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Hinter dem Einsturz verlief der Tunnel in einer weiten Biegung an der Innenseite der Ringmauer der Festung, Laboratorien zur Linken, die massive Mauer zur Rechten. Es war die Hauptbewegungsroute auf dieser unteren Ebene der Festung, ein gefährlicher Ort. Die Lösung, sagte sich Pendergast, bestünde darin, noch tiefer hinabzugehen, wo sie möglicherweise ins Labyrinth aus unterirdischen Gängen, Kerkern, Gefängniszellen und Lagerräumen entkommen könnten. Es handelte sich um das Areal, in dem Pendergast ursprünglich eingesperrt worden war, doch er hatte es während seiner schnellen Ausspähung der Festung nicht weiter erkundet, weil er es für belanglos hielt.
Jetzt war dieses Areal höchst relevant. Mehr noch: Es war ihre einzige Chance.
Bereits jetzt konnte er eine Gruppe Soldaten hören, die ihnen entgegenliefen. Das Klappern von Gewehren und das regelmäßige, dumpfe Geräusch von Stiefeln hallten den Steingang hinunter. Links von ihnen befand sich eine Laboratoriumstür, eingefügt in eine steinerne Nische, aber die Tür war abgeschlossen, und Pendergast blieb keine Zeit, sie aufzubrechen. Mit Handsignalen bedeutete er dem Oberst und seinen Männern, sich gegen beide Tunnelmauern zu pressen, sich auf die Knie fallen zu lassen und die Gewehre auf die herankommenden Soldaten zu richten.
»Feuer nach Belieben«, sagte er leise. Der Oberst wiederholte den Befehl auf Portugiesisch.
Die Schritte kamen näher, hallten um die Biegung des Tunnels. Die kleine Gruppe bereitete sich auf einen Hinterhalt aus nächster Nähe vor.
Als Reaktion auf einen gebrüllten Befehl blieben die heranrückenden Soldaten gerade eben außer Sichtweite stehen. Auf einmal war es still. Ein Augenblick elektrisierender Intensität folgte – und dann prallten zwei gekonnt geworfene Handgranaten von der gekrümmten Wand ab, prallten auf den Boden und rollten auf die Brasilianer zu.
Überrascht sprangen Pendergast und die Übrigen blitzartig auf, drehten sich um und zogen sich in die Nische der Labortür zurück. Die Granaten explodierten gleichzeitig, eine riesige Druckwelle in dem beengten Raum schleuderte sie nach hinten. Einer der Brasilianer, der nicht so schnell wie die anderen reagiert hatte, wurde im Freien erwischt und verschwand in einer Wolke aus Blut, Fleisch, Knochen und Staub.
Pendergast schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen, und feuerte in die Staubwolke. Er hörte Steine herabfallen und erkannte, dass die Soldaten wegen der Steinquader, die von der Decke herabstürzten, nicht vorrücken konnten, zumindest nicht sofort.
»Rückzug!«, rief er und gab noch eine Salve in den Staub ab.
Der Oberst und seine drei verbliebenen Männer rannten los. Pendergast setzte sein Sperrfeuer fort, bis sie sicher um die Biegung der Mauer gelangt waren, dann folgte er. Ein paar hundert Meter dahinter, das wusste er, lag ein Quertunnel; er hatte keine Ahnung, wohin der führte, und es widerstrebte ihm, das Risiko einzugehen, aber ihnen blieb keine andere Wahl mehr.
»Nach rechts!«, rief er. »Direita!«
Sie betraten den Tunnel und ließen den stauberfüllten Gang hinter sich. Hier gab es kein Licht, weshalb die Männer des Obersts Taschenlampen hervorzogen, damit sie sehen konnten, was vor ihnen lag. Der Tunnel war alt und stillgelegt, die Steine mit Salpeter überkrustet, die Luft war verbraucht und roch nach Schimmel und Verfall. Sie gelangten zu einer uralten Eichentür – mit rostigen Eisenbändern versehen und von Würmern zerfressen –, die nach einem einzelnen Schuss aus einem Gewehrlauf umstürzte.
Vor ihnen führte eine steinerne Wendeltreppe hinab in eine übelriechende Dunkelheit. Hinter sich hörten sie erneut das dumpfe Geräusch von Stiefelschritten.
Die Treppe war teilweise eingestürzt, und so schlitterten sie die kaputten, glitschigen Stufen hinab, bis sie die unterste Ebene der Festung erreichten. Sie rannten durch einen langen Tunnel, der unten an der Treppe begann, die Geräusche ihrer Verfolger nicht weit hinter ihnen.
Am Ende verzweigte sich der Tunnel, dann mündete er in einen großen Kuppelraum. In der Mitte dieses Raums bot sich ihnen ein höchst ungewöhnlicher Anblick: ein freistehender Stahlkäfig von etwa drei Quadratmetern Größe, sicher verschlossen. Der Käfig war nicht am Boden fixiert, vielmehr war er um etwas herum errichtet, das ein tiefer, natürlicher Spalt im unbehauenen Boden des zweiten Untergeschosses zu sein schien. In dem Felsspalt und daraus emporsteigend, so dass sie auch den Käfig ausfüllten, befanden sich unzählige Kisten mit Waffen, Granaten, Bomben, Schießpulver, gestempelt mit Hakenkreuzen und Warnungen, wonach der Inhalt HOCHEXPLOSIV sei. Es handelte sich hier offenbar um das zentrale Waffenlager der Festung, das als Schutzmaßnahme tief, tief in ihrem Bauch lag.
