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Dr. John Felder trat aus dem Torhaus und schloss leise die Tür hinter sich. Wie der Kalender versprochen hatte, war es eine mondlose Nacht. Die Wintour-Villa besaß keine Außenbeleuchtung – Miss Wintour war zu geizig, mehr Glühbirnen zu kaufen als absolut nötig –, so dass der uralte Schuppen wie eine riesige dunkle Gestalt vor ihm aufragte, Schwarz vor Schwarz.
Er holte tief Luft, dann drängte er sich durch das kniehohe Gestrüpp aus abgestorbenem Unkraut und Gras. Es war kalt, knapp über dem Gefrierpunkt, und sein Atem beschlug in der Luft. Die Villa, die Straße, die ganze Stadt Southport schien sich in Schweigen zu hüllen. Trotz der Dunkelheit kam er sich schrecklich exponiert vor.
Er kam am Hauptgebäude an und drückte sich gegen dessen kühle Fassade. Er blieb stehen und lauschte. Alles war still. Er schlich sich an der Außenwand lang, bis er zum großen Erkerfenster der Bibliothek gelangte. Die Bibliothek verfügte über drei Flügelfenster. Felder ging noch langsamer und spähte ins nächstgelegene Fenster. Totale Finsternis.
Er zog sich ein wenig zurück, drückte sich mit dem Rücken an die Steinfassade und sah sich um. Nichts, nicht einmal der Laut eines vorbeifahrenden Fahrzeugs, das die Stille durchbrach. Diese Seite der Villa lag im rechten Winkel zur Straße, vor Blicken geschützt durch eine Mauer mit uralten Thujabüschen, die an der Innenkante des gusseisernen Zauns gepflanzt worden waren. Er konnte nicht gesehen werden.
Dennoch verharrte er im Schutz des Bibliotheksfensters. Wollte er es wirklich tun? Als er am Abend, Stunde um Stunde auf Mitternacht wartend, im Torhaus gesessen hatte, hatte er sich eingeredet, nichts wirklich Falsches vorzuhaben. Er wollte bloß die Mappe eines zweitklassigen Künstlers entwenden, für den sich niemand interessierte, am wenigsten Miss Wintour. Ja, er würde die Mappe nicht mal entwenden. Er lieh sie sich nur aus. Hinterher konnte er ihr die Bilder einfach anonym zurückschicken. Nichts passiert …
Doch dann war er in die Realität zurückgekehrt. Er plante einen Einbruchdiebstahl. Das war strafbar, ein Vergehen, vielleicht sogar eine schwere Straftat, die ihn möglicherweise hinter Gitter brachte. Und dann wanderten seine Gedanken zu Dukchuck – und eingebuchtet zu werden, erschien ihm besser, als von ihm auf frischer Tat ertappt zu werden.
Wegen der Kälte und dem Mangel an Bewegung wurden seine Füße allmählich taub, so dass er sich anders hinstellte. Wollte er das hier wirklich tun? Ja, gleich – noch eine Minute. Vielleicht auch zwei.
Er griff in seine Jackentasche und überprüfte den Inhalt. Eine Taschenlampe, ein Schraubenzieher, ein Skalpell, eine Dose Haushaltsöl, ein Paar dünne Lederhandschuhe. Wieder holte er tief und erschauernd Luft, blickte sich erneut um. Nichts. Alles war absolut dunkel; die Bibliotheksfenster mit ihren schweren Rahmen waren kaum auszumachen. In der Villa herrschte Grabesstille. Wieder sekundenlanges Zögern, und dann holte er seine Handschuhe aus der Tasche, zog sie über und trat ans nächstgelegene Fenster.
Er drückte sich eng an den Fensterflügel und holte seine Taschenlampe hervor. Während er ihren Lichtstrahl mit seinem Handschuh abdeckte, schaltete er sie ein und untersuchte die Führungsstange, dort, wo sich die beiden senkrechten Sektionen des Fensters trafen. Verdammt, bei diesem Fenster waren die Drehstangenverschlüsse arretiert, die kippbaren Scharniere wirkungsvoll verschlossen. Er schaltete die Taschenlampe aus und sah sich erneut um. Er ging zum nächsten Flügelfenster und betrachtete es. Auch hier waren die Hebel, mit denen man das Fenster öffnete, in eine waagerechte Stellung gedreht. Er konnte nur dann ins Haus gelangen, wenn er die Fensterscheibe einschlug, hineingriff und den Griff drehte – unvorstellbar.
