54

Corrie Swanson trat aus der Hütte und nahm die Abkürzung über die Kammlinie und hinunter zum Serpentinenpfad zur Hauptstraße. Ihren Vater hatte sie völlig verängstigt zurückgelassen, er war auf und ab gegangen und hatte einen unablässigen Strom von unnötigen Ratschlägen, Warnungen und diversen Wenn-dies-dann-das-Voraussagen von sich gegeben. Seine ganze Zukunft hing davon ab, dass sie und Foote die Sache erfolgreich durchzogen – das wussten sie beide.

Im Wald war es kalt, die kahlen Äste der Bäume schlugen im auffrischenden Wind aneinander. Ein Gewitter zog auf, das Regen, vielleicht sogar Schneeregen mit sich brachte. Sie hoffte nur, dass es warten würde, bis sie zur Polizei gehen und die Beamten dazu überreden konnte, im Autohaus eine Razzia durchzuführen. Sie blickte auf ihre Uhr. Acht Uhr. Zwei Stunden.

Der Waldweg stieß auf die Old Foundry Road, und eine Meile weiter unten an der Straße konnte sie Frank’s Place ausmachen, mit dem schäbigen Schild und der Budweiser-Neonreklame, die unregelmäßig flackerte. Schnell begann sie darauf zuzugehen, auf dem Randstreifen. Im Näherkommen sah sie durch die Fenster die frühmorgendlichen Gäste, die sich bereits darin versammelt hatten, Kaffee tranken und Zigaretten rauchten. Sie sammelte sich, dann stieß sie lässig die knarrende Tür auf.

»Was kann ich für Sie tun?«, sagte Frank, richtete sich auf und versuchte vergeblich, seinen Bauch einzuziehen.

»Kaffee, bitte.«

Sie setzte sich an einen der kleinen Tische und schaute wieder auf die Uhr. Viertel nach acht. Foote würde spätestens um halb neun hier eintreffen.

Frank brachte den Kaffee, mit Kaffeeweißer und Zuckertütchen. Letztere machten die Plörre auch nicht genießbarer. Sie trank aus und schob den Becher von sich weg, damit er nachschenkte.

»Sieht nach Regen aus«, sagte Frank und füllte nach.

»Ja.«

»Wie geht’s euch beiden denn, Ihnen und Ihrem Dad, da oben?«

Corrie riss drei weitere Zuckertütchen auf, schüttete den Inhalt hinein, gefolgt vom Kaffeeweißer. »Gut.« Dabei hielt sie den Blick weiter auf die Fensterfront gerichtet, die auf den Parkplatz und die Tanksäulen hinausging.

»In ein paar Tagen fängt die Jagdsaison an«, sagte Frank, der heute seinen freundlichen Tag hatte. »Um den Long Pine rum wird viel gejagt. Vergessen Sie nicht, Orange zu tragen.«

»Ja, klar«, sagte Corrie.

Ein Wagen fuhr vor, ein bisschen schnell, und kam mit leisem Quietschen zum Stehen. Ein Escalade Hybrid mit getönten Scheiben – Footes Wagen. Corrie stand abrupt auf, warf ein paar Geldscheine auf den Tisch und ging nach draußen. Foote öffnete die schlammbespritzte Beifahrertür; sie setzte sich in das angenehm riechende Leder-Interieur. Foote hatte seinen üblichen makellosen Anzug an, wirkte aber nervös. Noch bevor sie die Tür schließen konnte, fuhr er los und bog mit quietschenden Reifen auf die Old Foundry Road.