Daher wäre ihr ursprünglicher Plan, das Waffenlager in die Luft zu sprengen, in jedem Fall zum Scheitern verurteilt gewesen. Es lag zu tief innerhalb der Festung, als dass Pendergast für Souza und seine Truppe eine Bresche hätte heraussprengen können.
Aber es blieb ihnen keine Zeit für weitere Inspektionen, deshalb gingen sie mitten durch den Raum und hinein in einen weiteren Gang, der auf der gegenüberliegenden Seite hinausführte.
Bald kam dieser Gang zu einer T-Kreuzung, dann verzweigte er sich erneut. Hier gingen rechts und links leere Zellen ab, die verrotteten Überreste von Holztüren lagen auf dem feuchten Boden. An eine Wand war ein uraltes menschliches Skelett mit Kupfersalzsträhnen gekettet. Wasser rann von den Wänden. Auf dem Ascheboden standen flache Pfützen, die – wie Pendergast bemerkte – auf höchst bedauerliche Weise ihre Fußabdrücke bewahrten.
Jetzt wurde das Ächzen der Soldaten lauter, das dumpfe Geräusch von Stiefeln kam noch näher.
»Wir müssen die Männer töten«, sagte der Oberst.
»Ausgezeichneter Vorschlag«, sagte Pendergast. »Granaten, bitte.«
Er zog die letzte seiner Handgranaten hervor und nickte dem Oberst zu. Während sie losliefen, Pendergasts Führung folgend, zogen Souza und seine drei letzten Männer die Stifte von ihren Granaten und hielten die Abzugshebel in Position. Als vor ihnen im Tunnel eine Ecke zum Vorschein kam, nickte Pendergast kurz; gleichzeitig lösten sie die Hebel und ließen die Granaten in die weiche Asche fallen, bogen um die Ecke und warfen sich auf den Boden.
»Wie sagt man das auf Englisch?«, murmelte der Oberst. »Rache ist süß.«
»Alle Lichter löschen«, flüsterte Pendergast zurück.
Sekunden später erschütterten unmittelbar hinter der Ecke mehrere Detonationen den Tunnel, so dass sie fast taub wurden. Sofort war Pendergast wieder auf den Beinen und gab den anderen Zeichen, ihm zu folgen; sie stürmten zurück um die Ecke, wo hier und da inmitten der herabstürzenden Trümmer wirre, matte Lichtstrahlen aus Taschenlampen zu sehen waren. Wie verrückt schossen sie in die riesige Staubwolke und zielten auf die Lichter; das Erwiderungsfeuer war wirkungslos und chaotisch.
Nach ein paar Augenblicken war es vorbei. Ihre Verfolger waren tot, der Staub hatte sich in der feuchten Luft gelegt. Pendergast schaltete seine Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl über die Gefallenen wandern: sechs Soldaten in schlichten grauen Uniformen mit nur einem kleinen Rangabzeichen in Form eines Eisernen Kreuzes. Doch der siebte, eindeutig der Anführer, trug eine alte Nazi-Uniform, die feldgraue Uniform der Waffen-SS mit einigen modernen Hinzufügungen.
»Babaca!«, sagte der Oberst und versetzte der Leiche einen Fußtritt. »Schauen Sie sich diesen Hurensohn an – er spielt Nazi. Que bastardo.«
Pendergast durchsuchte kurz den uniformierten Offizier, dann widmete er sich den anderen Gefallenen: ein halbes Dutzend gutaussehender junger Männer, auseinandergerissen durch Explosionen und Gewehrfeuer, die blauen Augen blicklos dahin und dorthin starrend, die Münder vor Überraschung aufgerissen, die zarten Hände noch immer auf ihren Waffen. Er beugte sich vor, nahm sich noch ein Magazin und eine Granate. Die anderen füllten ihren Vorrat auf ähnliche Weise auf.
Und dann herrschte Stille, bis auf den langsamen Rhythmus tropfenden Wassers. Der Geruch von Blut und Tod vermischte sich mit dem nach Matsch, Schimmel und Verfall. Doch in diese Stille drang ein Rascheln. Die Detonation hatte einen Abschnitt der mächtigen Mauer verrückt, und jetzt glitten und krabbelten Insekten, in ihren Ruheplätzen gestört, hervor. Viele kamen von der Decke – schleimige Tausendfüßler, weiße Geißelskorpione mit stacheligen Pedipalpen, riesige Ohrenkneifer mit schmierigen Greifern, Albino-Skorpione, die mit ihren Scheren klapperten, pelzige Springspinnen.
Einen Fluch ausstoßend, wischte sich Souza ein Insekt von der Schulter.
»Wir müssen raus hier«, sagte Pendergast. »Sofort.«
Dann geschah etwas Merkwürdiges. Einer der Soldaten des Obersts japste, wandte sich um, zog sich ein blutiges Messer aus der Brust und starrte fassungslos darauf, bevor er auf die Knie sackte.