67
Von draußen drang kurzes Geplapper herein, dann ging die Tür wieder auf. Drei weitere Wachleute traten ein. Zwei trugen diverse Ketten und Fesseln, der dritte einen Schweißbrenner. Berger blickte sich um. Jetzt waren sie zu siebt im Raum: die vier Soldaten, er selbst, der Gefangene – und Egons Leiche.
Berger warf einen Blick auf die Leiche, das Gesicht immer noch starr in einem Ausdruck der Todesqual, die Gliedmaßen steif und winkelförmig, die Zunge aus dem Mund ragend, dick wie eine Krakauer, Rinnsale von Blut liefen aus Ohren, Nase und Mund. Er drehte sich zu dem Soldaten im Wachdienst um und befahl: »Schaffen Sie das da aus dem Weg.«
Der Soldat ging hin und löste die Eisenfesseln von Egons Handgelenken und Fußknöcheln. Schwer sackte der Leichnam zu Boden. Der Soldat streckte den Arm nach unten aus, zerrte die Leiche in eine Ecke der Zelle und schob sie mit dem Fuß gegen die Wand.
Mit einem Nicken zeigte Berger auf den Gefangenen namens Pendergast, der an die Wand gefesselt war. »Macht ihn ein bisschen weich«, sagte er zu dem Soldaten auf Deutsch.
Der Soldat lächelte leise und brutal. Er trat auf Pendergast zu – der mit Armen und Beinen an der Wand festgenagelt war – und verabreichte ihm im Laufe mehrerer Minuten ein Dutzend übler, methodischer, gut plazierter Schläge ins Gesicht und vor allem in den Unterleib. Pendergast zerrte an den Fesseln und stöhnte auf vor Schmerz, gab aber sonst keinen Ton von sich.
Schließlich nickte Berger zufrieden. »Haltet ihn in Schach.« Schwer atmend trat der Wachmann einen Schritt nach hinten, hob sein Sturmgewehr auf und kehrte zu seinem Posten an der Tür zurück.
Jetzt näherten sich auf Bergers Befehl die anderen drei Soldaten. Sie befreiten Pendergast von den Wandfesseln, so dass er zu Boden stürzte. Während der Soldat mit dem Gewehr alles genau im Auge behielt, hoben zwei der Wachmänner Pendergast hoch und legte ihm Handfesseln, einen Bauchgurt sowie Beinfesseln an, die aus zwei Knöchelfesseln bestanden. Das alles wurde von dem Mann, der den Schweißbrenner hielt, verschweißt. Schließlich wurden zwei zwei Meter lange Eisenketten durch die Ringe der Fußfesseln gefädelt. Als sie angebracht und die Schweißarbeiten beendet waren, warfen die Männer Berger einen Blick zu, damit er ihnen weitere Anweisungen gab.
»Ihr könnt gehen«, sagte er.
Die drei wandten sich zur Tür um.
»Einen Moment noch«, sagte Berger. »Lasst den Brenner hier. Ich kann ihn gebrauchen.«
Der dritte Wachmann legte den Rucksack mit dem Schweißbrenner und den beiden Kanistern auf den Boden, dann gingen sie. Nachdem der Soldat mit dem Gewehr die Tür geschlossen hatte, bezog er wieder seinen Posten davor.
Berger zog eine kurze, mit einer Metallspitze versehene Peitsche aus seiner Arzttasche und ließ sich dann ein bisschen Zeit, um den Gefangenen zu beobachten und ihn einzuschätzen. Er war hochgewachsen und schlank und sichtlich geschwächt, die Gewichte zogen seine Arme nach unten. Der Kopf baumelte herunter, das blonde Haar hing schlaff herab, aus Nase und Mund strömte Blut. Die Haut war grau und durchscheinend, sein Kampfeswille sichtlich gebrochen. Wie dem auch sei, er, Berger, würde ihn lebendig machen – sehr lebendig.
»Bevor wir anfangen«, sagte er, »gibt es etwas, das du wissen musst. Ich wurde für diese Aufgabe ausgewählt, weil du auf der Vergeltung meinen Bruder getötet hast. In unserer Gesellschaft wird Opfern immer die Genugtuung gewährt, dass der Täter seine gerechte Strafe bekommt. Es ist mein Recht und meine Pflicht, dich zu bestrafen, und ich nehme die Herausforderung voll Dankbarkeit an.« Mit einem Nicken zeigte er auf Egons Leiche, die in der gegenüberliegenden Ecke zusammengekrümmt wie eine übergroße Spinne lag. »Du wirst dir einen Tod wünschen, der so angenehm ist wie seiner.«
Der Mann schien ihn nicht zu hören, was Bergers Wut ein wenig anfachte.
»Hol ihn vor«, sagte er zu dem Soldaten.
Nachdem der Soldat sein Sturmgewehr 44 an die Wand gestellt hatte, trat er auf Pendergast zu und stieß ihn unsanft in Richtung Berger. Dann ging er zurück zur Tür, griff sich sein Gewehr und nahm die Bewachung des Gefangenen wieder auf.