Mit einem Gefühl, das halb Enttäuschung, halb Erleichterung war, trat er an das letzte Flügelfenster, schirmte dabei seine Taschenlampe ab und blickte hinein. Der Griff des ersten Fensterflügels war sicher eingerastet, doch im Lichtstrahl sah er, dass das Pendant leicht offen stand, der Drehstangenverschluss abgebrochen und nicht repariert worden war. An der Stelle, wo er am Metallrahmen befestigt worden war, befand sich jetzt nur ein Loch.
Felder knipste seine Taschenlampe aus und ging weiter, hinein in den Schatten auf der anderen Seite des Erkerfensters. Abermals wartete er, blickte sich um und horchte. Aber da war nichts.
Das Herz schlug ihm fast schmerzhaft in der Brust. Wenn er das nicht jetzt machte, verlor er allen Mumm. Entschlossen wandte er sich zum letzten Fenster um, schob den Schraubenzieher zwischen Fensterkante und Rahmen, dann übte er sanften Druck aus. Knarrend wurde der Spalt breiter. Felder hielt inne, zog die Dose Haushaltsöl aus seiner Tasche, träufelte es auf die rostigen Angeln und setzte erneut den Schraubenzieher an. Jetzt bewegte sich das Fenster ganz leise. Kurz darauf war der Spalt so breit, dass er die Hand hineinstecken konnte. Sachte – ganz sachte – zog er das Fenster auf.
Er steckte den Schraubenzieher und das Öl wieder ein. Alles blieb still. Er nahm allen Mut zusammen, legte die Hände an die Fensterrahmen, hob den Fuß auf das Fensterbrett und wollte sich ins Haus ziehen. Da zögerte er. Einen Moment lang sah er sich wie aus der Ferne. Plötzlich kam ihm lächerlich, ja völlig absurd vor, was er tat. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Wenn meine Medizinprofessoren mich jetzt sehen könnten. Aber er war so nervös, dass solche Überlegungen nicht andauerten. Erneut packte er den Rahmen, zog sich daran hoch und stand mit einer raschen Bewegung im Zimmer.
In der Bibliothek war es fast genauso kühl wie in der Nachtluft draußen. Felder schirmte seine Taschenlampe ab, leuchtete damit im Zimmer umher und registrierte, wo die verschiedenen Möbelstücke standen. Es durfte auf keinen Fall passieren, dass er über einen Stuhl stolperte. Der Raum war ähnlich eingerichtet wie der vordere Salon: sittsame hochlehnige Stühle, ein paar niedrige Tische mit Spitzendecken, auf denen diverser Nippes aus Porzellan und Zinn stand. Die Wände zu beiden Seiten wurden von deckenhohen Bücherschränken mit Bleiglasscheiben eingenommen.
Noch einmal blickte er sich um und prägte sich die Standorte der einzelnen Möbelstücke ein. Dann knipste er die Taschenlampe aus und schlich, so schnell und leise, wie er sich traute, durchs Zimmer zur Kassettentür. Hier blieb er stehen, legte das Ohr an die Tür und horchte.
Nichts.
Während ihm das Herz noch schneller schlug, wandte er sich um und blickte in die Bibliothek. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Die Regale waren mit Tausenden Büchern, ledernen Archivschubern, Bündeln alter Handschriften mit morschen Kordeln sowie anderen Dingen vollgestopft. Stunden mit der Suche zu verbringen und dabei jeden Moment entdeckt zu werden, diese Aussicht war unerträglich.
Er wappnete sich, indem er an Constance dachte. Dann wandte er sich nach links, schlich zu der Stelle, wo die Bücherwand anzufangen schien, neben der Kassettentür. Wieder schirmte er seine Taschenlampe ab und knipste sie so lange an, dass er eine Reihe von großen, in Leder gebundenen Büchern sah, die ihm entgegenstarrten und deren gerippte Buchrücken im Licht ein wenig schimmerten. Es waren die Werke von Henry Adams, in vier Bänden.
Er ging eine kurze Strecke an der Bücherwand entlang, dann blieb er stehen und knipste erneut die Taschenlampe an, kurz. Auf dem Regal vor ihm standen ungefähr ein halbes Dutzend kleine Holzkisten, mit großem handwerklichem Können gefertigt, wunderschön zusammengefügt und lackiert. Jede war mit einem Papieretikett beschriftet, das sich leicht vom Holz gelöst hatte, weil der alte Klebestoff getrocknet war. Jedes Etikett war mit verblasster Tinte beschrieben. Bierstadt, Bd. 1, Bierstadt, Bd. 2.
