte legen können. Alles schien sicher. Aber sein Instinkt sagte etwas anderes.
Und Proctor hörte immer auf seinen Instinkt.
Er stieg die Treppe in den zweiten Stock hinauf, ging am mottenzerfressenen, ausgestopften Schimpansen ohne Lippen vorbei und schaute kurz zu den Türen, die links und rechts vom Flur abgingen. Alle geschlossen. Einen Moment lang blieb sein Blick am Gemälde eines Hirschs hängen, der von Wölfen gerissen wurde, dann ging er weiter.
Alles gut.
Er kehrte in den ersten Stock zurück und ging wieder in die Bibliothek. Er reaktivierte die Bewegungsmelder, nahm Einzelgänger, männlich zur Hand, setzte sich auf einen Stuhl, der strategisch zu einem Spiegel an einer gegenüberliegenden Wand positioniert war, was ihm einen Blick aus der Bibliothek hinaus und auf den gesamten Empfangsbereich erlaubte.
Er schlug das Buch auf und tat so, als würde er darin lesen.
Währenddessen hielt er seine Sinne auf höchster Alarmstufe – besonders seinen Geruchssinn. Proctor besaß einen übernatürlich scharfen Geruchssinn, fast so gut wie der eines Hirschs. Mit solch einer Fähigkeit rechnete kaum jemand, und sie hatte ihm schon mehrmals das Leben gerettet.
Eine halbe Stunde verstrich, ohne dass etwas sein Misstrauen erregte. Vermutlich ein Fehlalarm. Trotzdem – er war keiner, der sich mit bloßen Annahmen begnügte – klappte er das Buch zu, gähnte und ging durch den geheimen Bücherschrank-Eingang zum Fahrstuhl, der ins Untergeschoss hinabführte. Er fuhr herab und ging durch einen schmalen Kellergang aus unbehauenem Gestein, dessen Wände mit Salpeter, Feuchtigkeit und Kalk überzogen waren.
Er bog um eine Ecke, zwängte sich lautlos in eine Nische und wartete.
Nichts.
Er atmete langsam ein und überprüfte mit seinem Geruchssinn die Luftströmungen. Aber es befanden sich kein menschlicher Geruch, keine seltsamen Strudel, keine unerwartete Wärme darin; nichts als die kühle Feuchte.
Allmählich kam sich Proctor ein wenig töricht vor. Seine isolierte Situation, die ungewohnte Rolle als Beschützer und Lehrer hatten ihn nervös gemacht. Unmöglich, dass ihm jemand folgte. Der Bücherschrank-Eingang hatte sich hinter ihm geschlossen und war eindeutig nicht wieder geöffnet worden. Der Fahrstuhl, mit dem er nach unten gefahren war, war im Untergeschoss geblieben, niemand hatte ihn in den ersten Stock zurückgeholt. Selbst wenn sich eine Person im ersten Stock befand, konnte sie ihm nicht bis ins Untergeschoss gefolgt sein.
Aufgrund dieser Gedanken legte sich das Gefühl von Beunruhigung langsam. Es war sicher, das zweite Untergeschoss zu betreten.
Er ging in den kleinen steinernen Raum und drückte auf das Pendergast-Wappen. Die Geheimtür öffnete sich. Er trat hindurch und wartete, bis die Tür ins Schloss gefallen war. Dann stieg er die lange Wendeltreppe hinab und machte sich auf den Weg durch die vielen merkwürdigen Räume, aus denen das zweite Untergeschoss bestand, voll mit Glasflaschen, verrottenden Wandteppichen, getrockneten Insekten, Arzneien sowie weiteren bizarren Sammlungen von Enoch Leng. Eilig ging er zur schweren, eisenbeschlagenen Tür, die in Tristrams Unterkunft führte.
Der Junge hatte geduldig auf ihn gewartet. Geduld zählte zu seinen großen Tugenden. Er konnte still und regungslos dasitzen, ohne etwas zu tun, viele Stunden lang. Eine Fähigkeit, die Proctor bewunderte.
»Ich habe dir ein Buch mitgebracht«, sagte er.
»Danke!« Der Junge erhob sich, nahm es begierig entgegen, betrachtete es und drehte es um. »Worum geht es darin?«
Mit einem Mal kamen Proctor Zweifel. War das wirklich das richtige Buch für jemanden, dessen Bruder ein Serienmörder war? Der Gedanke war ihm bislang noch nicht gekommen. Er räusperte sich. »Es geht darin um einen Mann, der einen Diktator verfolgt und versucht, ihn zu ermorden. Er wird gefasst und entkommt.« Er hielt inne. Seine Beschreibung ließ das Buch wohl nicht sehr interessant erscheinen. »Ich lese dir das erste Kapitel vor.«
»Bitte!« Tristram setzte sich aufs Bett und wartete.
»Unterbrich mich, wenn du irgendwelche Ausdrücke nicht verstehst. Und wenn ich fertig bin, reden wir über das Kapitel. Du wirst Fragen haben, aber du musst sie auch stellen.« Proctor ließ sich auf einem Stuhl nieder, schlug das Buch auf, räusperte sich und begann zu lesen:
»Ich kann es ihnen nicht verdenken. Schließlich braucht man kein teleskopisches Sehvermögen, um ein Wildschwein oder einen Bären zu schießen …«
Plötzlich spürte er hinter sich irgendetwas: eine Präsenz. Blitzartig drehte er sich um und sprang auf, griff zur Waffe, aber die Gestalt verschwand wieder in der Dunkelheit des Flurs, noch bevor seine Hand die Waffe berührte. Aber das Gesicht, das er gesehen hatte, blieb in seinem Geist eingeprägt. Es war Tristrams Gesicht – nur markanter und schärfer geschnitten.
Alban.