»Pendergast«, sagte Berger und tippte dem Gefangenen mit der Peitsche auf die Brust. »Schau mich an.«
Der beschmutzte Pendergast hob den Kopf und richtete den Blick auf Berger.
»Als Erstes schaufelst du dein Grab. Dann wirst du leiden. Und schließlich wirst du darin begraben, vielleicht bei lebendigem Leib, vielleicht auch nicht. Ich habe mich noch nicht ganz entschieden.«
Keinerlei Hinweis, dass der Gefangene das verstanden hatte.
»Hol die Spitzhacke und die Schaufel da.« Berger wies in eine Ecke des Raums.
Der Soldat unterstrich den Befehl, indem er mit seiner Waffe dorthin zeigte. »Beweg dich!«, bellte er.
Langsam schlurfte der Gefangene auf die entfernte Ecke zu, die Fußfesseln klirrten, die Ketten schleiften über den Boden.
»Grab hier.« Berger kratzte mit der Hacke über den Boden und skizzierte ein primitives Rechteck im vulkanischen Sand. »Beeil dich!«
Während Pendergast zu graben begann, blieb Berger in sicherer Entfernung, weit außerhalb der Reichweite der Werkzeuge stehen. Er sah zu, wie der Gefangene die Spitzhacke anhob und unter Schmerzen in den Sand hieb, wieder und wieder, bis er die oberste Schicht aufgebrochen hatte. Er arbeitete unbeholfen, die Fesseln behinderten ihn stark, und die kurze Kette schränkte seine Bewegungsfreiheit erheblich ein. Als er langsamer wurde, trat Berger einen Schritt vor und versetzte ihm ein paar kurze Hiebe mit der Peitsche, um ihn anzuspornen. Vor Erschöpfung keuchend, wechselte Pendergast zur Schaufel und entfernte den losen Sand. Irgendwann legte er die Schaufel hin und murmelte, dass er sich ausruhen müsse; Berger reagierte auf dieses Ansinnen mit einem Fußtritt, der den Mann zu Boden streckte. Das machte ihn ein bisschen munter.
»Nicht aufhören«, sagte Berger.
Das Ausheben des Grabes kam nur langsam voran. Der Gefangene arbeitete hartnäckig weiter, die Ketten rasselten gegen die Handschellen, sein Gesicht war eine Maske der geistigen Gleichgültigkeit und körperlichen Erschöpfung. Hier, dachte Berger, ist ein Mensch, der weiß, dass er gescheitert ist; ein Mann, der sich nach nichts anderem mehr sehnt, als zu sterben. Und sterben würde er.
Eine Stunde verstrich; schließlich konnte Berger seine Ungeduld nicht mehr bezähmen. »Genug!«, rief er. »Schluss jetzt!« Das Grab war zwar erst achtzig Zentimeter tief, doch Berger wollte unbedingt zur nächsten Phase übergehen. Der Gefangene stand da am Rand des Grabes und wartete. Berger wandte sich zu dem Soldaten um und sagte auf Deutsch: »Halt ihn in Schach, solange ich ihn bearbeite. Geh kein Risiko ein. Wenn irgendwas passiert, knall ihn ab.«
Der Mann trat ein paar Schritte vor und hob dabei seine Waffe.
»Lass die Schaufel fallen«, befahl Berger.
Der Gefangene ließ die Schaufel fallen. Die Arme an der Seite und mit gesenktem Kopf stand er da und wartete auf das Ende. Berger rückte gegen ihn vor, hob die Schaufel auf und versetzte ihm – indem er sich vor ihm aufpflanzte – damit einen Schlag in die Seite. Mit einer Miene der schmerzerfüllten Verwunderung sackte Pendergast auf die Knie. Berger setzte ihm seinen Stiefel auf die Brust und versetzte ihm einen Stoß, so dass er rücklings ins Grab stürzte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Soldat den Gefangenen im Visier hatte, ging Berger hinüber, ergriff den Rucksack mit dem Schweißbrenner und den schweren Acetylen-Tanks. Er hielt den Strahlregler hoch wie eine Kerze und stellte den Schweißbrenner an. Ein starkes weißes Licht erfüllte die Zelle mit Schlagschatten.
»Ich werde dich bei lebendigem Leib verbrennen«, sagte er, wobei er Pendergast anzüglich angrinste und vielsagend mit dem Brenner gestikulierte.