»Ich habe die Polizei in Allentown angerufen«, sagte er und gab Gas. »Hab ihnen alles erklärt. Die waren zunächst skeptisch, aber ich konnte sie auf unsere Seite ziehen. Sie erwarten uns, und wenn ihnen gefällt, was ich ihnen zeige, sind sie bereit, den Ball mit einem Durchsuchungsbeschluss ins Rollen zu bringen. Was sie tun werden.«

»Gut. Vielen Dank.«

»Danken Sie mir nicht. Ich schütze nur mich selbst. Und ich glaube, dass Ihr Dad zu Unrecht beschuldigt wird.«

Er gab noch mehr Gas und warf einen Blick in einen Radardetektor, der an der Sonnenblende befestigt war. Sie rasten über die Landstraße, rechts und links flogen die Bäume nur so vorbei. Als er gekonnt in eine Kurve ging, quietschten die Räder ein bisschen.

»O Scheiße«, sagte Corrie. »Sie haben da eben die Abzweigung zur Route vierundneunzig verpasst.«

»Verdammt, hab ich.« Foote fuhr langsamer und steuerte auf den Randstreifen, um umzukehren. Er warf ihr einen Blick zu. »Hey, legen Sie den Sicherheitsgurt an.«

Corrie streckte die Hand zur Tür aus, um den Gurt herauszuziehen, und tastete nach dem Schnappverschluss, der irgendwie zwischen die Sitze geraten war. Währenddessen spürte sie hinter sich plötzlich eine Bewegung, wandte sich ein Stück um und fühlte, wie sich ein stählerner Arm um ihren Hals legte und eine Hand ein Tuch auf ihr Gesicht drückte, dessen Gestank nach Chloroform sie beinahe betäubte.

Aber sie war bereit.

Sie umfasste das Teppichmesser, das sie im Ärmel versteckt hatte, riss es hoch, schnitt tief in den fleischigen Teil von Footes Handfläche und drehte es. Foote brüllte auf vor Schmerz, ließ das Tuch fallen, während er seine verletzte Hand packte. Corrie drehte sich ganz zu ihm um und hielt ihm die Klinge des Teppichmessers an die Kehle.

»Hab dich.«

Foote gab keine Antwort. Er hielt die verletzte Hand umfasst.

»Für was für eine Idiotin halten Sie mich eigentlich?«, sagte sie und drückte die Klinge fester gegen seinen Hals. »Kann ja sein, dass Sie meinen Dad mit Ihrem Arbeiterklasseheld-Kack genarrt haben. Aber nicht mich. Ich hatte Sie von Anfang an im Verdacht. Der einzige ehrliche Verkäufer im ganzen Laden, wer’s glaubt … Das war alles zu nett und sauber und passend. Und dieser Stuss über eine Rechnung mit Einzelposten im Safe über falsch abgerechnete Leistungen? Ein Scheißdreck.«

Schnell, bevor er die Fassung wiedergewonnen hatte, durchsuchte sie die Taschen seines Mantels und seiner Hose, fand einen großkalibrigen Revolver, zog ihn hervor und richtete ihn auf Foote.

»Also, was zum Teufel läuft hier ab?«

Foote atmete schwer. »Was glauben Sie? Ein Betrug. Etwas, das viel besser ist, als hier und da ein paar Prozentpunkte abzugreifen. Ich kann Sie und Ihren Dad da reinholen.«

»Ja, voll. Wahrscheinlich hat mein Vater den Braten gerochen – darum haben Sie ihm die Falle gestellt.« Sie gestikulierte mit der Knarre. »Bestimmt haben Sie rausgefunden, wo seine Hütte liegt. Wahrscheinlich sind Sie früh hergekommen, haben den Schuppen observiert und mich gesehen, als ich auf die Hauptstraße gekommen bin.« Sie holte tief Luft. »Also, Folgendes wird gleich passieren. Sie werden zur Hütte hinauffahren. Ich werde die Waffe hier die ganze Zeit auf Sie richten. Als Erstes werden Sie meinem Vater die ganze Geschichte erzählen. Dann werden wir die Polizei anrufen. Und dann werden Sie ihnen die Geschichte erzählen. Kapiert?«

Einen Moment lang blieb Foote regungslos sitzen, dann nickte er.