Die Bierstadt-Korrespondenz. Das Ziel der Harvard-Delegation, die vergebens hierhergepilgert war. Zweifellos ein Vermögen wert …
Felder schaltete die Taschenlampe aus und trat schnell einen Schritt weg von den Regalen. War da ein Geräusch gewesen?
Einen langen Moment stand er reglos da und horchte. Aber da war nichts. Er wandte sich um und warf einen Blick zur Kassettentür. Unter ihr war kein Lichtstrahl zu erkennen.
Trotzdem machte er ängstlich ein paar Schritte auf das offene Fenster zu, seine Fluchtmöglichkeit.
Noch einmal blieb er stehen und horchte gut eine Minute lang, bevor er sich erneut den Regalen widmete. Er hob die Taschenlampe an, deckte sie wieder teilweise mit der Hand ab und richtete den Lichtstrahl kurz auf die vor ihm befindlichen Regale. Auf dem in Augenhöhe stand ein riesiger Foliant, umgeben von einer kleineren Gruppe von Büchern mit identischen Goldrücken. Goethes Faust, unerhört schön, der Ledereinband geprägt und mit verspielten Formen verziert …
Felder erschrak derart heftig, dass er die Taschenlampe beinahe fallen gelassen hätte. Hörte er Phantasielaute in seiner äußersten Erregung, oder waren das nicht doch Schritte auf dem Teppich im Flur vor der Bibliothek gewesen, ein Schreiten, so verstohlen wie das einer Katze?
Nervös blickte er in Richtung Kassettentür. Noch immer schien kein Licht unter der Tür – alles war pechschwarz. Wieder drehte er sich zu den Regalen, um einen Blick darauf zu werfen.
Und da bewirkte irgendetwas – er wusste nicht genau, was –, dass er sich erneut umdrehte, geradewegs zum offenen Fenster schritt, hinaus und auf den Boden glitt und das Fenster leise hinter sich schloss. Gott sei Dank hatte er daran gedacht, das Öl mitzubringen.
Leicht zitternd stand er in der finsteren Nacht. Während sein Herz allmählich langsamer schlug, kam er sich töricht vor. Schuld daran war nur seine Phantasie, die ihm Streiche spielte. Da war gar kein Geräusch gewesen, kein Licht. Wenn er jedem Anflug von Bammel zum Opfer fiel, dann würde er die Mappe niemals finden. Wieder drehte er sich zum Fenster um. Er würde noch mal einsteigen und sich die Anordnung der Bücher genauer einprägen.
Unvermittelt wurde die Tür zur Bibliothek aufgestoßen. Die Heftigkeit, mit der sie geöffnet wurde, war genauso furchterregend wie die Stille, mit der sie sich bewegte. Felder trat vor Schreck vom Fenster zurück. In der Tür stand ein Hüne, gerahmt von einem ganz schwachen Lichtschein aus dem Flur dahinter. Ein Mann in einem merkwürdigen, formlosen Kleidungsstück, in der einen Hand einen langen, gebogenen Holzknüppel, der in einer krocketballgroßen Kugel endete.
Dukchuck.
Felder stand im Dunkeln vor dem Bibliotheksfenster. Wie angewurzelt vor Angst starrte er durch die Fensterscheibe. Vorsichtig blickte sich der Diener im Zimmer um, drehte langsam und bedächtig wie ein großes Tier den kahlen und matt schimmernden Schädel und nahm jeden Zentimeter des Raums in Augenschein. Und dann schloss er die Kassettentür wieder, schnell und leise. Erneut war das Haus still – und jetzt schlug das Herz wie verrückt in Felders Brust.
Nachdem er sich wieder gefasst hatte, verzog er sich, so schnell er sich traute, zurück ins Torhaus. Aber noch bevor dieser furchtbare Anflug von Angst ganz verklungen war, spürte er etwas anderes – einen Funken Hoffnung. Weil ihm nämlich gerade etwas aufgegangen war.
Adams. Bierstadt. Goethe. Die Bücher in der Wintour-Bibliothek waren in alphabetischer Reihenfolge angeordnet.