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Die Alarmglocken läuteten, seit D’Agosta die Nachricht erhalten hatte, dass Glen Singleton ihn sehen wolle. Und jetzt, als er das Vorzimmer des Chefs betrat, schrillten sie noch lauter. Midge Rawley, Singletons normalerweise so schwatzhafte Sekretärin, blickte kaum von ihrem Computer auf, als er sich näherte. »Gehen Sie gleich hinein, Lieutenant«, sagte sie, ohne Blickkontakt herzustellen.
D’Agosta ging an ihr vorbei in Singletons Büro. Sofort wurden seine Befürchtungen bestätigt. Sicher – da saß Singleton, hinter seinem Schreibtisch, wie üblich picobello gekleidet. Aber es war die Miene des Captains, die ihm jede Courage nahm. Singleton war wohl der direkteste, ehrlichste Mensch, den D’Agosta jemals kennengelernt hatte. Er war absolut ohne Falschheit – what you see is what you get. Und was D’Agosta sah, war ein Mann, der mit einem sehr heiklen Problem rang.
»Sie wollten mich sehen, Captain?«, fragte D’Agosta.
»Ja.« Singleton warf einen Blick auf ein Dokument auf seinem Schreibtisch. Er überflog es, blätterte um. »Wir stecken mitten in einer schwierigen Situation, Lieutenant – oder zumindest stecken Sie mittendrin.«
D’Agosta hob die Augenbrauen.
»Als Teamleiter, der für die Fälle des Hotel-Mörders zuständig ist, scheinen Sie in einem Revierkampf gefangen zu sein. Zwischen zwei FBI-Agenten.« Er warf noch einen Blick auf die Unterlagen auf seinem Schreibtisch. »Ich habe hier eine offizielle Beschwerde vorliegen, die Agent Gibbs gegen Agent Pendergast eingelegt hat. Darin verweist er auf einen Mangel an Zusammenarbeit, das Ermitteln auf eigene Faust, die Ablehnung, die Aufgaben zu koordinieren – unter anderem.« Er hielt inne. »Ihr Name taucht in der Beschwerde ebenfalls auf. Mehrmals, um genau zu sein.«
D’Agosta sagte nichts.
»Ich habe Sie, vertraulich, aus zwei Gründen zu mir gerufen. Erstens, um Ihnen zu raten, sich aus dem Kreuzfeuer herauszuhalten. Es handelt sich um eine innere Angelegenheit des FBI, und glauben Sie mir, wir wollen da nicht hineingezogen werden.«
D’Agosta merkte, dass er ganz steif wurde, als wäre er ein Kadett, der zu seinem Vorgesetzten zitiert worden war.
Singleton warf wieder einen Blick auf das Schriftstück, blätterte erneut um. »Der zweite Grund, weshalb ich Sie gerufen habe, besteht darin, zu erfahren, ob Sie etwas Besonderes in diesem Fall wissen. Sie müssen mir die relevanten Informationen mitteilen – sämtliche relevanten Informationen. Schauen Sie, Lieutenant, wenn die Kacke am Dampfen ist und diese Sache zum Dritten Weltkrieg eskaliert, dann möchte ich nicht der sein, den es unvorbereitet trifft.«
»Es steht alles in dem Bericht, Sir«, sagte D’Agosta vorsichtig.
»Tatsächlich? Es ist nicht die richtige Zeit, um Partei zu ergreifen, Lieutenant.«
Stille senkte sich über das Büro. Schließlich seufzte Singleton. »Vincent, wir sind nicht immer einer Meinung gewesen. Aber ich habe Sie immer für einen guten Polizisten gehalten.«
»Vielen Dank, Captain.«
»Aber das ist nicht das erste Mal, dass Ihre Verbindung mit Pendergast zu einem Problem geworden ist. Und meine gute Meinung von Ihnen gefährdet.«
»Sir?«
»Ich will ganz offen sein. Seinem Bericht zufolge scheint Agent Gibbs zu glauben, dass Pendergast Informationen zurückhält. Dass er nicht alles mitteilt, was er weiß.« Er hielt inne. »Fest steht, dass Gibbs Pendergasts Handeln in Bezug auf diesen letzten Mord mit größtem Misstrauen begegnet. Und ich kann es ihm nicht verdenken. Aus dem, was ich diesem Schriftstück entnommen habe, wurde hier auch nicht ansatzweise die übliche kriminologische Vorgehensweise eingehalten. Außerdem scheinen viele unerklärte, ähm, Aktivitäten vor sich zu gehen.«
D’Agosta konnte Singletons enttäuschtem Blick einfach nicht mehr standhalten. Er blickte auf seine Schuhe.