»Okay. Fahren Sie langsam. Und keine Dummheiten, sonst benutze ich den hier.« Fakt war: Sie hatte noch nie eine Waffe abgefeuert. Sie war sich nicht einmal sicher, ob das Ding entsichert war. Aber das wusste Foote ja nicht.

Sie hielt sich weit weg von ihm und hielt ihn mit dem Revolver in Schach, während er langsam vom Standstreifen auf die Old Foundry Road fuhr, dann in die Long Pine abbog. Kein Wort wurde gesprochen, während er die Serpentinenstraße hinauffuhr.

Dreißig Meter vor der Abzweigung zur Hütte gestikulierte sie erneut mit der Waffe. »Halten Sie an.«

Foote hielt an.

»Motor ausstellen und aussteigen.«

Foote gehorchte.

»Jetzt. Gehen Sie zur Hütte. Ich bleibe direkt hinter Ihnen. Sie wissen, was passiert, wenn Sie irgendwas versuchen.«

Foote sah sie an. Er war extrem blass, hatte trotz der Kälte Schweißperlen auf der Stirn. Blass und wütend. Er begann auf die Hütte zuzugehen. Abgestorbene Zweige knackten unter seinen Füßen.

Corrie spürte, wie das Adrenalin sie durchströmte, zudem schlug ihr Herz unangenehm schnell. Aber sie schaffte es, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, jedes Zittern aus ihr herauszuhalten. Immer wieder sagte sie sich, dass sie schon in übleren Situationen gesteckt hatte – viel übleren. Bleib einfach cool. Wenn du cool bleibst, geht das hier alles gut aus.

Gerade als sie zur Tür der Hütte gelangten, hörte Corrie, wie sich der Türriegel hob. Plötzlich ging die Tür auf und traf Corrie am Handgelenk. Vor Schmerz aufschreiend, ließ sie die Waffe fallen.

Ihr Vater stand in der Tür und blickte zu Foote, zu ihr und wieder zu Foote. »Corrie?« Sein Gesicht war eine Maske der Verwirrung. »Ich hab Geräusche gehört. Was machst du denn hier? Ich dachte, du wolltest in die Stadt fahren –«

Corrie griff nach der Waffe, aber Foote war schneller. Er bückte sich danach und schob Corrie gleichzeitig grob zurück. Jack Swanson starrte verständnislos auf die Waffe, während Foote sie auf ihn gerichtet hielt. Im allerletzten Augenblick lief Jack nach hinten, ins Waldgebiet hinter der Hütte, aber der Schuss löste sich, und daran, wie der Körper ihres Vater sich verdrehte, konnte Corrie ablesen, dass die Kugel ihr Ziel gefunden hatte.

»Du Drecksau!«, schrie sie und rannte mit erhobenem Teppichmesser auf Foote zu. Doch Foote wirbelte zu ihr herum und versetzte ihr mit dem Griff der Waffe einen Schlag gegen die Schläfe. Und dann wurde ihr schwarz vor Augen, und sie verlor jäh das Bewusstsein.


Sie kam rasch wieder zu sich, ihre Gedanken klärten sich. Sie war hastig mit Kabelbindern an Händen und Füßen gefesselt und unsanft auf den Rücksitz von Footes Wagen geworfen worden, wo sie auf der Seite lag.

Sie wartete, unerträglich angespannt, zerrte an den Fesseln, horchte. Sie hatte alles so sorgfältig geplant – und alles war in einem Zeitraum von fünfzehn Sekunden zunichtegemacht geworden. Was sollte sie jetzt machen? Was sollte passieren? O Gott, es war alles ihre Schuld – sie hätte zur Polizei gehen sollen, statt zu versuchen, die Sache selbst zu regeln, aber sie hatte Angst gehabt, dass ihr Vater einfach festgenommen werden würde …

Dann hörte sie weitere Schüsse – zwei in rascher Folge. Und dann Stille. Schließlich wurde sie durchbrochen von einer Windböe, die die Äste der Bäume zum Schwanken brachte, so dass sie aneinanderschlugen, immer wieder aneinanderschlugen.

Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
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