Er trat ans Grab und blickte hinein. Dort lag der Gefangene, die Augen vor lauter Angst geweitet. Er versuchte, sich aufzusetzen, aber Berger setzte ihm erneut seinen Stiefel auf die Brust und trat ihn ins Grab zurück. Während er den Druck mit dem Fuß aufrechterhielt, beugte er sich vor und hielt dem Gefangenen die nadelgleiche Flamme vors Gesicht. Sie warf ein gespenstisches Licht, so dass die Augen des anderen wie glänzende Lichtpunkte wirkten. Immer näher kam die Flamme. Der Gefangene wehrte sich, versuchte, das Gesicht abzuwenden, erst zur einen Seite, dann zur anderen. Aber Berger drückte erbarmungslos mit seinem Stiefel, wodurch er Pendergast an seinem Platz hielt, während der Flammenrand ihm allmählich die Wange versengte. Jetzt sah er, wie ihm eine befriedigende Angst in die Augen trat, während gleichzeitig die Flamme ihm die Haut ankokelte –
Eine extrem schnelle und kräftige, aber leichte Bewegung; plötzlich schien der Gefangene sich auf die merkwürdigste Weise zu verdrehen, begleitet von einem knirschenden Knall ausrenkender Knochen und Sehnen. Plötzlich sah Berger, der vor Überraschung zurückgewichen war, wie der Gefangene die Hand hob. Er spürte, wie ihm der Strahlregler aus der Hand gerissen wurde, kurz darauf erfüllte ein gleißendes weißes Licht sein Gesichtsfeld. Er wich zurück, schrie auf und wunderte sich, kalten Stahl am Hals zu fühlen, als eine der Ketten des Gefangenen sich darum schlang und ihn nach vorn ins weiße Licht zog, näher und näher. Es schien ewig zu dauern – und doch konnten es nicht mehr als ein, zwei Sekunden gewesen sein. Beinahe wie eine Injektionsnadel fuhr der zischende weiße Speer in seinen Mund, die Nase und die Augen; er spürte ein jähes Sieden und eine weiche, blasige Eruption, gefolgt von einem Schmerz, der alle Schmerzen beendete. Und dann löste sich alles in weiße, weiße Hitze auf.
Pendergast fiel in dem provisorischen Grab nach hinten, riss Bergers Leiche auf sich und nutzte das Erdloch und den Körper als Deckung. Gleichzeitig schoss der Soldat – nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte –, wobei die Kugeln an der Kante des Grabes Sand aufspritzen ließen. Die Grube war flacher, als Pendergast lieb war, aber tief genug. Immer noch unter Berger liegend, richtete er die Nadelflamme des Schweißbrenners auf die Kette, die sein linkes Handgelenk am stählernen Bauchgurt befestigte, wobei die Flamme die Kette nicht an der Hand, sondern am Gurt wegschnitt, so dass eine zwei Meter lange lose Kette an seinem Handgelenk verblieb. Um ihn herum pfiffen Kugeln, mehrere prallten dumpf in Bergers Leiche: ein Geräusch wie eine Hand, die auf Fleisch schlägt. Mit einem Schrei erhob sich Pendergast aus dem Grab, stieß die Leiche beiseite und holte mit dem Arm aus. Dabei schwang er die lose Kette wie eine Peitsche. In hohem Bogen schnellte sie in Richtung Decke und zerschmetterte die Glühbirne.
Als der Raum in Dunkel getaucht war, rückte er vor und wich den Schüssen des panischen Soldaten aus, indem er sich in geduckter Haltung schräg und sehr schnell in einem Halbkreis bewegte. Währenddessen holte er erneut mächtig mit der Kette aus, die sich um das Sturmgewehr des Soldaten wickelte und es seinen Händen entriss. Pendergast packte es. Eine einzige Salve aus der Waffe fällte den Soldaten. Pendergast hechtete gerade zurück ins Grab, als die Tür aufsprang und die Wachleute, die davorgestanden hatten, hereingestürmt kamen und den Raum mit Schüssen beharkten. Er wartete, bis er sicher war, dass alle im Raum waren. Und dann hob er – indem er sich in der Grube flach auf den Rücken legte – das Sturmgewehr an und bestrich sie alle mit der auf Automatik gestellten Waffe, bis er das große Kistenmagazin in weniger als drei Sekunden geleert hatte.
Plötzlich war alles still.
Noch einmal kletterte Pendergast aus dem Grab. Er ließ das Gewehr fallen, lief zur nächstgelegenen Wand und trat dabei über die noch zuckenden Leiber. Einmal, zweimal holte er tief Luft. Und dann warf er sich mit der Schulter gegen die Wand und renkte sich das Gelenk wieder ein, das er sich hatte auskugeln müssen, damit er genügend zusätzliches Spiel mit der Kette bekam, um Berger damit erdrosseln zu können. Vor Schmerz zusammenzuckend, wartete er, bis er sicher war, dass die Schulter richtig eingerenkt war und sich bewegen ließ. Dann griff er nach dem Schweißbrenner, schaltete ihn ein und schnitt damit seine Fußfesseln, den Bauchgurt und die Handschellen auf, wobei er in seiner Hast sein Hemd entflammte, das er sich auszog, noch während es brannte. Er warf sich den Rucksack mit dem Brenner und den Tanks über die unverletzte Schulter, nahm den Leichnamen eine Handfeuerwaffe, ein Messer, Feuerzeug, Armbanduhr, Taschenlampe und einige Kastenmagazine ab, hob die Spitzhacke auf, schnappte sich von einem der toten Wachleute das am wenigsten blutige Hemd, das er finden konnte, rannte dann zur Tür hinaus und spurtete den dahinterliegenden Tunnel hinunter.
Im Laufen, während er noch seine Arme ins Hemd steckte, hörte er bereits den Tumult von Rufen und das Donnern von Soldatenstiefeln, die durch die steinernen Gänge der alten Festung hallten.