»Ich weiß, dass Sie und Pendergast eine gemeinsame Geschichte verbindet. Dass Sie Freunde sind. Aber es handelt sich hier um einen der größten Serienmordfälle seit Jahren. Sie sind der Teamleiter. Denken Sie also eine Minute nach, bevor Sie antworten. Gibt es da noch irgendetwas anderes, was ich wissen sollte?«
D’Agosta schwieg weiter.
»Schauen Sie, Lieutenant. Sie sind schon mal in der Luft zerrissen worden, hätten fast Ihre Karriere zerstört, und zwar dank Pendergast. Ich möchte das nicht noch einmal erleben. Es liegt auf der Hand, dass Gibbs es darauf abgesehen hat, Pendergast ans Kreuz zu schlagen. Und es ist ihm egal, wer als Kollateralschaden draufgeht.«
D’Agosta sagte immer noch nichts. Er rief sich die vielen Male in Erinnerung, als er mit Pendergast Seite an Seite gestanden hatte: gegen jene schreckliche Kreatur im Museum für Naturgeschichte; gegen die Wrinkler tief unter den Straßen von Manhattan; gegen Graf Fosco und diesen Dreckskerl Bullard in Italien; und nun, in jüngerer Zeit, gegen Judson Esterhazy und den mysteriösen Bund. Trotzdem konnte er nicht seine eigenen Zweifel leugnen, was Pendergasts Handeln und Motive in letzter Zeit anging, ja seine Sorge um Pendergasts psychische Gesundheit. Und er konnte nicht umhin, sich an Laura Haywards Worte zu erinnern. Es ist deine Pflicht, sämtliche Beweismittel, alle Informationen, weiterzuleiten, auch die verrückten Sachen. Es geht hier nicht um Freundschaft. Es geht hier darum, einen gefährlichen Mörder zu fassen, der wahrscheinlich erneut morden wird. Du musst das Richtige tun.
Er holte tief Luft und hob den Kopf. Und dann, wie aus weiter Ferne, hörte er sich sagen: »Pendergast glaubt, dass sein Sohn der Mörder ist.«
Singleton machte große Augen. »Wie bitte?«
»Ich weiß, es klingt verrückt. Aber Pendergast hat mir gesagt, er glaubt, dass sein eigener Sohn für diese Morde verantwortlich ist.«
»Und … das glauben Sie?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Pendergasts Frau ist vor kurzem unter schrecklichen Umständen ums Leben gekommen. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so nah davor ist, überzuschnappen.«
Singleton schüttelte den Kopf. »Lieutenant, als ich Sie um Informationen zu diesem Fall gebeten habe, wollte ich echte Informationen.« Er setzte sich zurück. »Ich meine, das klingt doch lächerlich. Ich habe nicht einmal gewusst, dass Pendergast einen Sohn hat.«
»Ich auch nicht, Sir.«
»Und Sie wollen mir nichts anderes mitteilen?«
»Ich kann Ihnen nichts anderes mitteilen. Es ist so, wie ich sagte … alles andere steht in meinem Bericht.«
Singleton sah ihn an. »Pendergast hat also Informationen zurückgehalten. Und wie lange wissen Sie das schon?«
D’Agosta zuckte innerlich zusammen. »Lange genug.«
»Wie Sie wünschen, Lieutenant«, sagte Singleton schließlich. »Ich muss darüber nachdenken, wie ich die Sache am besten angehe.«
Betrübt nickend, gab D’Agosta sein Einverständnis.
»Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen einen letzten Rat mit auf den Weg geben. Vor einer Minute habe ich Ihnen geraten, sich nicht in die Sache hineinziehen zu lassen. Nicht Partei zu ergreifen. Und das ist ein guter Rat. Aber es kann eine Zeit kommen – und basierend auf dem, was Sie mir gerade gesagt haben, kommt sie wohl früher, als ich erwartet habe –, dass wir alle gezwungen sein werden, Partei zu ergreifen. Wenn das passiert, werden Sie auf der Seite von Gibbs und der AfV stehen. Nicht auf der Seite von Pendergast. Offen gesagt, gefällt mir der Mann nicht, ich mag seine Methoden nicht, und diese Angelegenheit über seinen Sohn lässt mich denken, dass er schließlich übergeschnappt ist. Ist das klar, Lieutenant?«
»Völlig klar, Sir.«
»Gut.« Singleton blickte nach unten, klappte den Bericht auf seinem Schreibtisch zu und bedeutete D’Agosta, dass die Besprechung zu Ende war.